dazu hatte ich 2010 auch mal was getippelt:
Epilog: die Handlung
Ein Ehepaar (Charlotte Gainsbourg und Willem Dafoe) hat Sex miteinander und vereinigt sich in ekstatischer Leidenschaft. Doch unbemerkt von den Beiden schleicht sich der gemeinsame Sohn Nick aus seinem Kinderbett, beobachtet die Beiden, klettert auf einen Tisch, stürzt aus dem geöffneten Fenster in die verschneite Nacht und verstirbt. Während der Mann das tragische Ereignis scheinbar gut wegzustecken vermag, flüchtet sich die labile Frau immer mehr in Wahnvorstellungen und muss wochenlang im Krankenhaus therapiert werden. Als sich jedoch kein Behandlungserfolg einstellen möchte und die Frau zunehmend mit Angstattacken geplagt ist, beschließt der Mann, der selbst Therapeut ist, entgegen jeglicher Logik seine Frau aus dem Krankenhaus zu holen und selbst zu therapieren.
Doch die gemeinsame Wohnung erinnert die Frau zu sehr an den verstorbenen Sohn und sie wird zunehmend depressiver und versucht sich selbst Schmerz zuzufügen. Der Mann muss hilflos zusehen, wie sich die Frau immer weiter quält und keine Ruhe findet. Immer mehr scheinen unbegründete Ängste der Frau zuzusetzen. Als sie in einem Gespräch verrät, dass sie Angst vor der Natur hat, beschließt der Mann seine Frau auf eine abgelegene Hütte in den dichten Wäldern zu bringen, wo diese bereits zuvor erfolglos an ihrer Dissertation über Hexenverfolgung gearbeitet hat. Dort angekommen scheint es der Frau nach anfänglichen Schwierigkeiten und Wahnvorstellungen auch tatsächlich besser zu gehen.
Schon wenig später häufen sich jedoch unerklärliche Dinge und die Natur scheint den beiden Menschen tatsächlich feindselig gesinnt zu sein. Der Mann sieht ein Reh, dass seine Totgeburt mit sich trägt, im Sekundentakt fallen Eicheln auf das Dach der Hütte und lässt beide nicht zur Ruhe kommen, er wird von Zecken angefallen und schlussendlich spricht ein sich selbstzerfleischender Fuchs zu dem Mann. Zunehmend verlieren beiden den Bezug zur Realität und immer mehr verstricken sich beide Personen in der Abgeschiedenheit der turmhohen Bäume in einem Wahn aus Angst, Schmerz, Sex und Selbstzerstörung…
Teil 1: der Film und der Versuch einer Interpretation
Da ist er nun, der Skandalfilm von Cannes, der im Jahre 2009 im Bewerb um die goldene Palme selbst den hartgesottenen Kritikern übel aufstieß, für einen kleinen Skandal sorgte und neben Lobeshymnen auch auf abgrundtiefe Ablehnung stieß. Lars von Trier ist auch tatsächlich ein Werk gelungen, dass wohl niemand unberührt lassen wird und in wunderschönen und teils sehr, sehr drastischen Bildern eine mysteriöse Geschichte voller ungewöhnlicher Symbolik über die Natur des Menschen erzählt, für die es meiner bescheidenen Meinung nach auch keine letztgültige Erklärung geben kann.
„Antichrist“ trägt aber die Provokation bereits im Titel, in dem das „T“ am Ende mit dem Symbol der Weiblichkeit ausgetauscht wurde. Und so ist es wieder einmal ein Leichtes, den Film darauf zu reduzieren, dass der geschiedene Lars von Trier im Grunde seines Herzens frauenfeindlich ist und die Frauen dafür verantwortlich macht, das Böse auf die Welt gebracht zu haben. Nun ja, so einfach ist es dann auch wieder nicht und mit dieser Ansicht leben ja bestimmte Religionen ja schon seit Jahrtausenden ganz gut und unterdrücken ihre Schäfchen damit, dass Eva im Garten Eden den unschuldigen Adam verführt hat und fortan aus dem Paradies vertrieben wurde. Auch der Ort, an dem die depressive Frau von ihrem Ehemann gebracht wird, heißt im Film Eden und die scheinbar paradiesischen Zustände inmitten der unberührten Natur werden zunehmend düsterer, bis letztendlich wenig von der anfänglichen Idylle übrig bleibt.
