Raw 2 - Das Tagebuch der Grete Müller - M Walz (2014)
Verfasst: Do 15. Jan 2015, 22:27
Originaltitel: Raw 2- Das Tagebuch der Grete Müller
Produktionsland: Deutschland 2014
Regie: Marcel Walz
Darsteller: Ivana Konovic, Annika Strauss, Jace Rashid, Arnim Barwich, Roland Freitag
Eine gewisse Tendenz im deutschen Gegenwartsfilm
Ausschließlich mit Handkameras filmen, deren Aufnahmen durchaus verwackelt sein dürfen. Ausschließlich 35-mm-Filmmaterial verwenden, um dem fertigen Film einen besonders amateurhaften Look zu verleihen. Keine externe Filmmusik, keine Spezialeffekte, keine Genre-Konventionen. In den 90ern konnte man Mainstream-Kinogänger mit solchen Postulaten noch scharenweise aus den Lichtspieltheatern treiben. Dogma 95 nennt sich das Manifest, in dem die oben skizzierten Regeln zur Produktion von Filmen neben vielen anderen zu finden sind, unterzeichnet von Lars von Trier, Thomas Vinterberg, Kristian Levring und Soren Kragh-Jacobsen als Kriegserklärung gegen ein Kino, das sich vor der Realität in ein bloßes Illusionstheater geflüchtet hat. Mit innovativen Low-Budget-Produktionen wie Vinterbergs FESTEN (1998) oder von Triers IDIOTERNE (1998) wählen die Dogma-Regisseure einen Mittelweg zwischen vollkommener Inszenierung und reiner Wirklichkeitsabbildung. Ein Film wie zum Beispiel FESTEN hat eine klar wiedergebbare Handlung mit eindeutigen Figuren, einem eindeutigen Anfang, einem eindeutigen Ende, zugleich wirkt aber so vieles an ihm improvisiert, aus dem Zufall heraus geboren, ohne weiterführende Reflexion in das vorgegebene Filmgerüst eingeschoben, dass es einem in seinen besten Momenten leichtfällt zu glauben, er bestehe wirklich einzig aus einigen mehr oder minder planlos mitgefilmten Fragmenten einer im Chaos ausartenden Familienfeier. Mit Sicherheit haben sich allerdings weder Vinterberg noch von Trier Ende der 90er träumen lassen, dass der von ihnen konzipierte spröde, ungeformte und unbehauene, sozusagen unmittelbarere Inszenierungsstil einmal in der gesellschaftlichen Mitte ankommen würde.
Genau das – oder zumindest etwas Ähnliches – scheint mir inzwischen allerdings geschehen zu sein. Schaut man in das Nachmittagsprogramm eines beliebigen deutschen Privatfernsehsenders könnte man meinen, gerade in die zugegebenermaßen wenig interessanten Probeaufnahmen zugegebenermaßen äußerst billigen und inspirationslosen Retro-Dogma-Produktionen geraten zu sein. Sendungen wie BERLIN - TAG & NACHT (RTL II) oder MITTEN IM LEBEN (RTL) erfüllen, ob nun bewusst oder unbewusst – wohl eher letzteres – nicht wenige der von den dänischen Filminnovatoren zum Manifest ausformulierten Richtlinien. Zur Verwendung kommen ausschließlich Laiendarsteller, die zumeist wirken, als hätten sie noch nie in ihren Leben einen auswendiggelernten Satz aufsagen müssen, die Kameraarbeit ist schmucklos, unprofessionell, die Qualität der Gesamtproduktion derart gering, dass sie im Grunde schon aus dem Raster des Messbaren fällt. In gewisser Weise unterbieten solche Pseudo-Dokus, oder scripted-reality-Formate, oder Pseudo-Doku-Soaps, oder Skript-Dokus, oder wie auch immer man umschreiben möchte, wozu einem eigentlich die Worte fehlen, das Dogma-Prinzip jedoch noch, indem sie ihm rauben, was an ihm noch Kunst, d.h. etwas mit der sogenannten Realität nicht Kongruentes, über sie Hinausführendes, sie gleichsam Transzendierendes, gewesen ist. Jeder, der, um noch einmal die beiden wohl berühmtesten Dogma-Filme zu nennen, FESTEN oder IDIOTERNE gesehen hat, wird mir zustimmen: beide Werke wirken ungemein authentisch, vermitteln einem das Gefühl, mitten im nicht selten unangenehmen Geschehen zu sein, und trotzdem sind sie beide genuin filmisch in dem Sinne, dass sie ihr Publikum weit über das hinausziehen, was allein in ihren Wackelkamerabildern steckt. Sie sind ästhetisch, emotional, narrativ ergreifend, und damit eben genau das, was die oben erwähnten Fernsehproduktionen offenbar gar nicht sein wollen. In einer allabendlich versendeten Serienchose wie BERLIN – TAG & NACHT ist jeglicher Funken von Kreativität, scheint es mir, gänzlich erstorben. Unsympathische Menschen tun belanglose Alltagsdinge vor Kameras, die nichts weiter sind als unbeteiligte Betrachter, deren Linsen in sterbenslangweiliger Kunstlosigkeit apathisch all den Banalitäten zusehen. Einmal mehr wird deutlich, dass man eine Sache, eine Theorie, eine Ideologie soweit ausreizen kann, dass sie sich am Ende in ihr Gegenteil verkehrt.
