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Antichrist - Lars von Trier

Verfasst: Mi 19. Mai 2010, 17:19
von buxtebrawler
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Originaltitel: Antichrist

Herstellungsland: Deutschland / Dänemark / Frankreich / Italien / Polen / Schweden (2009)

Regie: Lars von Trier

Darsteller: Willem Dafoe, Charlotte Gainsbourg u. A.
Ein Paar (Willem Dafoe, Charlotte Gainsbourg) hat gemeinsam Sex, während ihr Kind unbemerkt aus dem Fenster stürzt. Diese Tragödie hat weitreichende Folge, schließlich bricht sie nach der Beerdigung depressiv zusammen, landet auf einer Station. Doch er als Therapeut nimmt sich vor, seine Frau selbst zu therapieren. Er fährt mit ihr zu einem Holzhäuschen im Wald, der "Garten Eden" heißt. Dort ist er versucht, ihre Ängste mit anderen Ängsten auszutreiben, doch seine Versuche verfangen nicht, immer neue Gräben aus Verzweiflung, Vorwürfen und Selbstverletzungen tun sich auf, das Paar zerfleischt sich langsam selbst...
Quelle: www.ofdb.de

Re: Antichrist - Lars von Trier

Verfasst: Mi 19. Mai 2010, 17:19
von buxtebrawler
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Antichrist
Ein Paar (Willem Dafoe, Charlotte Gainsbourg) hat gemeinsam Sex, während ihr Kind unbemerkt aus dem Fenster stürzt. Diese Tragödie hat weitreichende Folge, schließlich bricht sie nach der Beerdigung depressiv zusammen, landet auf einer Station. Doch er als Therapeut nimmt sich vor, seine Frau selbst zu therapieren. Er fährt mit ihr zu einem Holzhäuschen im Wald, der "Garten Eden" heißt. Dort ist er versucht, ihre Ängste mit anderen Ängsten auszutreiben, doch seine Versuche verfangen nicht, immer neue Gräben aus Verzweiflung, Vorwürfen und Selbstverletzungen tun sich auf, das Paar zerfleischt sich langsam selbst...
„Antichrist“ vom exzentrischen Dänen Lars von Trier, der für Regie und Drehbuch verantwortlich zeichnet, ist einer dieser polarisierenden Filme, die mehr oder weniger typische Kunstfilm-Charakteristika mit provokanten bis schockierenden Sex- und Gewaltdarstellungen vermengen und dabei reichlich Stoff für Kontroversen und Diskussionen liefern, aber auch ob verschiedener Interpretationsmöglichkeiten zum Nachdenken und Hinterfragen anregen.

Im Falle des 2009 veröffentlichten „Antichrist“ ist die jeweilige Interpretation des Gezeigten, sofern man überhaupt Lust bekommen hat, sich darauf einzulassen und nicht empört oder verängstigt abzuschalten, vermutlich ausschlaggebend für die Bewertung des Films, denn eine klare, explizite Aussage gibt es nicht, die unterschiedlichen Möglichkeiten zur Deutung des Gezeigten variieren aber stark. Da ich hierauf noch eingehen werde, enthält diese Kritik Spoiler.

Erfreulich ist allerdings zunächst einmal, dass „Antichrist“ es trotz gelegentlicher handwerklicher Mängel (in Form von nicht allzu sehr gelungenen CGI-Effekten) und einer gewöhnungsbedürftigen Erzählgeschwindigkeit vorzüglich gelingt, eine dunkle, depressive Atmosphäre zu schaffen, den Wald bzw. die Natur bedrohlich und beklemmend darzustellen und seine beiden hervorragend und mit Mut zur Nacktheit und Hässlichkeit agierenden Hauptdarsteller (im Prinzip die einzigen des Films) Charlotte Gainsbourg und Willem Dafoe entsprechend in Szene zu setzen. Dies gelingt durch spezielle Kameratechniken, den weitestgehenden Verzicht auf musikalische Untermalung, eine effektive Geräuschkulisse und vermutlich noch vieles mehr, was sich mir als Laien nicht erschließt, aber seine Wirkung nicht verfehlt. Subtiler, intelligenter Psycho-Grusel ist hier über weite Strecken vorherrschend und wird immer mal wieder von überraschend expliziten Sexszenen am Rande zum Hardcore unterbrochen.

