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El Sartorio

Verfasst: Di 7. Okt 2014, 18:57
von Salvatore Baccaro
Originaltitel: El Sartorio

Produktionsland: Argentinien 1907 (?)
Das älteste Gewerbe der Welt wird mit Sicherheit auch das älteste Filmgenre der Welt gewesen sein. Schon so lange wie es Kameras gibt, dürfte es pornographische Filme gegeben haben, selbst wenn sie auch zunächst unter Ausschluss einer größeren Öffentlichkeit in irgendwelchen Hinterhofateliers angefertigt worden sein mögen. Der Siegeszug des Pornos indes beginnt noch lange vor dem narrativen Film auf den Jahrmärkten. Im Rahmen sogenannter Herrenabenden konnte zumindest der, der es sich traute, ein pikantes Programm genießen, das der Nachwelt freilich höchstens in Bruchstücken überliefert ist. EL SARTORIO nun soll eins dieser Bruchstücke sein, laut mancher Quelle der älteste bekannte Pornofilm, der heute noch existiert, laut anderer Quelle bis in die 30er voraus datiert. Selbst, was das Produktionsland betrifft, sind die Publikationen uneinig, obwohl weitgehend davon ausgegangen wird, dass der Film in Argentinien der Jahre um 1907 hergestellt worden sein muss. Falls das stimmt, wäre EL SARTORIO ein anschauliches Beispiel für die Auswirkungen der beginnenden Filmzensur. Während in der Frühzeit des Kinos die Produzenten noch in gewisser Weise Vogelfreiheit genossen, da schlicht eine Instanz fehlte, die ihnen auf die Finger hätte schauen können, sahen sie sich mit der Zeit in immer stärkerem Maße dem wachsamen Auge des Staates ausgesetzt – das indes nichts dagegen ausrichten konnte, dass findige Pornofilmer vermehrt nach Südamerika reisten, um dort für weniger Geld, da beispielweise die Darsteller im wahrsten Sinne des Wortes wesentlich billiger zu bekommen waren, ihre Sauereien zu veranstalten. Dass das neue Medium gleich von Beginn wahrscheinlich mehr von seinem Geschäft mit Sexualität profitiert hat, als von irgendetwas anderem, finde ich ziemlich bezeichnend. Was ich mich vor allem frage, ist, wie denn die ersten Menschen darauf reagiert haben mögen, plötzlich leibhaftigen Sex in sich bewegenden Bildern vor sich zu sehen. Ich stelle mir einen gutbürgerlichen Familienvater vor, der es nie in seinem Leben gewagt hätte, ein pornographisches Heftchen unter der Ladentheke zu erstehen geschweige denn einem Bordell einen Besuch abzustatten. Arbeitskollegen haben ihn mit auf den Rummel gezogen, sein anfängliches Sträuben wird nicht gelten gelassen, man zecht und beschließt, einer Schmuddelvorstellung im Zirkuskino beizuwohnen. Unser gutbürgerlicher Familienvater wird mitgeschleppt, sitzt nun auf den etwas unbequemen Stühlen in dem stickigen Zelt voller Männer, die rauchen, schwitzen, sich erregt die Lippen lecken. Was hat es in ihm ausgelöst, einen Moment nach dem Öffnen der Leinwand zwei nackte Körper zu sehen, die sich miteinander auf einer Matratze wälzen? Ist er sofort schlagartig geil geworden? Hat er in der ersten Sekunde Ekel verspürt? Wollte er loslachen, aus Verlegenheit? Hat er an seine Frau gedacht?