BERLIN – TAG & NACHT, mag man jetzt sagen, das ist nun aber glücklicherweise noch immer, solange jedenfalls niemand auf die Idee kommt, parallel zur Serie einen abendfüllenden Spielfilm zu drehen, zum späteren Wegwerfen bestimmte Fernsehunterhaltung, nach der in kurzer Zeit schon kein Hahn mehr krähen wird. Das stimmt, antworte ich, und muss mit einem Entsetzen, das mir noch immer in den Knochen steckt, davon erzählen, dass mir kürzlich zum ersten Mal ein Machwerk untergekommen ist, das qualitativ, inszenatorisch, ästhetisch rein gar nichts von einer beliebigen BERLIN – TAG & NACHT-Folge unterscheidet, bei dem es sich jedoch um einen offiziell auf DVD oder Blu-Ray vermarkteten Spielfilm – einen Genre-Film sogar – handelt. RAW 2 – DAS TAGEBUCH DER GRETE MÜLLER ist, wie der Titel schon andeutet, das Sequel zu einem Werk namens RAW – DER FLUCH DER GRETE MÜLLER, das vom gleichen Regisseur, Marcel Walz, ein Jahr zuvor auf die geplagte Menschheit losgelassen wurde. RAW 2 bildet gleichzeitig den logischen, wenn auch erschütternden, Schlusspunkt zu einer Entwicklung, die man durch das gesamte bisherige Oeuvre des Nürnberger Jungfilmers nachverfolgen kann.
Wie ich überhaupt ursprünglich auf Marcel Walz gestoßen bin, kann ich heute nicht mehr rekonstruieren. Noch weniger wird es mir gelingen, irgendwem plausibel zu erklären, weshalb ich mir in den letzten ein, zwei Jahren immer wieder Filme von ihm angeschaut habe. An ihrem Qualitätsgrad kann es nicht gelegen haben. Bisher konnte nämlich noch jeder der von mir gesehenen Walz-Spielfilme seinen Vorgänger an Grottigkeit spielerisch toppen, und kein einziger der Billigfilme mit wohlklingenden Titeln wie LA PETITE MORT (2009) oder AVANTGARDE (2010) hat mir mehr gegeben als die ratlose Frage, weshalb so etwas gedreht wird, und vor allem für wen. Völlig ohne Talent, völlig ohne Mühe heruntergekurbelter Hinterhof-torture-porn, gibt es dafür wirklich einen Markt, der solches Treiben besinnungslos abfeiert? Aber gut, wenigstens konnte man Werken wie PLASTIC (2012) oder SCHLARAFFENHAU (2011) noch bescheinigen, Spielfilme zu sein, mit mehr oder minder nachvollziehbaren Handlungsabläufen, mehr oder minder nachvollziehbaren Figuren und generell zumindest Grundkenntnissen darin, wie man eine Kamera hält, wie man mit ihr zoomt, wie man sie schwenkt. Dass man solche Selbstverständlichkeiten in einem kommerziellen Film des einundzwanzigsten Jahrhunderts überhaupt lobend hervorstreichen muss, lässt zwar schon tief blicken, dennoch: bis zu RAW ist Marcel Walz ein zwar außerordentlich schlechter Regisseur gewesen, aber trotzdem jemand, der guten Gewissens Regisseur, gar Autorenfilmer, genannt werden konnte. RAW war, wie ich es nun sehe, der erste Schritt hin zu einem Ansatz, der offensichtlich darauf abzielt, Drehbücher an sich zu verwerfen, die handelnden Figuren zu Staffagen mit Gesichtern zu degradieren und der Kamera nur noch ein Recht zuzugestehen: sie darf herumwackeln und soll dabei so viel verwischen und verwaschen, dass es dem Zuschauer schwerfällt, überhaupt zu erkennen, was sie da eigentlich verwischt und verwäscht. Im Modell des Cinema 2.0 hat Walz die allerletzten Zugeständnisse an ein klassisches Kino wie sie selbst den Dogmatikern von 1995 noch einigermaßen heilig gewesen sein dürften einer grundlegenden Elimination zum Opfer fallenlassen.