Die Geschichte um ein namenloses Paar, das während des Geschlechtsakts sein Kind im Säuglingsalter verliert, woraufhin die Frau in Selbstvorwürfe und Depression verfällt und anschließend von ihrem besonnenen Mann in einer Waldhütte namens „Eden“ therapiert wird, steckt voller Anspielungen und Symbole auf z.B. religiöses Mythologie, aber auch vieler, deren Zusammenhang Rätsel aufgibt. Zwischenzeitlich stellen sich nach und nach mehrere Details aus der Vergangenheit der Frau heraus, so z.B., dass sie ihr Kind misshandelt und im Waldhaus „Eden“ an einer Arbeit über mittelalterliche Hexenverfolgung gearbeitet hat. Im letzten Kapitel wird das gemächliche Erzähltempo dann aufgegeben und was sich vorher bereits angedeutet hat, tritt ein: Exzessive Gewaltausbrüche, Zerstörung, Tod – grafisch eindringlich dargestellt u.a. in Form von Kastration und Selbstbeschneidung, was zu den schockierendsten, härtesten Szenen des Films und in seinem Kontext sogar des ganzen (Horror-)Genres zählt bzw. zählen dürfte. Als die Frau schließlich versucht, ihren Mann umzubringen, wehrt sich dieser und erwürgt und verbrennt sie, zieht anschließend lädiert durch die plötzlich gar nicht mehr bedrohlich erscheinende Natur, ernährt sich von Beeren und begegnet friedlichen Tieren und einer Armada gesichtloser Frauen, die an ihm vorbeizieht.

Als ich nach meiner bisher ersten und einzigen Sichtung des Films versucht habe, das Gesehene zu abstrahieren und nach einer schlüssigen Interpretation gesucht habe, sind mir spontan vier grobe Deutungsmöglichkeiten eingefallen:

Interpretation 1 – gängiger Horror
Die Frau wird verrückt bis "besessen" durch das Studium mittelalterlich Mythologie zum Thema Hexen und Hexenverbrennungen, quält ihren Sohn, verursacht evtl. dessen Tod absichtlich und dreht durch. Damit würde man dem Film aber sicher nicht gerecht.

Interpretation 2 - Psychodrama
Die psychisch ohnehin angeschlagene Frau wird mit dem Tod ihres Sohnes nicht fertig und die inkonsequenten, arroganten Therapieversuche ihres gefühlskalt erscheinenden Mannes in der isolierten Einöde besorgen den Rest. Das Unterbewusstsein der Frau dringt an Oberfläche, fegt die Mutterrolle und die damit verbundenen Schuldgefühle davon und verschafft sich ein Ventil in Form von Gewalt gegen den Mann und gegen sich selbst. Oder aber sie assoziiert Sex fortan mit dem Tod des Kindes, weshalb sie durch Kastration und Selbstverstümmelung versucht, asexuelle Wesen aus sich und ihrem Mann zu machen.

Interpretation 3 – Psychodrama mit Bezug auf religiöse Mythologie
Der Sex steht symbolisch für den paradiesischen Apfel, der Unheil bringt und den Menschen aus dem Paradies vertreibt. Sexuelle Handlungen, die nicht der Fortpflanzung dienen und somit als „Sünde“ gelten, ziehen Negatives nach sich: So z.B. den Tod des Kindes und das endgültige Versagen der Therapie, als der therapierende Mann seinem Vorsatz, während der Behandlung nicht mit seiner Frau zu schlafen, nicht treu bleibt und dadurch das Gefälle im Therapeut/Patientin-Verhältnis zerstört. Die Desillusioniertheit des Films, das völlige Versagen jeglicher Behandlung der Frau steht stellvertretend für den zum Scheitern verurteilten Versuch des Menschen, nach seiner Vertreibung aus dem Paradies im Diesseits glücklich zu werden. Eine fatalistische Sicht auf das Krankheitsbild der Depression, wie sie nur von einem selbst Betroffenen wie von Trier stammen kann.

Interpretation 4 – Frauenfeindliche religiöse Mythologie
Immer wieder wird von Trier Frauenfeindlichkeit vorgeworfen. Auf diese Weise lässt sich „Antichrist“ zugegebenermaßen auch sehr gut lesen. Das beginnt schon beim Logo des Titels, bei dem das letzte „t“ in Form des Feminin-Symbols dargestellt wird. Die Frau, die bereits im Paradies den Sündenfall verursacht hat, ist das Böse. Sie misshandelt ihr Kind, verursacht dessen Tod, misshandelt und kastriert ihren Mann, interessiert sich verdächtig stark für Hexen usw. Sie weiß, dass sich das Böse in ihr nicht wegtherapieren lässt und strebt ständig nach Lustbefriedigung. Als der Mann sie im Waldhaus "Eden" umbringt, sorgt er für die Rückkehr des Menschen ins Paradies, wo der Mensch fortan wieder im Einklang mit Fauna und Flora lebt. Der Umstand, dass die Frauen am Schluss gesichtslos ins Paradies zurückkehren, könnte allerdings im Umkehrschluss andeuten, dass erst der Sündenfall den Frauen eine Persönlichkeit gab, „Satan“ also sozusagen emanzipatorische Absichten hatte, was den religiösen Sexismus harsch kritisieren würde.

