Die große Stille - Philip Gröning (2005)

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Salvatore Baccaro
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Die große Stille - Philip Gröning (2005)

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Originaltitel: Die große Stille

Produktionsland: Frankreich, Schweiz, Deutschland 2005

Regie: Philip Gröning
Letzten Sommer habe ich knapp vier Wochen in einem Benediktinerkloster nahe Würzburg verbracht. Ich hatte die Mönche davon überzeugt, dass ich ernsthaft mit dem Gedanken spielen würde, einer von ihnen zu werden. Gemeinsam mit siebzehn weiteren Aspiranten gestand man mir die Gelegenheit zu, aus erster Hand den Klosteralltag zu erleben. Man könnte sagen: ich habe Gott eine weitere Chance gegeben. Dass er sie nicht in der Weise genutzt hat wie er sie hätte nutzen müssen, um mich dem weltlichen Treiben zu entziehen, dürfte offensichtlich sein. Dennoch fand ich es faszinierend, mich selbst dabei zu beobachten, was die Monotonie hinter den heiligen Mauern, das frühe Aufstehen, der wenige Schlaf, die insgesamt fünf über den Tag verteilten Gottesdienste und Gebetsstunden, die einfachen Verrichtungen im Schnapskeller oder im Klostergarten mit mir anstellten. Von Ironie und Distanz war nämlich schon nach kurzer Zeit nicht mehr viel übrig. Stattdessen kam ich mir vor wie auf einem heftigen Trip, völlig übermüdet, der Kopf summend vor gregorianischem Mönchsgesang, Psalmenrezitation und hallendem Orgelsound, irgendwann quasi willenlos durch die Gänge schlurfend. Letzten Montag bekam ich nun die völlig unverhoffte Gelegenheit, auf großer Leinwand einen Film betrachten zu dürfen, den ich vor Jahren einmal gesehen und danach nie wieder vergessen habe. Tatsächlich sind drei, vier Bilder stets in meinem Gedächtnis mitgeschwungen, seltsamerweise jedoch nicht während meines eigenen Klosteraufenthalts.

Der Film, den ich meine, heißt DIE GROSSE STILLE und wurde von Philip Gröning gedreht, den man, wenn überhaupt, vor allem für sein Skandalwerk DIE TERRORISTEN von 1992 kennt, das Bundeskanzler Kohl damals vergeblich zu verbieten versucht hat, oder aber für L’AMOUR, L’ARGENT, L’AMOUR von 2000, einer modernen Bonnie-&-Clyde-Räuberpistole mit Velvet-Underground-Soundtrack, die inhaltlich und ästhetisch ihrem Titel voll und ganz entspricht. DIE GROSSE STILLE fällt in seinem Oeuvre, soweit ich es kenne, ziemlich aus dem Rahmen. Wie ich hat er sich in ein Kloster begeben, allerdings in das Mutterkloster der Kartäuser, dem wohl strengsten aller katholischer Orden, gegen dessen Regeln sich die des Heiligen Benedikts wie Nutzanwendungen für den Aufenthalt in einem Luxushotel lesen. Die Kartäuser, gegründet im 11.Jahrhundert vom Heiligen Bruno, stehen noch viel mehr als vergleichbare Orden in einer eremitischen Tradition, sprich: jeder hat sein eigenes kleines Häuschen mit angrenzendem Gärtchen, das er eigenständig verwaltet, mit den Mitbrüdern kommt man nur zum gemeinsamen Gebet zusammen, es wird, bis auf wenige Ausnahmen im Wochenverlaud, permanent geschwiegen, die meiste Zeit gefastet, zudem lebt man vegetarisch und in einem Zustand, der im Idealfall einem pausenlosen Gebet gleicht. Wo meine Benediktiner in durchaus regem Austausch und Kontakt mit der Welt stehen, sie diese gar in ihre auf dem Klostergelände befindlichen Gästehäuser einladen, einen eigenen Verlag, einen eigenen Krämerladen, ein eigenes landwirtschaftliches Arsenal unterhalten, und zuweilen Reisen zu anderen Klöstern antreten, haben die Kartäuser der Welt komplett den Rücken zugewandt, gemäß ihres Leitspruchs: „Unser Bemühen und unsere Berufung besteht vornehmlich darin, im Schweigen und in der Einsamkeit Gott zu finden.“ Es wird nicht wundern, dass Philip Gröning es unter diesen Bedingung nicht allzu leicht gehabt hat, einen Film über die Bewohner der Grande Chartreuse zu drehen. Wie er in einer Texttafel am Ende seines Werks erklärt, sind zwischen einer ersten Anfrage an den Orden und dem Beginn der Dreharbeiten sechzehn Jahre verflossen. Schließlich hat Gröning für ein halbes Jahr zusammen mit den Mönchen gelebt. Da nur ihm allein die Erlaubnis zugeteilt worden ist, hinter die der Öffentlichkeit normalerweise nicht zugänglichen Klostermauern zu treten, und er somit kein Filmteam hat mitnehmen können, ist DIE GROSSE STILLE ein Projekt geworden, dessen Aufnahmen ausschließlich von Gröning selbst mit einer handelsüblichen Digitalkamera festgehalten worden sind. Herausgekommen ist eine fast dreistündige Meditation über das Wesen von Stille und Zeit, die mich beim zweiten Betrachten vielleicht noch stärker ergriffen hat als beim ersten.