Schauen wir zunächst zurück, zu RAW Teil 1, den man unbedingt gesehen haben muss, um der komplexen Handlung von RAW dem Zweitem folgen zu können. Drei junge Damen, die genauso heißen wie ihre Filmcharaktere, nämlich Ivana, Leoni und Natascha, verschlägt es in die vermeintliche Finsternis und Tiefe des Deutsches Waldes. Ihr Ziel ist es, eine Dokumentation zu drehen, aber nicht etwa über den frisch ausgewilderten Luchs oder den seltenen Bienenesser, ein Vogel aus der Familie der Meropidae, etwas viel Handfesteres soll es sein. Das gewisse Etwas heißt Grete Müller und ist eine im 17.Jahrhundert als vermeintliche Hexe und Teufelsbuhlin dem Scheiterhaufen übergebene junge Frau, die seitdem in der Gegend um ihre Richtstätte, eine Burgruine, herumspuken soll. Es heißt, in ihrer Todesstunde sei sie schwanger gewesen, und der Vater ihres Ungeborenen der Leibhaftige höchstpersönlich. Von dem wiederum heißt es, einer seiner liebsten Tummelplätze sei der Wald um besagte Burgruine. Dass die oberhalb eines gut sichtbaren Städtchens liegt, hindert Walz nicht daran, so zu tun, als ob seine Heldinnen, um sie zu erreichen, stundenlang durch den tiefsten Fort wandern müssten, und dass der Grundkern seiner Geschichte, die einzig und allein aus diesem Grundkern besteht, denn der gesamte Restfilm kommt ohne Handlung im engeren und weiteren Sinne aus, eins zu eins aus THE BLAIR WITCH PROJEKT übernommen worden ist, stört ihn nicht, einfach nochmal exakt dieselbe Story abzuspulen, nur eben gefühlte zehntausendmal schlechter, billiger, inspirationsloser.
Allein die kurze Inhaltsangabe – und mehr passiert an reinem Plot in RAW tatsächlich nicht - verdeutlicht möglicherweise bereits, wie groß die Kluft ist, die zwischen einem ebenfalls kostengünstig hergestellten Independent-Film wie THE BLAIR WITCH PROJECT und einem eben nicht nur kosten-, sondern vor allem kreativitätsgünstig hergestellten Ärgernis wie RAW klafft. Daniel Myrick und Eduardo Sanchez, die beiden Verantwortlichen hinter dem Blair-Hexentanz, haben keine Mühen gescheut, ihr Filmprojekt zu etwas aufzubauschen, das weit über das knapp neunzigminütige Filmmaterial hinausreicht. Sie haben eine regelrechte, in sich geschlossene Mythologie erfunden, in die der Film wie ein einzelnes Mosaiksteinchen von vielen eingebettet wurde. Sie haben das Ende der 90er seinen Siegeszug antretende Internet zur raffinierten Vermarktung genutzt. Sie haben letztlich dadurch, dass sie, wie weiland Ruggero Deodato, behaupteten, keine Szene in THE BLAIR WITCH PROJECT sei nicht tatsächlich ein zufälliges Fundstück, das den realen Untergang eines von Hexen verfolgten Drehteams dokumentiere, dazu beigetragen, dass ihr Publikum den Film unter ganz anderen Gesichtspunkten betrachtete als beispielweise einen FESTEN oder IDIOTEREN. Letztere sind, trotz aller technischer Neuerungen, sprich: technischer Unzulänglichkeiten, klassifizierbar als Fiktionen, die aussehen wollen wie Realitäten, jedoch nie vorgeben, Realität zu sein. THE BLAIR WITCH PROJECT – und mit ihm so ziemlich jeder sogenannter found-footage-Genrebeitrag - tritt demgegenüber als Fiktion auf, die vorgibt, Realität zu sein. Mit Walzs RAW-Produktionen schließt sich der Kreis, oder beißt sich selbst in den Schwanz. Sie sehen aus wie Fiktionen, die vorgeben, Realitäten zu sein und wie Realitäten aussehen zu wollen. Letztlich tun sie das auch, aber die Realität, die sie abbilden ist nicht die Realität, die sie abbilden wollen, nämlich: eine Gruppe junger Leute verirrt sich im Wald und wird vom Teufel gehetzt und dezimiert. Ihre Realität ist von der ersten bis zur letzten Einstellung vielmehr folgende: wir versammeln uns im Wald, tun so, als hätten wir uns verirrt, und jeder take, und wenn er noch so schiefläuft, bleibt drin, denn das spart Zeit, Geld und Schweiß, und sowieso wollen wir doch nur unseren Spaß haben.
RAW 2 schlägt dem sowieso schon bodenlosen Fass deshalb noch mindestens zehn zusätzliche Böden aus, weil das nun der Punkt ist, an dem Marcel Walz anfängt, von einer vollkommen ironiebefreiten Meta-Ebene herab sein eigenes Filmschaffen Revue passieren zu lassen: Die teuflische Hetzjagd durch die Wälder hat Ivana als Einzige überlebt. Inzwischen ist etwas Zeit vergangen und das kommerzielle Ausschlachten funktioniert prächtig. Ivana hat nicht nur das von ihren Freundinnen und ihr selbst gedrehte Handkameramaterial erfolgreich vermarktet – so darf sie in einer der ersten Szenen des Films stolz eine DVD von RAW 1 in die Kamera halten -, sondern kann es kaum abwarten, ein eigenes Filmprojekt zum Thema Grete Müller ins Leben zu rufen. Hierfür hat sie vorsorglich erst einmal ihre gesamte Wohnung mit unzähligen Kameras gespickt. In nahezu jedem Zimmerwinkel sitzt eine solche, damit kein Millimeter des Lofts unbeobachtet bleibt. Wozu das Ganze, da Ivana in ihrer Wohnung im Folgenden nicht viel weiter tut als Telefonate und Selbstmonologe zu führen, diese Erklärung bleibt die angehende found-footagerin uns schuldig. Jedoch behält ihr Instinkt recht, denn tatsächlich passiert, kaum hat sie die Totalüberwachung ihres Appartements in die Wege geleitet, zweierlei.