Für welche Interpretation man sich auch entscheiden mag, „Antichrist“ ist ein ungewöhnlicher, sehr interessanter Film, der sich gängiger Bewertungsschemata entzieht. Sollte sich allerdings irgendwann herausstellen, dass man sich generell zu viele Gedanken über den Film gemacht hat, da er ein bewusst konfuses, unlogisches Machwerk ist, das seine Zuschauer verarschen und mit ein paar Perversitäten provozieren möchte, wäre ich arg enttäuscht.

Re: Antichrist - Lars von Trier

Verfasst: So 13. Jun 2010, 22:44
von horror1966
Wohl selten gingen die Meinungen über einen Film in den letzten Jahren so weit auseinander, wie es bei "Antichrist" der Fall ist. Von langweiligem Schund bis hin zu einem genialen Meisterwerk ist so ziemlich alles vertreten, was man sich nur vorstellen kann. Und ganz ehrlich gesagt kann ich diese extrem unterschiedlichen Meinungen durchaus nachvollziehen, denn handelt es sich hier doch um ein Werk, das schwerlich mit normalen Maßstäben zu messen ist und das man in seiner Gesamtheit auch kaum erklären kann, da die erzählte Geschichte doch so viele verschiedene Sichtweisen bietet, die jeder Zuschauer anders deuten kann. Im Wesentlichen dreht sich alles um die Natur des Menschen, Schmerz, Trauer und die verschiedenen Arten, diese zu verarbeiten. Dabei provoziert der Film durch ständige Andeutungen und Sex-Szenen, die manch Einem eventuell vollkommen überflüssig erscheinen, jedoch sehr ästhetisch in Szene gesetzt wurden und hier als Ventil für angestaute Agressionen und Ängste dienen.

Ganz bewust hat Lars von Trier auf eine sehr ruhige und bedächtige Erzählweise gesetzt, die Vielen wahrscheinlich eher langweilig vorkommen mag, doch nur so war es möglich, das hier eine zu Beginn noch nicht erkennbare Intensität entsteht, die sich wie eine zweite Haut über den Betrachter legt und in so zunehmends in Beschlag nimmt. So bemerkt man erst mit der Zeit, wie einen das Geschehen fasziniert und man phasenweise selbst zu einem Teil des surreal anmutenden Szenarios wird. Man kann es sich irgenwie selbst nicht richtig erklären, weshalb dieser kammerspielartige Film eine so ganz eigenartige Faszination auf einen ausübt, von der man sich teilweise magisch angezogen fühlt. Sicherlich ist einer der Gründe dafür bei den beiden herausragenden Darstellern zu suchen, denn der vorhandene Kontrast zwischen den beiden könnte kaum größer sein. Ist da auf der einen Seite der schon fast stoisch ruhig erscheinende Willem Dafoe, der in seiner therapeutischen Art die Ängste und Verhaltensweisen seiner Frau analysieren will, erscheint andererseits Charlotte Gainsbourg, die von ihren Ängsten und dem extrem tiefsitzenden Schmerz nahezu besessen wirkt und mit der Zeit lediglich durch äusserst starke Agressionen ein Ventil findet, um sich von ihrer Last zu befreien. Diese Befreiung äussert sich dabei mit der Zeit auch in purer Gewalt, die sie aber nicht nur ihrem mann, sondern auch sich selbst antut. Die dabei gezeigten Szenen möchte ich nicht weiter beschreiben, aber es geht dabei ziemlich krass und derbe zur Sache.

Es sind insbesondere die darstellerischen Leistungen, die hier ganz besonders hervorstechen und dem Film ganz unweigerlich seine extrem hohe Intensität verleihen, die sich von Minute zu Minute immer mehr steigert, bis sie sich zum Ende hin in einem unglaublichen Showdown vollkommen entladen kann und auch eine stellenweise schockierende Wirkung auf den Zuschauer hinterlässt. Eine weitere große Stärke von "Antichrist" sind die vielen verschiedenen Möglichkeiten zur Deutung des Geschehens, die sich dem Zuschauer offenbaren. So kann man beispielsweise Anlehnungen an die Hexen-Thematik erkennen, es wird religiöse Symbolik eingestreut, oder aber der Satan höchstpersönlich wird mit ins Spiel gebracht. Allein schon diese thematischen Andeutungen verleihen dem Ganzen eine sehr surrealistische Note, die allerdings noch zusätzlich durch die visuelle Inszenierung der Geschichte äusserst stark unterstützt wird. Das äussert sich schon im Intro des Films, das sich in Zeitlupe und in Schwarz/Weiß präsentiert. Dort kann man das Ehepaar in Slow Motion beim intensiven Geschlechtsakt beobachten und gleichzeitig die Situation sehen, wie es zum Tod des kleinen Sohnes kommt, der sich aus seinem Gitterbett befreien kann und durch dicke Schneeflocken fasziniert auf einen Tisch klettert, um daraufhin aus dem offen stehenden Fenster in die Tiefe zu stürzen.