Doch wer ist eigentlich der titelgebende Antichrist in der Geschichte des dänischen Regisseurs? Ist es die Frau, die ihre Geschlechtsteile verstümmelt und dem Mann ein Loch durch den Fuß bohrt um ihm einen Schleifstein daran zu binden? Oder ist es der Mann, der seine Familie vernachlässigt hat und sich erst für das Gefühlsleben seiner Frau interessiert, als er diese zu seiner Patientin erwählt? Ist es das Kind, das das Paar beobachtet und lächelnd aus dem Fenster fällt. Ist es die Natur bzw. die Tiere als Unheilsboten, mit der der Mensch eigentlich im Einklang leben sollte, die aber in diesem Falle zurückschlagen? Oder sind es die gesichtslosen Frauen, die am Ende des ungewöhnlichen Streifens zu sehen sind, die dem einzigen Überlebenden entgegen kommen? Diese Frage ist sicherlich nicht eindeutig zu beantworten, weil jeder Mensch und auch jede Sache bis zu einem gewissen Teil auch etwas Böses in sich tragen. Und selbst Lars von Trier hält sich geschickter weise mit einer Aufklärung seiner mysteriösen Handlung zurück.
Teil 2: die Entstehung und die Geister der Vergangenheit
Die Geschichte ist also schon einmal ziemlich kompliziert und undurchschaubar und dreht sich um die drei Eckpfeiler Trauer, Schmerz und Verzweiflung. Im Film werden diese die „drei Bettler“ genannt, bei deren Zusammentreffen jemand sterben muss. Diese Gemütszustände“ sind auch am Anfang in der Wohnung auf dem Tisch des Paares zu sehen, von dem aus der Junge in den Tod stürzt und auch am Ende kommen diese wieder zusammen und eine Person muss sterben, als die Frau ihrem Mann genau diese Gemütszustände mit Gewalt beibringen möchte. Was damit aber genau gemeint ist, lässt sich auch nur erahnen. So ist das Zusammentreffen dieser drei Dinge wohl der Hauptgrund so ziemlich aller Selbstmorde und ihre Beschreibung als Bettler könnte darauf schließen lassen, dass sie einen unaufgefordert, ungewollt und auch absolut unerwartet ereilen können.
Lars von Trier schrieb sein Drehbuch bzw. seinen Entwurf dafür in Zeiten, in denen er selbst schwerst depressiv gewesen ist. Nach zwei Teilen seiner sogenannten Amerika-Trilogie, die er mit „Dogville“ und „Manderlay“ begonnen hat, war er im Jahre 2007 emotional so ausgehöhlt, dass er jegliche Weiterarbeit an seinen Werken beenden musste. Damals war „Antichrist“ ja auch noch als dritter Teil geplant, doch die Arbeit daran wurde jäh unterbrochen und der Regisseur musste aufgrund seiner Depression und Angstattacken auch für einige Wochen in das Reichsspital von Kopenhagen eingeliefert werden. Das veranlasste den Regisseur, der meist zwei oder drei Projekte gleichzeitig betrieb, sein gesamte Leben und Arbeit zu überdenken. Schlussendlich verarbeitete er sechs Monate später seine Gefühls- und Gemütszustände zu dieser Zeit in einem Drehbuch, in dem er seine beiden namenlosen Hauptdarsteller auf eine noch nie dagewesene Tour-de-Force schickt. Mit seiner Amerika-Trilogie hat „Antichrist“ zwar nichts mehr zu tun, trotzdem ist dieser Streifen der wohl wichtigste und auch persönlichste Streifen, in dem er seine persönlichen Dämonen seines Lebens auf Zelluloid gebannt hat. Lars von Trier meint ja selbst im Making-Of, dass er aufgrund seiner psychischen Erkrankung auch nur knapp 40 % seiner persönlichen Energien in diesem Streifen investieren konnte und dass die Vollendung des Streifens größtenteils dem Engagement seiner zahlreichen Weggefährten verdanken…
Was bei „Antichrist“ auch als allererstes ins Auge sticht sind die absolut ungewöhnlichen Bilder, die digital bearbeitet wurden und so ziemlich das komplette Gegenteil von dem darstellen, mit dem der Initiator der sogenannten Dogma95-Regeln bisher in Verbindung gebracht wurde. In „Antichrist“ ist der Prolog der Geschichte, in dem das Paar miteinander schläft und der Junge stirbt in Schwarzweiß und in Super-Slow-Motion gedreht, während ein klagendes Lied von Georg Friedrich Händel ertönt. Diese ästhetischen Bilder bieten den Auftakt zu allerlei optischen Spielereien, die zumindest ich dem dänischen Regisseur nicht zugetraut hätte. Die Szenen im Wald wurden visuell bearbeitet und ebenfalls teils mit einer Kamera gedreht, die bis zu 1000 (!!!) Bilder pro Sekunde aufnehmen kann und eine neue Form der Langsamkeit erreichen, die dem Regisseur wichtig war. Selbst CGI wurden für die grausigen Tierszenen in den Film verwendet, was man ja nach seinem bisherigen Output, dass immer sehr um Realität und Authentizität bemüht war, nicht unbedingt in einem Film von Lars von Trier erwarten würde.