Es ist wahrscheinlich völlig lächerlich, bei einem Pornofilm von Unschuld zu sprechen, ich tue es aber trotzdem und sage: EL SARTORIO hat für mich eine gewisse, schwer zu beschreibende Unschuld, eben jene Poesie, die nicht alle, aber einige Werke des frühen Kinos, ob sie es wollen oder nicht, versprühen, etwas kindlich Naives, das nicht im Traum an die Revolution denkt, die es hervorrufen wird, unbedarft, noch nicht ganz sicher auf den Beinen, verträumt trotz des Geldes, das überall um es herum klirrt und flirrt. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass EL SARTORIO ganz deutlich in einer künstlerischen Tradition steht. Übersetzt aus dem Spanischen lautet sein Titel: Der Satyr. Satyren, das waren bekanntlich bocksbeinige Waldbewohner der griechischen Mythologie, deren hervorstechendstes Merkmal neben der Freude an Sang und Wein wohl ihr ungezügelter Geschlechtstrieb ist. Sieht ein Satyr auf einer Wiese oder an einem Flussufer nur etwas, das einer nackten, schlafenden oder nackten, tanzenden Nymphe entfernt ähnelt, wird sein Glied von ihm wie ein Magnet angezogen. Die Galerien der Welt sind voll mit bildlichen Darstellungen dessen, was ein Satyr, ist er seiner Beute habhaft geworden, mit ihr anstellt. Da das Sujet ein klassisches ist, haben sich die zeitgenössischen Kunstkritiker, insofern die Werke sich nicht zu weit aus dem Rahmen lehnten, nicht schwer damit getan, es zu dulden, so wie eine Muttergottes unter Umständen eine blanke Brust legitimiert und jedes historische Schlachtgemälde ein ganzes Bündel an Splatterszenen. Kurioserweise und vielleicht unbewusst folgt EL SARTORIO exakt einer solchen Tradition, die Sex und Gewalt durchaus nicht ablehnt, jedoch nur gefiltert durch andere, vermeintlich reine Bildkomplexe darstellt. Seine Handlung habe ich oben eigentlich schon beschrieben: ein Reigen Nymphen tanzt auf einer Lichtung, ein Satyr erspäht diese, geilt sich auf, stürmt aus dem Dickicht und wirft sich auf die Erstbeste, die nun mit seinem steifen Schwanz Bekanntschaft schließen darf. Allerdings folgt jetzt keine Vergewaltigung, stattdessen ist die Nymphe schnell dabei, sich selbst Lust durch den Satyr zu verschaffen. Nachdem sie von ihm geleckt worden ist, nachdem sie ihm einen geblasen hat, nachdem er sie von hinten und von vorne genossen hat, fallen ihre Körper erschöpft zur Seite. Beide sind zum Höhepunkt gekommen, liegen in träger Harmonie beieinander. Zum Schluss stürmen die übrigen Nymphen, bewaffnet mit Palmwedeln, die Szene und verscheuchen den Satyr zurück in die Wälder. Nicht mal fünf Minuten dauert das Stück, d.h. wohl in etwa so lange wie ein durchschnittlicher Mann zur Selbstbefriedigung benötigt.

So romantisch, so putzig, allein wegen der wohl schon für damalige Augen amüsanten Satyrenmaskerade, so verspielt, so harmlos ein Filmchen wie EL SARTORIO auf den ersten Blick sein mag, so klar ist die Botschaft, die es vermittelt. Der Satyr repräsentiert die maskuline Gewalt, die sich ungefragt, einem wilden Tier, einem Naturtrieb gleich, über ihr schwaches, feminines Gegenstück wirft. Letzteres will das eigentlich, hat trotz ihrer Flucht scheinbar nur darauf gewartet, aus den Reihen ihrer Gespielinnen herausgerissen zu werden, um an sich endlich einmal einen richtigen Bock in Aktion zu erleben. Gerne lässt der Satyr am Ende sich vertreiben, denn er hat bekommen, was er wollte, knickt vor den heranschwärmenden Mädchen nur zum Schein ein, nicht ganz ernstgemeint. Offensichtlich wird, dass EL SARTORIO, was wenig verwundert, für ein primär männliches Publikum produziert worden ist. Seine Auftraggeber sind Männer, seine Konsumenten sind Männer. Von der ersten Sekunde ist der pornographische Film Ausdruck einer subjektiven, limitierten Perspektive: nämlich der des männlichen Gliedes. Erneut frage ich mich, was der gutbürgerliche Familienvater in meiner Hypothese empfunden haben mag, nachdem der Film, das Fest, der Rausch vorbei ist und er sich auf dem Fußweg zurück nach Hause befindet? Hat EL SARTORIO ihn in etwas bestärkt, ihn in etwas, das er sowieso schon immer unbewusst gefühlt hat, bestätigt? Hat er ihn, völlig ohne dass er darüber nachgedacht hätte, erregt und zur Ejakulation gebracht? Hat er ein Ventil in ihm geöffnet, fühlt er sich leichter, beschwingter, fast wie verliebt? Hat er das Bedürfnis, wieder öfter mit seiner Frau zu schlafen, nicht nur einmal im Monat? Oder ist alles wie vorher, der triste Alltag erwartet ihn, ohne Nymphen, und er selbst ist alles andere als ein Satyr, und wenn er zu seiner Frau ins Ehebett kriecht und dabei ihre weiche, heiße Haut spürt, denkt er an alles, nur nicht an Sex in sämtlichen Variationen?