Allein schon diese Eröffnungs-Sequenz ist visuell so brillant in Szene gesetzt worden, das die Erwartungen an das folgende Szenario deutlich in die Höhe schnellen. Für mich persönlich wurden die Erwartungen auch vollkommen erfüllt, denn die ineinander verschachtelte Story, die sich einem hier offenbart, bietet so viel Stoff zum Nachdenken und lässt unheimlich viel Platz für eigene Interpretationen, so das einen nicht selten das Gefühl überkommt, das man seinen ganz eigenen Film kreieren kann und die vorliegende Story lediglich eine rahmanhandlung bietet, die man nach eigenem Gutdünken gestalten kann. Selten habe ich einen solchen Film gesehen, der ganz sicher sehr harter Tobak ist und sich vollkommen abseits des üblichen Mainstreams bewegt, aber dem Betrachter etliche Möglichkeiten bietet, sich sein eigenes Szenario auszumalen und so praktisch in seinem Kopf eine ganz andere Version von "Antichrist" entstehen zu lassen.


Fazit:


Mit "Antichrist" hat der Däne Lars von Trier einen extrem provozierenden beitrag abgeliefert, der die Meinungen extrem spaltet. Sicher nicht für das breite Mainstrem-Publikum geeignet, bietet der Film allerdings Kopf-Kino der allerbesten Art. Visuell beeindruckend wird eine Geschichte präsentiert, die manch Einem eher langatmig und sinnlos erscheinen mag, aber andererseits äusserst viele Möglichkeiten der Interpretation bietet, so das man in seinem eigenen Kopf einen ganz anderen Film entstehen lassen kann. Die Faszination des hier dargestellten Geschehens mag sich eventuell nicht Jedem erschließen, ist deswegen aber dennoch im Überfluss vorhanden und bereitet so ein aussergewöhnliches Film-Erlebnis der ganz besonderen Art, das man keinesfalls verpassen sollte.


8/10

Re: Antichrist - Lars von Trier

Verfasst: Do 21. Okt 2010, 14:14
von untot
Auch wenn der Film etwas braucht bis er in die Gänge kommt, dafür kommts danach um so heftiger.

Verstörende, faszinierende Bilder, top Schauspiel, tolle Story, wirklich sehenswert!

7/10

Re: Antichrist - Lars von Trier

Verfasst: Fr 20. Jan 2012, 23:48
von kinski
Bei ANTICHRIST stand für mich von vorne herein fest, dass der Streifen entweder mein Rohrkrepierer oder mein Highlight des Jahres werden wird. Zu groß waren die Erwartungen, zu hoch waren die Vorschußlorbeeeren. Die Frage war allerdings, ob mir Charlotte Gainsbourg (nach Asia Argento meine Lieblingsschauspielerin) in einer durchaus negativ besetzten Rolle gefallen würde.

Um es vorweg zu nehmen: Charlotte hat mir mehr als gefallen. Doch fangen wir von vorne an: Lars von Triers Film beginnt in langsamen, wortlosen Szenen - Gainsbourg und Dafoe lieben sich, nicht ahnend, dass in der Zwischenzeit ihr kleiner Sohn auf eigene Faust losgeht, dabei aus dem Fenster stürzt und zu Tode kommt. Der Niedergang der beiden Eltern - in der Hauptsache natürlich Sie - ist hinlänglich angekündigt, man weiß also in etwa was auf einen zukommt.

Mit einer einzigen Ausnahme sind die wirklich harten Szenen von ANTICHRIST durchaus noch erträglich. Was wirklich hart ist, ist die Wirkung auf psychologischer Ebene. Wie die Gainsbourg innerhalb der 104 Minuten von der trauernden Mutter über die psychotische und verängstigte Hilflosigkeit in Person bis hin zur mörderischen Furie mutiert ist schon beeindruckend. Und ähnelt ein bisschen dem Wandel von Cecile de France damals in "High Tension".