Zum einen bekommt sie einen Anruf von einem Jungfilmer. Er habe das Material aus RAW 1 gesehen, sei begeistert davon und wolle nun selbst ein Expeditionsteam zusammenstellen, das in die verfluchten Teufelswälder aufbricht, um dem Geheimnis der Grete auf die Spur zu kommen. Ob Ivana nicht bereit sei, ihn dabei zu unterstützen. Zwar ziert die Gute sich zunächst ein bisschen, als der Regisseur, dessen überzogen-freundliche Art mich unglaublich provoziert hat, dann aber für ein paar Minuten bei ihr vorbeischaut und sie mit ein paar oberflächlichen Phrasen bewirft, stimmt sie sofort zu, noch einmal die gesamte Tortur aus Teil 1 über sich ergehen zu lassen. Eine zweite Person, die in Ivanas Leben tritt, ist Annika Strauss, die sich in RAW 2 quasi selbst spielt. Im echten Leben ist Annika Strauss Schauspielerin und hat in wegweisenden deutschen Amateurproduktionen wie LA PETIT MORT (Regie: Marcel Walz) oder SCHLARAFFENHAUS (Regie: Marcel Walz) mitgewirkt. In RAW 2 erhebt sie schwere Vorwürfe gegen Ivana, Leoni und Natascha. Deren RAW 1 sei purer Fake, die Hexe ein Märchen, und der ganze Trug nur ausgesonnen, um arglosen DVD-Käufern Geld aus der Tasche zu ziehen. Wie sie darauf komme? Eine kurze Passage in RAW 1 sei gar nicht von Ivana, Leoni und Natascha gedreht worden, sondern von ihr selbst. Sie stamme aus einem Werbevideo für die Schauspielschule, für das Annika das Schreien und Rennen im dunklen Wald geübt habe.
Das alles hört sich nun möglicherweise äußerst durchdacht, selbstreflexiv und postmodern an, in Wirklichkeit verkommen solche vielleicht gar nicht mal verkehrten Ideen in RAW 2 zu schrecklich plumpem Anpumpen der Merchandise-Mühle. In einer Szene, nachdem Annika Strauss ebenfalls in das Team des scheißhöflichen Jungfilmers aufgenommen worden und man zu den Burgruinen aufgebrochen ist, diskutiert der Regisseur mit seinem Kameramann darüber, aus welchen Filmen er Annika Strauss bloß kenne. Das gibt Walz Gelegenheit, seine Figuren einfach mal ein paar Titel der eigenen Filmographie aufzählen zu lassen: verkaufs-trächtiges name-dropping par excellene. Na gut, könnte man sagen, wenigstens ist er ehrlich. Es geht hier nicht um große Kunst, nicht darum, kreativ zu sein, nicht darum, Herzblut in irgendetwas zu stecken. Na gut, werde ich sagen, aber nur weil jemand ehrlich zu mir ist, heißt das nicht, dass er mir die Wahrheit sagt. Tatsächlich ist RAW 2 ein verlogener Film wie ich schon lange keinen mehr gesehen habe.
Bemerkenswert immerhin: Walz recycelt unverblümt seine eigenen Verlogenheiten. Die Burgruine, noch immer oberhalb des kleinen Städtchens gelegen, das keine fünf Kilometer entfernt sein kann, die zweihundertprozentig schlecht improvisierten Dialoge völlig ohne Witz oder Poesie, vor allem die Handkamera, die höchstens dazugelernt hat, wie man die Bilder noch mehr verwackeln kann: all das, was man in RAW 1 kennen und schätzen gelernt hat, wärmt Walz für die zweite Runde nicht etwa noch einmal auf, sondern präsentiert sie eiskalt, ohne mit der Wimper zu zucken. Sobald die Nacht hereinbricht, die ersten Teammitglieder verschwunden sind, durchleiden Ivana, Annika und der Zuschauer noch einmal genau das, worin schon RAW 1 gegipfelt hat. Erneut muss ich fragen: findet das wirklich irgendjemand interessant, wenn miese Darsteller eine knappe halbe Stunde völlig ziellos durch einen heimischen Forst stapfen, schleichen oder sprinten, dabei schreien, seufzen, stöhnen, und ihre Handkameras nichts einfangen außer Schatten, Baumstämme, Schatten, noch mehr Schatten, Baumstämme, Baumkronen, und vielleicht den einen oder anderen Schatten? Wenn wenigstens ein Hauch von Atmosphäre vorhanden wäre, wie beispielweise in THE BLAIR WITCH PROJECT, den ich nach wie vor ziemlich schaurig finde und sofort als lobenswertes Beispiel für einen Film anführen würde, der mit einem Minimum an Moneten ein Maximum an Gänsehaut zustande bringt, könnte man den inhaltlichen Leerlauf mit Sicherheit besser ertragen. In der vorliegenden Form kommt RAW 2 jedoch nie darüber hinaus, dass eine kreischende oder keuchende Person mit zittriger Hand Bäume im Halb- oder Vollschatten filmt. Eine Sonderfolge von BERLIN – TAG & NACHT, in der die Protagonisten eine Nacht im Wald verbringen und allerlei gruselige Abenteuer erleben, könnte, glaube ich, nicht unterhaltsamer sein.