DIE GROSSE STILLE hat keine Handlung. Der Film erzählt nichts. Er kommentiert auch nicht. Gröning hält sich selbst bescheiden aus dem Werk zurück. Nur wenige Sätze fallen, und die bestehen hauptsächlich aus dem Monolog eines blinden Mönchs ganz am Ende des Films, nach weit über zweieinhalb Stunden. Ansonsten schaut Grönings Kamera den Mönchen in einer Langsamkeit und Ruhe, die für manchen Zuschauer zur quälenden Geduldsprobe ausarten könnte, bei ihrem Alltag zu. Sie beten, sie finden sich in der Kapelle ein, sie singen gemeinsam, sie verrichten ihr Tagewerk wie Schuhe flicken, Holz hacken, ihre Gärten bestellen, Schnee schaufeln oder Kätzchen füttern, sie lesen in den Heiligen Schriften und nur einmal die Woche verlassen sie das Kloster, um bei einem ausgiebigen Spaziergang ihr Schweigen zu brechen, miteinander über theologische Fragen zu diskutieren, zu scherzen oder, was eine besonders berührende Szene ist, wie kleine Kinder auf den Hintern einen schneebedeckten Abhang hinab zu rodeln. Wer diese Mönche sind, verschweigt der Film uns. Wir wissen höchstens ihre Namen, kennen ansonsten nur ihre Gesichter, die Gröning in Dreiergruppen über den gesamten Film verteilt in Großaufnahmen einfängt. Wie es dazu kam, dass sie in den Kartäuseroden eintraten, was sie in der Welt draußen dargestellt haben, wie ihre Geschichten klingen, das alles sind Fragen, die der Film gar nicht erst aufwirft. Seine Hauptdarsteller sind sowieso nicht die Mönche, sondern vielmehr die titelgebende Stille und Gott, der in stetig wiederkehrenden, den Film ordnenden Zwischentiteln selbst zu Worten kommt, die aus dem Alten und Neuen Testament stammen. Die Perspektive von DIE GROSSE STILLE ist somit eine, die versucht, sich jeglicher Perspektive zu enthalten. Gröning begeht nicht den Fehler, die Mönche zu beurteilen und zu bewerten, seinen Zuschauern mit Erklärungen zur Hilfe zu eilen, oder gar eine dezidiert katholische Sicht einzunehmen. Vielmehr scheint es ihm vornehmlich darum zu gehen, einen gewissen Seinszustand, nämlich den der Gottergebenheit, in Bilder zu fassen, die nicht inszeniert, sondern seit Jahrhunderten tatsächlich genauso innerhalb der Klostermauern vorzufinden sind. Diese Bilder, das wundert kaum, können in ihrer Schlichtheit kaum überboten werden, was zum einen natürlich daran liegt, dass ein Kartäuserkloster den Sinnen sowieso wenige Reize liefert. Zum anderen versteht es Gröning aber, dieses äußerst zurückhaltende Bildmaterial zur Folie von Momenten werden zu lassen, bei denen zumindest ich den Eindruck habe, einem wie auch immer gearteten Glauben zumindest visuell ein bisschen näher gerückt zu sein. Es sind winzige Beobachtungen, kleine Handlungsabläufe, von uns in unserer gewohnten, hektischen, überhasteten Welt kaum eines Blickes gewürdigte Vorgänge, die innerhalb der Klosterabgeschiedenheit auf einmal eine ganze Welt bedeuten. Da ist beispielweise das Handtuch am Ausgang der Kapelle, an dem die Mönche sich bei deren Verlassen die Hände abtrocknen und dem die Kamera immer wieder dabei zuschaut wie es, nachdem der letzte von geweihtem Wasser feuchte Finger an ihm abgewischt worden ist, noch eine Weile in seiner Halterung hin und her pendelt. Da sind die Schneeflocken, die in grobkörnigen Aufnahmen ihre Tänze vor einem Fenster aufführen. Da ist eine Kerze, die in der vollständigen Finsternis der Abteikirche vor sich hin zuckt, während die Mönche, zugedeckt von Schatten, ihre lateinischen Gesänge anstimmen. In diesen Bildern, von denen DIE GROSSE STILLE regelrecht erfüllt ist, kommt, meine ich, eine Wahrheit über Gottesnähe und Frömmigkeit zum Ausdruck, die sich mit Worten gar nicht vermitteln ließe, eben weil unsere Herzen, glaube ich, nicht so sehr von Logik berührt werden können als von etwas, das völlig außerhalb jeder Logik angesiedelt ist.