Willem Dafoe - der zweifelsohne ebenfalls grandios agiert - ist phasenweise zum Statisten degradiert in dieser 'One Woman-Show'. Und wieder einmal beweist Charlotte Gainsbourg Mut zur Hässlichkeit, agiert dabei gleichzeitig so freizügig wie niemals zuvor und scheint sich und ihrem Filmpartner nichts ersparen zu wollen. Lars von Trier hat wahrlich eine Tour de Force geschaffen, die auch für den Zuschauer oft nur schwer zu verarbeiten ist.

Dabei arbeitet von Trier zwischendurch allerdings immer wieder mit starker Symbolhaftigkeit, sodass auch hinterher immer noch Raum für offene Fragen ist und bleibt. Der Auftritt verschiedener Tiere symbolisiert immer wieder ... ja was eigentlich? Trotzdem gehören diese Elemente dazu, auch wenn sie manchmal nur schwer, gar nicht oder falsch interpretiert werden dürften. Und niemanden wundert es dann, dass Kollege Fuchs auf einmal auch noch anfängt zu sprechen.

Fazit: ANTICHRIST wird in ein paar Jahren nichts anderes als ein absoluter Kultfilm sein. All das, was der Streifen im Vorfeld versprochen hat, wird auch eingehalten. Ein visuelles Epos, brutal und lasterhaft, dramatisch und frustrierend - der Zuschauer wird von Beginn an in eine Düsternis hineingezogen aus der es kein Entrinnen gibt.

Wie man auf eine solche Geschichte überhaupt kommen kann, möchte ich gar nicht wissen. Sich als Schauspieler dieser Aufgabe zu stellen, bedarf einiger Überwindungskraft und den Mut seine eigenen Grenzen weit zu überschreiten. ANTICHRIST selbst dürfte eine Grenze im Filmbusiness überschritten haben.

10/10

Re: Antichrist - Lars von Trier

Verfasst: So 5. Jan 2014, 09:02
von purgatorio
ANTICHRIST (ANTICHRIST, Deutschland, Dänemark, Frankreich, Italien, Polen, Schweden 2009, Regie: Lars von Trier)

Schmerzhaft guter Film in hypnotischen Bildern, der allerdings nur schwerlich an Fahrt aufnimmt. Wenn er dann aber rollt, kann man eine unfassbare Charlotte Gainsbourg begutachten, die ihren eigentlich ebenbürdigen (Film-)Partner Willem Dafoe gelegentlich blass aussehen lässt.
Ein beeindruckendes, beklemmendes Werk, dass die völlige Abwesenheit Gottes mit dem idyllischen Ruhezustand der freien Natur gleichsetzt, Hexenmetaphorik und Dantes Höllenästhetik zu einem unglaublichen, surrealen Bild vermengt und dem Betrachter abschließend mit großem Anlauf aller Sicherheit und allem Wohlbefinden beraubt. Fiese Nummer! 8-9/10

Re: Antichrist - Lars von Trier

Verfasst: So 5. Jan 2014, 10:29
von jogiwan
dazu hatte ich 2010 auch mal was getippelt:

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Epilog: die Handlung

Ein Ehepaar (Charlotte Gainsbourg und Willem Dafoe) hat Sex miteinander und vereinigt sich in ekstatischer Leidenschaft. Doch unbemerkt von den Beiden schleicht sich der gemeinsame Sohn Nick aus seinem Kinderbett, beobachtet die Beiden, klettert auf einen Tisch, stürzt aus dem geöffneten Fenster in die verschneite Nacht und verstirbt. Während der Mann das tragische Ereignis scheinbar gut wegzustecken vermag, flüchtet sich die labile Frau immer mehr in Wahnvorstellungen und muss wochenlang im Krankenhaus therapiert werden. Als sich jedoch kein Behandlungserfolg einstellen möchte und die Frau zunehmend mit Angstattacken geplagt ist, beschließt der Mann, der selbst Therapeut ist, entgegen jeglicher Logik seine Frau aus dem Krankenhaus zu holen und selbst zu therapieren.

Doch die gemeinsame Wohnung erinnert die Frau zu sehr an den verstorbenen Sohn und sie wird zunehmend depressiver und versucht sich selbst Schmerz zuzufügen. Der Mann muss hilflos zusehen, wie sich die Frau immer weiter quält und keine Ruhe findet. Immer mehr scheinen unbegründete Ängste der Frau zuzusetzen. Als sie in einem Gespräch verrät, dass sie Angst vor der Natur hat, beschließt der Mann seine Frau auf eine abgelegene Hütte in den dichten Wäldern zu bringen, wo diese bereits zuvor erfolglos an ihrer Dissertation über Hexenverfolgung gearbeitet hat. Dort angekommen scheint es der Frau nach anfänglichen Schwierigkeiten und Wahnvorstellungen auch tatsächlich besser zu gehen.

