Jollies - 1990 - Sadie Benning

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Salvatore Baccaro
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Jollies - 1990 - Sadie Benning

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Originaltitel: Jollies

Produktionsland: USA 1990

Regie: Sadie Benning

Darsteller: Sadie Benning
Die ersten verstohlenen Küsschen auf dem Schulhof, verliebte Blicke und Krakeleien auf Tagebuchblätter, das erste Mal einen Penis oder eine Vagina berühren, Auseinandersetzungen mit Eltern und anderen Autoritäten, rebellisches Verhalten, um sich von dem abzugrenzen, was man zu hassen meint. Unzählige Filme haben seit Anbeginn der Kinogeschichte den Ausnahmezustand Pubertät zu ihrem Thema gemacht. Werke wie, um nur zwei der filmhistorisch prominentesten zu nennen, Nicholas Rays REBEL WITHOUT A CAUSE oder Otto Premingers BONJOUR TRISTETTE sind jedoch zwangsläufig Filme über Pubertierende, konzipiert und realisiert von Menschen, die ihrer eigenen Pubertät lange entwachsen sind und möglicherweise höchstens noch die eine oder andere unangenehme Erinnerungen an sie haben. Jugendliche Figuren auf der Suche nach sexueller und sozialer Identität werden für Filme wie die oben genannten bewusst kreiert, es sind gecastete Schauspieler, die sie verkörpern, meist wesentlich älter als die Rollen, die sie darstellen sollen, es sind fiktive Schicksale, sozusagen am Reißbrett entworfen. Selbst wenn ein Film wie REBEL WITHOUT A CAUSE für seine Zeit außergewöhnlich fair und sensibel mit den in ihm mit sinnloser Gewalt gegen die Welt aufbegehrenden jungen Leute umspringt, von wirklicher Authentizität kann dennoch kaum die Rede sein, wenn vor allem an Gewinnoptimierung interessierte Studiobosse im Hintergrund der Dreharbeiten sitzen und ihre Fäden weitgehend in den Händen halten. Erst das Aufkommen portabler Speichermedien hat Menschen, die bis dahin keine eigene Stimmen besessen haben, sondern nur welche, die in ihrem Namen sprachen oder ihre eigenen so gut es geht nachzuahmen versuchten, ein visuelles Sprachrohr an die Hand gegeben, durch das sie sich universell verständlich machen können.

Eine von denen, die schon früh erkannt hat, dass ihre persönliche Wahrheit genauso wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger ist als die, die uns als objektiv verkauft wird, ist Sadie Benning, Tochter des gefeierten Experimentalfilmers James Benning, zum Zeitpunkt der Dreharbeiten zu JOLLIES im Jahre 1990 sechzehn, siebzehn Jahre alt. Der elfminütige Kurzfilm ähnelt einem experimentellen Tagebucheintrag. Sadie Benning erzählt von ihren bisherigen Erfahrungen mit Liebe und Sex und vor allem von der zunächst erschreckenden Erkenntnis, dass sie sich nicht so sehr zum andern, sondern vielmehr zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlt. JOLLIES ist das genaue Gegenprogramm zu Filmen wie REBEL WITHOUT A CAUSE oder BONJOUR TRISTESSE darin, dass er von Anfang bis Ende die limitierte, subjektive Perspektive seiner Schöpferin wiedergibt. Er ist ein Dokument direkt aus dem Kinderzimmer, unverfälscht, unverstellt, frei von Lügen und dramaturgischen Verzerrungen. Ehrlich, tabulos vertraut Sadie Benning ihrem Film, der zunächst nicht einmal für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen und erst durch die Kontakte ihres Vaters in die Filmwelt alsbald auf vereinzelten Festivals gezeigt worden ist, ihre intimsten Gedanken an, das alles jedoch nicht ohne augenzwinkernde Ironie und einige wirklich schräge Einfälle. Der schrägste dürfte wohl der sein, der das Medium selbst betrifft, mit dem JOLLIES realisiert worden ist. Sadie Benning dreht nicht etwa mit einer Videokamera oder gar auf echtem Film, es ist eine sogenannte Pixelvision-Kamera von Fisher Price, ein Spielzeug im Grunde, ausgestattet mit dem Gimmick, dass es tatsächlich als Speichermedium fungieren kann. Die Aufnahmen sind dementsprechend alles andere als perfekt, stattdessen reichlich verpixelt, was JOLLIES wie dem gesamten Frühwerk Bennings eine ganz eigene und eigenwillige Ästhetik verleiht.

In schwarzweißen, verrauschten Bildern filmt Benning in Großaufnahme ihren Mund, ihr Ohr, ihr Auge, während sie in fragmentarischen Monologen stichpunktartig die Reihe ihrer bisherigen Liebespartner, Mädchen wie Jungen, durchgeht. Aus Buchstabenklötzen legt sie Zwischentitel, über die sie dann mit ihrer Spielzeugkamera entlangfährt. Barbie-Puppen werden in eindeutig lesbischen Sexposen ineinandergesteckt, lange dürfen wir ihr und einem Mädchen, das wohl ihre damalige Freundin gewesen ist, beim Knutschen zuschauen, zwischendurch glotzt ein Fisch aus einem Aquarium, was visuell die Bemerkung umsetzt, einer ihrer Ex-Freunde arbeite nun in einer Sushi-Bar, oder es werden, um das Ende einer Beziehung zu illustrieren, Flaschen auf Asphalt zerbrochen. So einfach JOLLIES sein mag, so sehr hat mich der Film berührt. Nicht nur, dass ich das Gefühl habe, dass mir da ein Mensch, fernab von Geltungsbedürfnis, pekuniären Motiven oder weil er mir irgendetwas verkaufen will, seine Seele zeigt, es ist gerade die spezifische Machart des Films, die mich nicht mehr loslässt. Mehr braucht es nicht, um einen großartigen Film zu drehen, als eine schlichte Spielzeugkamera, die halbwegs akzeptable Bilder zustande bringt. JOLLIES lebt gerade von dieser bescheidenen, billigen Ästhetik: in Hochglanzoptik inszeniert und mit einem mehrköpfigen Stab wäre sein Reiz sicherlich nicht derselbe, oder im schlimmsten Fall völlig verflogen. Nicht so sehr darauf scheint es anzukommen, wie man eine Sache verwirklicht, es zählt, dass eine solche Sache selbst vorhanden ist. Genau das lehrt JOLLIES mit der Weisheit einer Siebzehnjährigen.

In seiner ganzen Glorie kann der Film unter folgendem Link bestaunt werden:

http://creative.arte.tv/de/community/sa ... llies-1992
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