Was DIE GROSSE STILLE selbst zu einer Art von undogmatischen Gottesdienst werden lässt, sofern man sich jedenfalls auf den Film einlässt und es aushält, fast drei Stunden der Stille und dem Verstreichen der Zeit zusehen zu können, ist seine auf Wiederholungen basierende Struktur. In einem Kloster ist eben jeder Tag wie der andere. Die Kartäuser unterliegen einem stark durchorganisierten Tagesrhythmus. Jeden Tag beten sie auf die gleiche Weise, jeden Tag erledigen sie ihre gleichen Hand- oder Gartenarbeiten, jeden Tag stehen sie zur gleichen Stunde auf und legen sich zur gleichen Stunde zum Schlafen hin. Für mich ist die dritte Hauptdarstellerin des Films demnach die Zeit. Selten ist dieses im Grunde unerklärliche Phänomen für mich fassbarer geworden. Man sieht der Zeit tatsächlich dabei zu wie sie vergeht. Minutenlang dauert manche Einstellung, in der eigentlich nichts weiter passiert. Ein Mönch schaufelt ein Feld von Schnee frei, ein anderer kniet regungslos in seiner Zelle, ein dritter kehrt den Klostergang. Offensichtlich wird, dass diese Männer offenkundig ein ganz anderes Zeitempfinden haben als das in der säkularisierten Welt übliche. Für sie scheint sie kaum eine Bedeutung zu haben, sie sind ihr entrückt, lassen sie dahingehen wie etwas, dem man nicht zu viel Vertrauen schenken sollte. Trotzdem sind in DIE GROSSE STILLE andauernd tickende Uhren im Hintergrund zu hören. Einmal filmt Gröning die Mönche dabei wie sie eine stillstehende Uhr wieder zum Laufen zu bringen versuchen. Diese Zeigerschläge sind weitere rhythmische Einheiten, die damit im Zusammenhang stehen, dass die Zeit trotz allem den Tag eines Mönchs in seinem Innersten strukturiert. Gröning schafft es, in Bilder zu fassen, was man sich sonst schwerlich vorstellen kann: einen tranceartigen Zustand, bei dem eine Minute und hundert Jahre im Prinzip nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Nebenbei stößt einen der Film außerdem auf Schönheiten, die man viel zu leicht übersieht. Dass es einem Wunder gleicht, wenn ein Schneesturm tobt, oder wenn Tau von Pflanzenblättern tropft, oder dass solche wundervollen Tiere wie Katzen oder Rinder überhaupt existieren, das sind Weisheiten, die man vielleicht wirklich erst lernt, wenn man die Tür hinter sich zugeschlagen hat und sich in einem entlegenen Landstrich in seiner Zelle vergräbt – oder aber wenn man sich einem Film wie DIE GROSSE STILLE hingibt, der in gewisser Weise genau den gegenteiligen Effekt von dem erzielt hat, den ich selbst während meines Ausflugs zu den Benediktinern am eigenen Leibe erfahren habe. Während ich dort nach kurzer Zeit wie benommen und betäubt umherwandelte, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, und völlig überfordert von den mir bis dahin weitgehend fremden Riten und Zeremonien, an denen ich partizipieren musste, hat DIE GROSSE STILLE mir meinen Blick eher geschärft, mich wachgerüttelt, mich Dinge erkennen lassen, die ich schon halb vergessen hatte. Manchmal braucht man offenbar jemanden, der nicht man selber ist, der aber eine Erfahrung mit einem teilt, die einer ähnlich ist, die man selbst gemacht hat, um diese besser begreifen zu können. Das wäre eine weitere Funktion, die Film, oder Kunst generell, zu erfüllen hätte, wenn man sie nur ließe.

Am Ende von DIE GROSSE STILLE öffnet ein einziger der Mönche, scheinbar der älteste, seit Jahren schon erblindet und sich tastend mit einem Stock vorwärtsbewegend, für einen verhältnismäßigen langen Monolog seinen Mund. Dieser Mann, dem Tod näher als dem Leben, erzählt, dass er keine Angst vorm Sterben habe: wovor soll er sich überhaupt fürchten, wenn er Gott auf seiner Seite weiß? Ein Satz, dessen Wirkung bei jedem Einzelnen wohl darauf ankommt, von welchem Standpunkt aus er diesen Film betrachtet, hat sich mir schon bei meiner ersten Sichtung ins Gedächtnis eingebrannt. Der Greis sagt, dass er Gott jeden einzelnen Tag dafür danke, dass er ihm das Augenlicht genommen habe – er sei überzeugt davon, dass jedes Leid, das einem Körper widerfahre, letztendlich dem Zweck diene, sein Seelenheil zu retten. Diese Aussage kann trösten, provozieren, zu Spott anstacheln – und Gröning lässt sie wie seine Bilder unkommentiert im Raum stehen, auf dass sie zum Prüfstein von jedem selbst werde. Am Ende der Vorführung letzten Montag hatte der Saal sich übrigens weitgehend geleert. Gerade fünf Menschlein sind, mich eingeschlossen, von den anfangs mindestens dreißig noch übriggeblieben. Und das lasse ich nun ebenfalls als unkommentierten Fakt im Raum stehen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Die große Stille - Philip Gröning (2005)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Raw Gritty Material!

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