Nein, ich bin wahrlich der Letzte, der Filme deshalb abkanzelt, weil sie mit primitiven Mitteln gedreht worden sind. Doch jeder vergessene Stummfilm aus exotischen Ländern wie Brasilien oder Aserbaidschan, jedes Frühwerk Philippe Garrels, jeder Joe-D’Amato-Porno, jede stundenlange Stativaufnahme Andy Warhols, in der man Menschen beim Küssen, Essen oder Schlafen sieht, besitzt mehr Magie als Walzens zielloses Kamerawackeln in finsterster Nacht. Das Problem ist nicht das fehlende Budget, sondern das fehlende Talent bzw. der fehlende Willen, mehr als nur das Notwendigste zu bewerkstelligen. Das eint Walzens Werke dann wiederum mit Serienabfall wie BERLIN – TAG & NACHT. Wozu, fragen sich die rein aus pekuniären Motiven handelnden TV-Produzenten völlig zurecht, sollen wir ein paar Tausender in ein Produkt stecken, wo doch ein paar Hunderter reichen, um die gleiche Gewinnspanne zu erzielen? Dass Walz ähnlich denkt, mag man ihm im Angesicht der freien Marktwirtschaft nicht verübeln, was ich indes nicht verstehe, ist, wie vollkommen gleichgültig es ihm und seinem Team zu sein scheint, auf welchem Niveau ihr Endprodukt siedelt. RAW 2 ist kein Spielfilm, kein Experimentalfilm, kein Dokumentarfilm. Ist es überhaupt ein Film? RAW 2, das sind ein paar junge Leute, die sich dabei filmen wie sie nachts im Wald herumschreien.
Aber man kann die Mäuse so lange melken bis ihre Zitzen wund sind. Dafür spricht die Ankündigung am Ende von RAW 2 bereits Bände. Ein dritter Teil, heißt es dort, wird bald folgen, und in diesem dann endlich alle Geheimnisse um Grete aufgeklärt werden. Was sich wie eine Drohung anhört, ist purer Ernst, genauso frei von Selbstironie – oder Ironie im Allgemeinen – wie Walz-Produktionen an sich. Die Frage bleibt: wird RAW 3 dann, um noch mehr einsparen zu können, mit der Handykamera gedreht?
Dennoch möchte ich nicht abstreiten, dass diese von mir als bedenklich betrachtete Entwicklung nicht etwas Positives haben kann. Immerhin zeigt einem ein Film wie RAW 2 nämlich, wie einfach es mittlerweile geworden ist, das, was man verurteilt, selbst besser zu machen. Ein paar Freunde im Wald versammeln, ein, zwei semi-professionelle Kameras, ein Wochenende zur freien Verfügung. Ich bin mir sicher, dass jedem, in dessen Herz sich ein noch so kleiner Cineast versteckt, mit diesen Produktionsparamatern etwas gelingen dürfte, dass Walzens Hexenschmarrn mit Abstand in die Schatten stellen wird, in die er hingehört. Die grenzenlose Unfähigkeit der Verantwortlichen von Machwerken wie RAW 1 und 2 wirkt auf mich wie eine Aufgabe, die es zu bewältigen gilt. Wäre nur zu hoffen, dass der Großteil seiner Zuschauerschaft, wie ich fast fürchte, von RAW 2 nicht in seinen Fernsehsesseln festgebannt, sondern dazu animiert wird, tatsächlich selbst aktiv zu werden und seinen, wenn auch noch so kleinen, Teil dazu beizutragen, dass RAW 15 nicht im Jahre 2040 die Goldene Palme von Cannes überreicht bekommt.
Übrigens: falls sich jemand gefragt haben sollte, weshalb die beiden Filme eigentlich RAW heißen… ich weiß es nicht, irgendwie kommt es mir aber so vor, als habe das irgendwas mit dem englischen Wort für Säge zu tun, ich kann mir nicht helfen.