Schon wenig später häufen sich jedoch unerklärliche Dinge und die Natur scheint den beiden Menschen tatsächlich feindselig gesinnt zu sein. Der Mann sieht ein Reh, dass seine Totgeburt mit sich trägt, im Sekundentakt fallen Eicheln auf das Dach der Hütte und lässt beide nicht zur Ruhe kommen, er wird von Zecken angefallen und schlussendlich spricht ein sich selbstzerfleischender Fuchs zu dem Mann. Zunehmend verlieren beiden den Bezug zur Realität und immer mehr verstricken sich beide Personen in der Abgeschiedenheit der turmhohen Bäume in einem Wahn aus Angst, Schmerz, Sex und Selbstzerstörung…

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Teil 1: der Film und der Versuch einer Interpretation

Da ist er nun, der Skandalfilm von Cannes, der im Jahre 2009 im Bewerb um die goldene Palme selbst den hartgesottenen Kritikern übel aufstieß, für einen kleinen Skandal sorgte und neben Lobeshymnen auch auf abgrundtiefe Ablehnung stieß. Lars von Trier ist auch tatsächlich ein Werk gelungen, dass wohl niemand unberührt lassen wird und in wunderschönen und teils sehr, sehr drastischen Bildern eine mysteriöse Geschichte voller ungewöhnlicher Symbolik über die Natur des Menschen erzählt, für die es meiner bescheidenen Meinung nach auch keine letztgültige Erklärung geben kann.

„Antichrist“ trägt aber die Provokation bereits im Titel, in dem das „T“ am Ende mit dem Symbol der Weiblichkeit ausgetauscht wurde. Und so ist es wieder einmal ein Leichtes, den Film darauf zu reduzieren, dass der geschiedene Lars von Trier im Grunde seines Herzens frauenfeindlich ist und die Frauen dafür verantwortlich macht, das Böse auf die Welt gebracht zu haben. Nun ja, so einfach ist es dann auch wieder nicht und mit dieser Ansicht leben ja bestimmte Religionen ja schon seit Jahrtausenden ganz gut und unterdrücken ihre Schäfchen damit, dass Eva im Garten Eden den unschuldigen Adam verführt hat und fortan aus dem Paradies vertrieben wurde. Auch der Ort, an dem die depressive Frau von ihrem Ehemann gebracht wird, heißt im Film Eden und die scheinbar paradiesischen Zustände inmitten der unberührten Natur werden zunehmend düsterer, bis letztendlich wenig von der anfänglichen Idylle übrig bleibt.

Doch wer ist eigentlich der titelgebende Antichrist in der Geschichte des dänischen Regisseurs? Ist es die Frau, die ihre Geschlechtsteile verstümmelt und dem Mann ein Loch durch den Fuß bohrt um ihm einen Schleifstein daran zu binden? Oder ist es der Mann, der seine Familie vernachlässigt hat und sich erst für das Gefühlsleben seiner Frau interessiert, als er diese zu seiner Patientin erwählt? Ist es das Kind, das das Paar beobachtet und lächelnd aus dem Fenster fällt. Ist es die Natur bzw. die Tiere als Unheilsboten, mit der der Mensch eigentlich im Einklang leben sollte, die aber in diesem Falle zurückschlagen? Oder sind es die gesichtslosen Frauen, die am Ende des ungewöhnlichen Streifens zu sehen sind, die dem einzigen Überlebenden entgegen kommen? Diese Frage ist sicherlich nicht eindeutig zu beantworten, weil jeder Mensch und auch jede Sache bis zu einem gewissen Teil auch etwas Böses in sich tragen. Und selbst Lars von Trier hält sich geschickter weise mit einer Aufklärung seiner mysteriösen Handlung zurück.

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Teil 2: die Entstehung und die Geister der Vergangenheit

Die Geschichte ist also schon einmal ziemlich kompliziert und undurchschaubar und dreht sich um die drei Eckpfeiler Trauer, Schmerz und Verzweiflung. Im Film werden diese die „drei Bettler“ genannt, bei deren Zusammentreffen jemand sterben muss. Diese Gemütszustände“ sind auch am Anfang in der Wohnung auf dem Tisch des Paares zu sehen, von dem aus der Junge in den Tod stürzt und auch am Ende kommen diese wieder zusammen und eine Person muss sterben, als die Frau ihrem Mann genau diese Gemütszustände mit Gewalt beibringen möchte. Was damit aber genau gemeint ist, lässt sich auch nur erahnen. So ist das Zusammentreffen dieser drei Dinge wohl der Hauptgrund so ziemlich aller Selbstmorde und ihre Beschreibung als Bettler könnte darauf schließen lassen, dass sie einen unaufgefordert, ungewollt und auch absolut unerwartet ereilen können.