Teil 3: die Darsteller und die Disc
Eine besondere Herausforderung war es aber auch, einen Film zu schaffen, der im Grunde nur zwei Hauptdarsteller besitzt. Charlotte Gainsbourg zeigt in ihrer Rolle wirklich Mut zu Hässlichkeit und lässt ihrer Wut, ihrem Schmerz und ihrer Trauer vollkommen freien Lauf. Selbst freizügige Szenen – auch wenn in den HC-Szenen Bodydouble verwendet wurden – sind für die französische Schauspielerin offensichtlich kein Problem. In einem Interview auf der DVD verrät sie auch, dass es ihr Wunsch war mit Lars von Trier zu arbeiten und sie für die Rolle auch nicht die erste Wahl war. Die Dreharbeiten mit den dänischen Enfant Terrible waren auch sicherlich nicht einfach, wovon auch die isländische Sängerin Björk berichten kann. Aber wie auch schon bei „Dancer in the dark“ gab es für die herausragende und über das normale Maß hinausgehende Leistung auch für Gainsbourg in dem kontroversen Werk auch die Goldene Palme als beste Darstellerin bei den Filmfestspielen in Cannes 2009.
Willem Dafoe als männlicher Gegenpart wirkt im Gegensatz zur vollkommen verzweifelt-wirkenden Gainsbourg allerdings wie ein arroganter Fels in der Brandung. Seine Rolle ist eigentlich sehr undurchschaubar, weil man im Grunde nicht weiß, aus welchen Beweggründen er seiner Frau eigentlich helfen möchte. Und ich muss auch ehrlich gestehen, dass ich nicht unbedingt ein Fan des 1955 in den USA geborenen Schauspielers bin, der sich jedoch für keine kontroverse Rolle zu schade scheint. In „Antichrist“ passt der Schauspieler mit dem markanten Gesicht jedoch perfekt in die Rolle des Psychotherapeuten.
Die Blu-Ray Disc aus dem Hause MFA+ Film bzw. Ascot Elite bringt diesen kontroversen Schocker in perfekter Bild- und Tonqualität. Mit den stylischen Slow-Motion-Bilder und all den anderen optischen Spielereien kann dieses Format auch perfekt seine Vorzüge ausspielen und überzeugt sogar mich als DVD-Verfechter. Neben der deutschen Synchronisation gibt es auch die englische Originalfassung, sowie optionale deutsche Untertitel. Neben einer geplanten Single-DVD, die neben dem Film lediglich Trailer und Audiokommentar des Regisseurs bietet, gibt es die bereits beschriebene Blu-Ray, sowie eine Doppel-DVD, die allerhand interessantes Bonusmaterial bietet. Dieses dient dem Zuschauer die komplexe und metaphorische Geschichte und die Entstehung derselben auch etwas leichter verstehen. Abgerundet wird das positive Gesamtbild mit jeder Menge Interviews, einer Featurette über die optischen Effekte und allerlei anderer interessanter Dinge.
Prolog: persönliches Fazit
Tja, meine Damen und Herren - Lars von Trier hat einen Horrorfilm gedreht. Und einen gut funktionierenden noch dazu. Ein kontroverser und schwer verdaulicher Film, der seinen Vorbildern huldigt wenig Rücksicht auf die moralischen Befindlichkeiten und Sehgewohnheiten der Zuschauer nimmt. Daher sollte man schon wissen, auf welches Erlebnis man sich mit diesem in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlichen Film einlässt. Denn wenn nach 108 Minuten Regisseur-Karthasis der erlösende Abspann über die Leinwand flimmert, werden wohl nicht wenige mit kreidebleichen Gesichtern vor dem Bildschirm sitzen. „Antichrist“ ist verstörend, schockierend und ein filmisches Rätsel, dass den Zuschauer wohl zwangsläufig nach Sichtung noch länger beschäftigt – egal ob man den Film gut oder schlecht fand. Eine erschreckende Tour-de-Force, wie sie auch nur aus Europa kommen kann. Denn wenn Lars von Trier und seine psychologischen Schreckgespenster so richtig aufdrehen, wird es für alle Beteiligten unangenehm und nach herkömmlichem Schema kann man so einen Film dann auch gar nicht mehr bewerten. „Antichrist“ ist schlichtweg ein Meisterwerk für jene Personen, die so etwas auch aushalten…