Genau das – oder zumindest etwas Ähnliches – scheint mir inzwischen allerdings geschehen zu sein. Schaut man in das Nachmittagsprogramm eines beliebigen deutschen Privatfernsehsenders könnte man meinen, gerade in die zugegebenermaßen wenig interessanten Probeaufnahmen zugegebenermaßen äußerst billigen und inspirationslosen Retro-Dogma-Produktionen geraten zu sein. Sendungen wie BERLIN - TAG & NACHT (RTL II) oder MITTEN IM LEBEN (RTL) erfüllen, ob nun bewusst oder unbewusst – wohl eher letzteres – nicht wenige der von den dänischen Filminnovatoren zum Manifest ausformulierten Richtlinien. Zur Verwendung kommen ausschließlich Laiendarsteller, die zumeist wirken, als hätten sie noch nie in ihren Leben einen auswendiggelernten Satz aufsagen müssen, die Kameraarbeit ist schmucklos, unprofessionell, die Qualität der Gesamtproduktion derart gering, dass sie im Grunde schon aus dem Raster des Messbaren fällt. In gewisser Weise unterbieten solche Pseudo-Dokus, oder scripted-reality-Formate, oder Pseudo-Doku-Soaps, oder Skript-Dokus, oder wie auch immer man umschreiben möchte, wozu einem eigentlich die Worte fehlen, das Dogma-Prinzip jedoch noch, indem sie ihm rauben, was an ihm noch Kunst, d.h. etwas mit der sogenannten Realität nicht Kongruentes, über sie Hinausführendes, sie gleichsam Transzendierendes, gewesen ist. Jeder, der, um noch einmal die beiden wohl berühmtesten Dogma-Filme zu nennen, FESTEN oder IDIOTERNE gesehen hat, wird mir zustimmen: beide Werke wirken ungemein authentisch, vermitteln einem das Gefühl, mitten im nicht selten unangenehmen Geschehen zu sein, und trotzdem sind sie beide genuin filmisch in dem Sinne, dass sie ihr Publikum weit über das hinausziehen, was allein in ihren Wackelkamerabildern steckt. Sie sind ästhetisch, emotional, narrativ ergreifend, und damit eben genau das, was die oben erwähnten Fernsehproduktionen offenbar gar nicht sein wollen. In einer allabendlich versendeten Serienchose wie BERLIN – TAG & NACHT ist jeglicher Funken von Kreativität, scheint es mir, gänzlich erstorben. Unsympathische Menschen tun belanglose Alltagsdinge vor Kameras, die nichts weiter sind als unbeteiligte Betrachter, deren Linsen in sterbenslangweiliger Kunstlosigkeit apathisch all den Banalitäten zusehen. Einmal mehr wird deutlich, dass man eine Sache, eine Theorie, eine Ideologie soweit ausreizen kann, dass sie sich am Ende in ihr Gegenteil verkehrt.
BERLIN – TAG & NACHT, mag man jetzt sagen, das ist nun aber glücklicherweise noch immer, solange jedenfalls niemand auf die Idee kommt, parallel zur Serie einen abendfüllenden Spielfilm zu drehen, zum späteren Wegwerfen bestimmte Fernsehunterhaltung, nach der in kurzer Zeit schon kein Hahn mehr krähen wird. Das stimmt, antworte ich, und muss mit einem Entsetzen, das mir noch immer in den Knochen steckt, davon erzählen, dass mir kürzlich zum ersten Mal ein Machwerk untergekommen ist, das qualitativ, inszenatorisch, ästhetisch rein gar nichts von einer beliebigen BERLIN – TAG & NACHT-Folge unterscheidet, bei dem es sich jedoch um einen offiziell auf DVD oder Blu-Ray vermarkteten Spielfilm – einen Genre-Film sogar – handelt. RAW 2 – DAS TAGEBUCH DER GRETE MÜLLER ist, wie der Titel schon andeutet, das Sequel zu einem Werk namens RAW – DER FLUCH DER GRETE MÜLLER, das vom gleichen Regisseur, Marcel Walz, ein Jahr zuvor auf die geplagte Menschheit losgelassen wurde. RAW 2 bildet gleichzeitig den logischen, wenn auch erschütternden, Schlusspunkt zu einer Entwicklung, die man durch das gesamte bisherige Oeuvre des Nürnberger Jungfilmers nachverfolgen kann.