Lars von Trier schrieb sein Drehbuch bzw. seinen Entwurf dafür in Zeiten, in denen er selbst schwerst depressiv gewesen ist. Nach zwei Teilen seiner sogenannten Amerika-Trilogie, die er mit „Dogville“ und „Manderlay“ begonnen hat, war er im Jahre 2007 emotional so ausgehöhlt, dass er jegliche Weiterarbeit an seinen Werken beenden musste. Damals war „Antichrist“ ja auch noch als dritter Teil geplant, doch die Arbeit daran wurde jäh unterbrochen und der Regisseur musste aufgrund seiner Depression und Angstattacken auch für einige Wochen in das Reichsspital von Kopenhagen eingeliefert werden. Das veranlasste den Regisseur, der meist zwei oder drei Projekte gleichzeitig betrieb, sein gesamte Leben und Arbeit zu überdenken. Schlussendlich verarbeitete er sechs Monate später seine Gefühls- und Gemütszustände zu dieser Zeit in einem Drehbuch, in dem er seine beiden namenlosen Hauptdarsteller auf eine noch nie dagewesene Tour-de-Force schickt. Mit seiner Amerika-Trilogie hat „Antichrist“ zwar nichts mehr zu tun, trotzdem ist dieser Streifen der wohl wichtigste und auch persönlichste Streifen, in dem er seine persönlichen Dämonen seines Lebens auf Zelluloid gebannt hat. Lars von Trier meint ja selbst im Making-Of, dass er aufgrund seiner psychischen Erkrankung auch nur knapp 40 % seiner persönlichen Energien in diesem Streifen investieren konnte und dass die Vollendung des Streifens größtenteils dem Engagement seiner zahlreichen Weggefährten verdanken…

Was bei „Antichrist“ auch als allererstes ins Auge sticht sind die absolut ungewöhnlichen Bilder, die digital bearbeitet wurden und so ziemlich das komplette Gegenteil von dem darstellen, mit dem der Initiator der sogenannten Dogma95-Regeln bisher in Verbindung gebracht wurde. In „Antichrist“ ist der Prolog der Geschichte, in dem das Paar miteinander schläft und der Junge stirbt in Schwarzweiß und in Super-Slow-Motion gedreht, während ein klagendes Lied von Georg Friedrich Händel ertönt. Diese ästhetischen Bilder bieten den Auftakt zu allerlei optischen Spielereien, die zumindest ich dem dänischen Regisseur nicht zugetraut hätte. Die Szenen im Wald wurden visuell bearbeitet und ebenfalls teils mit einer Kamera gedreht, die bis zu 1000 (!!!) Bilder pro Sekunde aufnehmen kann und eine neue Form der Langsamkeit erreichen, die dem Regisseur wichtig war. Selbst CGI wurden für die grausigen Tierszenen in den Film verwendet, was man ja nach seinem bisherigen Output, dass immer sehr um Realität und Authentizität bemüht war, nicht unbedingt in einem Film von Lars von Trier erwarten würde.

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Teil 3: die Darsteller und die Disc

Eine besondere Herausforderung war es aber auch, einen Film zu schaffen, der im Grunde nur zwei Hauptdarsteller besitzt. Charlotte Gainsbourg zeigt in ihrer Rolle wirklich Mut zu Hässlichkeit und lässt ihrer Wut, ihrem Schmerz und ihrer Trauer vollkommen freien Lauf. Selbst freizügige Szenen – auch wenn in den HC-Szenen Bodydouble verwendet wurden – sind für die französische Schauspielerin offensichtlich kein Problem. In einem Interview auf der DVD verrät sie auch, dass es ihr Wunsch war mit Lars von Trier zu arbeiten und sie für die Rolle auch nicht die erste Wahl war. Die Dreharbeiten mit den dänischen Enfant Terrible waren auch sicherlich nicht einfach, wovon auch die isländische Sängerin Björk berichten kann. Aber wie auch schon bei „Dancer in the dark“ gab es für die herausragende und über das normale Maß hinausgehende Leistung auch für Gainsbourg in dem kontroversen Werk auch die Goldene Palme als beste Darstellerin bei den Filmfestspielen in Cannes 2009.