Wie ich überhaupt ursprünglich auf Marcel Walz gestoßen bin, kann ich heute nicht mehr rekonstruieren. Noch weniger wird es mir gelingen, irgendwem plausibel zu erklären, weshalb ich mir in den letzten ein, zwei Jahren immer wieder Filme von ihm angeschaut habe. An ihrem Qualitätsgrad kann es nicht gelegen haben. Bisher konnte nämlich noch jeder der von mir gesehenen Walz-Spielfilme seinen Vorgänger an Grottigkeit spielerisch toppen, und kein einziger der Billigfilme mit wohlklingenden Titeln wie LA PETITE MORT (2009) oder AVANTGARDE (2010) hat mir mehr gegeben als die ratlose Frage, weshalb so etwas gedreht wird, und vor allem für wen. Völlig ohne Talent, völlig ohne Mühe heruntergekurbelter Hinterhof-torture-porn, gibt es dafür wirklich einen Markt, der solches Treiben besinnungslos abfeiert? Aber gut, wenigstens konnte man Werken wie PLASTIC (2012) oder SCHLARAFFENHAU (2011) noch bescheinigen, Spielfilme zu sein, mit mehr oder minder nachvollziehbaren Handlungsabläufen, mehr oder minder nachvollziehbaren Figuren und generell zumindest Grundkenntnissen darin, wie man eine Kamera hält, wie man mit ihr zoomt, wie man sie schwenkt. Dass man solche Selbstverständlichkeiten in einem kommerziellen Film des einundzwanzigsten Jahrhunderts überhaupt lobend hervorstreichen muss, lässt zwar schon tief blicken, dennoch: bis zu RAW ist Marcel Walz ein zwar außerordentlich schlechter Regisseur gewesen, aber trotzdem jemand, der guten Gewissens Regisseur, gar Autorenfilmer, genannt werden konnte. RAW war, wie ich es nun sehe, der erste Schritt hin zu einem Ansatz, der offensichtlich darauf abzielt, Drehbücher an sich zu verwerfen, die handelnden Figuren zu Staffagen mit Gesichtern zu degradieren und der Kamera nur noch ein Recht zuzugestehen: sie darf herumwackeln und soll dabei so viel verwischen und verwaschen, dass es dem Zuschauer schwerfällt, überhaupt zu erkennen, was sie da eigentlich verwischt und verwäscht. Im Modell des Cinema 2.0 hat Walz die allerletzten Zugeständnisse an ein klassisches Kino wie sie selbst den Dogmatikern von 1995 noch einigermaßen heilig gewesen sein dürften einer grundlegenden Elimination zum Opfer fallenlassen.
Schauen wir zunächst zurück, zu RAW Teil 1, den man unbedingt gesehen haben muss, um der komplexen Handlung von RAW dem Zweitem folgen zu können. Drei junge Damen, die genauso heißen wie ihre Filmcharaktere, nämlich Ivana, Leoni und Natascha, verschlägt es in die vermeintliche Finsternis und Tiefe des Deutsches Waldes. Ihr Ziel ist es, eine Dokumentation zu drehen, aber nicht etwa über den frisch ausgewilderten Luchs oder den seltenen Bienenesser, ein Vogel aus der Familie der Meropidae, etwas viel Handfesteres soll es sein. Das gewisse Etwas heißt Grete Müller und ist eine im 17.Jahrhundert als vermeintliche Hexe und Teufelsbuhlin dem Scheiterhaufen übergebene junge Frau, die seitdem in der Gegend um ihre Richtstätte, eine Burgruine, herumspuken soll. Es heißt, in ihrer Todesstunde sei sie schwanger gewesen, und der Vater ihres Ungeborenen der Leibhaftige höchstpersönlich. Von dem wiederum heißt es, einer seiner liebsten Tummelplätze sei der Wald um besagte Burgruine. Dass die oberhalb eines gut sichtbaren Städtchens liegt, hindert Walz nicht daran, so zu tun, als ob seine Heldinnen, um sie zu erreichen, stundenlang durch den tiefsten Fort wandern müssten, und dass der Grundkern seiner Geschichte, die einzig und allein aus diesem Grundkern besteht, denn der gesamte Restfilm kommt ohne Handlung im engeren und weiteren Sinne aus, eins zu eins aus THE BLAIR WITCH PROJEKT übernommen worden ist, stört ihn nicht, einfach nochmal exakt dieselbe Story abzuspulen, nur eben gefühlte zehntausendmal schlechter, billiger, inspirationsloser.
Allein die kurze Inhaltsangabe – und mehr passiert an reinem Plot in RAW tatsächlich nicht - verdeutlicht möglicherweise bereits, wie groß die Kluft ist, die zwischen einem ebenfalls kostengünstig hergestellten Independent-Film wie THE BLAIR WITCH PROJECT und einem eben nicht nur kosten-, sondern vor allem kreativitätsgünstig hergestellten Ärgernis wie RAW klafft. Daniel Myrick und Eduardo Sanchez, die beiden Verantwortlichen hinter dem Blair-Hexentanz, haben keine Mühen gescheut, ihr Filmprojekt zu etwas aufzubauschen, das weit über das knapp neunzigminütige Filmmaterial hinausreicht. Sie haben eine regelrechte, in sich geschlossene Mythologie erfunden, in die der Film wie ein einzelnes Mosaiksteinchen von vielen eingebettet wurde. Sie haben das Ende der 90er seinen Siegeszug antretende Internet zur raffinierten Vermarktung genutzt. Sie haben letztlich dadurch, dass sie, wie weiland Ruggero Deodato, behaupteten, keine Szene in THE BLAIR WITCH PROJECT sei nicht tatsächlich ein zufälliges Fundstück, das den realen Untergang eines von Hexen verfolgten Drehteams dokumentiere, dazu beigetragen, dass ihr Publikum den Film unter ganz anderen Gesichtspunkten betrachtete als beispielweise einen FESTEN oder IDIOTEREN. Letztere sind, trotz aller technischer Neuerungen, sprich: technischer Unzulänglichkeiten, klassifizierbar als Fiktionen, die aussehen wollen wie Realitäten, jedoch nie vorgeben, Realität zu sein. THE BLAIR WITCH PROJECT – und mit ihm so ziemlich jeder sogenannter found-footage-Genrebeitrag - tritt demgegenüber als Fiktion auf, die vorgibt, Realität zu sein. Mit Walzs RAW-Produktionen schließt sich der Kreis, oder beißt sich selbst in den Schwanz. Sie sehen aus wie Fiktionen, die vorgeben, Realitäten zu sein und wie Realitäten aussehen zu wollen. Letztlich tun sie das auch, aber die Realität, die sie abbilden ist nicht die Realität, die sie abbilden wollen, nämlich: eine Gruppe junger Leute verirrt sich im Wald und wird vom Teufel gehetzt und dezimiert. Ihre Realität ist von der ersten bis zur letzten Einstellung vielmehr folgende: wir versammeln uns im Wald, tun so, als hätten wir uns verirrt, und jeder take, und wenn er noch so schiefläuft, bleibt drin, denn das spart Zeit, Geld und Schweiß, und sowieso wollen wir doch nur unseren Spaß haben.