Willem Dafoe als männlicher Gegenpart wirkt im Gegensatz zur vollkommen verzweifelt-wirkenden Gainsbourg allerdings wie ein arroganter Fels in der Brandung. Seine Rolle ist eigentlich sehr undurchschaubar, weil man im Grunde nicht weiß, aus welchen Beweggründen er seiner Frau eigentlich helfen möchte. Und ich muss auch ehrlich gestehen, dass ich nicht unbedingt ein Fan des 1955 in den USA geborenen Schauspielers bin, der sich jedoch für keine kontroverse Rolle zu schade scheint. In „Antichrist“ passt der Schauspieler mit dem markanten Gesicht jedoch perfekt in die Rolle des Psychotherapeuten.

Die Blu-Ray Disc aus dem Hause MFA+ Film bzw. Ascot Elite bringt diesen kontroversen Schocker in perfekter Bild- und Tonqualität. Mit den stylischen Slow-Motion-Bilder und all den anderen optischen Spielereien kann dieses Format auch perfekt seine Vorzüge ausspielen und überzeugt sogar mich als DVD-Verfechter. Neben der deutschen Synchronisation gibt es auch die englische Originalfassung, sowie optionale deutsche Untertitel. Neben einer geplanten Single-DVD, die neben dem Film lediglich Trailer und Audiokommentar des Regisseurs bietet, gibt es die bereits beschriebene Blu-Ray, sowie eine Doppel-DVD, die allerhand interessantes Bonusmaterial bietet. Dieses dient dem Zuschauer die komplexe und metaphorische Geschichte und die Entstehung derselben auch etwas leichter verstehen. Abgerundet wird das positive Gesamtbild mit jeder Menge Interviews, einer Featurette über die optischen Effekte und allerlei anderer interessanter Dinge.

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Prolog: persönliches Fazit

Tja, meine Damen und Herren - Lars von Trier hat einen Horrorfilm gedreht. Und einen gut funktionierenden noch dazu. Ein kontroverser und schwer verdaulicher Film, der seinen Vorbildern huldigt wenig Rücksicht auf die moralischen Befindlichkeiten und Sehgewohnheiten der Zuschauer nimmt. Daher sollte man schon wissen, auf welches Erlebnis man sich mit diesem in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlichen Film einlässt. Denn wenn nach 108 Minuten Regisseur-Karthasis der erlösende Abspann über die Leinwand flimmert, werden wohl nicht wenige mit kreidebleichen Gesichtern vor dem Bildschirm sitzen. „Antichrist“ ist verstörend, schockierend und ein filmisches Rätsel, dass den Zuschauer wohl zwangsläufig nach Sichtung noch länger beschäftigt – egal ob man den Film gut oder schlecht fand. Eine erschreckende Tour-de-Force, wie sie auch nur aus Europa kommen kann. Denn wenn Lars von Trier und seine psychologischen Schreckgespenster so richtig aufdrehen, wird es für alle Beteiligten unangenehm und nach herkömmlichem Schema kann man so einen Film dann auch gar nicht mehr bewerten. „Antichrist“ ist schlichtweg ein Meisterwerk für jene Personen, die so etwas auch aushalten…

Re: Antichrist - Lars von Trier

Verfasst: So 5. Jan 2014, 10:42
von purgatorio
toller Text, Jogi :thup:

Re: Antichrist - Lars von Trier

Verfasst: So 5. Jan 2014, 10:53
von jogiwan
purgatorio hat geschrieben:toller Text, Jogi :thup:
danke dir! :knutsch:

Re: Antichrist - Lars von Trier

Verfasst: So 5. Jan 2014, 23:31
von Arkadin
Ganz toller Text zu einem der Film in letzter Zeit, die mich am nachhaltigsten beeindruckt und begeistert haben. Allerdings dem egisseur auch eine Zuschauerin geksotet haben, denn mein geliebtes Weib meinte neulich, dass sie sich nach "Antichrist vorsichtshalber keine Von-Trier-Filme mehr anschaut.

Allerdings
jogiwan hat geschrieben:Damals war „Antichrist“ ja auch noch als dritter Teil geplant,
Stimmt das nicht so ganz. Der dritte Teil sollte "Wasington" (kein Rechtschreibfehler) werden. Doch aufgrund seiner schweren Depression wurde das Projekt gestoppt. 2008 bekam Von Trier den Bremer Filmpreis und sollte zur Verleihung auch anwesend sein. Man stelle sich meine Aufregeung vor. Von Trier in Bremen! Leider sagte er kurzfristig ab, weil er die Lust am Film wieder gefunden hatte und seine Krankheit filmisch verarbeiten wollte. Und da steckte er dann in den Vorbereitungen zu "Antichrist". Na, immerhin war Udo Kier dann da.
Na, immerhin habe ich so unser Kommunalkino wiederentdeckt und bin mit dem Chef dort in Kontakt gekommen. Von daher ist das quasi die zarte Saat von "Weird Xperience" gewesen ;)