RAW 2 schlägt dem sowieso schon bodenlosen Fass deshalb noch mindestens zehn zusätzliche Böden aus, weil das nun der Punkt ist, an dem Marcel Walz anfängt, von einer vollkommen ironiebefreiten Meta-Ebene herab sein eigenes Filmschaffen Revue passieren zu lassen: Die teuflische Hetzjagd durch die Wälder hat Ivana als Einzige überlebt. Inzwischen ist etwas Zeit vergangen und das kommerzielle Ausschlachten funktioniert prächtig. Ivana hat nicht nur das von ihren Freundinnen und ihr selbst gedrehte Handkameramaterial erfolgreich vermarktet – so darf sie in einer der ersten Szenen des Films stolz eine DVD von RAW 1 in die Kamera halten -, sondern kann es kaum abwarten, ein eigenes Filmprojekt zum Thema Grete Müller ins Leben zu rufen. Hierfür hat sie vorsorglich erst einmal ihre gesamte Wohnung mit unzähligen Kameras gespickt. In nahezu jedem Zimmerwinkel sitzt eine solche, damit kein Millimeter des Lofts unbeobachtet bleibt. Wozu das Ganze, da Ivana in ihrer Wohnung im Folgenden nicht viel weiter tut als Telefonate und Selbstmonologe zu führen, diese Erklärung bleibt die angehende found-footagerin uns schuldig. Jedoch behält ihr Instinkt recht, denn tatsächlich passiert, kaum hat sie die Totalüberwachung ihres Appartements in die Wege geleitet, zweierlei.
Zum einen bekommt sie einen Anruf von einem Jungfilmer. Er habe das Material aus RAW 1 gesehen, sei begeistert davon und wolle nun selbst ein Expeditionsteam zusammenstellen, das in die verfluchten Teufelswälder aufbricht, um dem Geheimnis der Grete auf die Spur zu kommen. Ob Ivana nicht bereit sei, ihn dabei zu unterstützen. Zwar ziert die Gute sich zunächst ein bisschen, als der Regisseur, dessen überzogen-freundliche Art mich unglaublich provoziert hat, dann aber für ein paar Minuten bei ihr vorbeischaut und sie mit ein paar oberflächlichen Phrasen bewirft, stimmt sie sofort zu, noch einmal die gesamte Tortur aus Teil 1 über sich ergehen zu lassen. Eine zweite Person, die in Ivanas Leben tritt, ist Annika Strauss, die sich in RAW 2 quasi selbst spielt. Im echten Leben ist Annika Strauss Schauspielerin und hat in wegweisenden deutschen Amateurproduktionen wie LA PETIT MORT (Regie: Marcel Walz) oder SCHLARAFFENHAUS (Regie: Marcel Walz) mitgewirkt. In RAW 2 erhebt sie schwere Vorwürfe gegen Ivana, Leoni und Natascha. Deren RAW 1 sei purer Fake, die Hexe ein Märchen, und der ganze Trug nur ausgesonnen, um arglosen DVD-Käufern Geld aus der Tasche zu ziehen. Wie sie darauf komme? Eine kurze Passage in RAW 1 sei gar nicht von Ivana, Leoni und Natascha gedreht worden, sondern von ihr selbst. Sie stamme aus einem Werbevideo für die Schauspielschule, für das Annika das Schreien und Rennen im dunklen Wald geübt habe.
Das alles hört sich nun möglicherweise äußerst durchdacht, selbstreflexiv und postmodern an, in Wirklichkeit verkommen solche vielleicht gar nicht mal verkehrten Ideen in RAW 2 zu schrecklich plumpem Anpumpen der Merchandise-Mühle. In einer Szene, nachdem Annika Strauss ebenfalls in das Team des scheißhöflichen Jungfilmers aufgenommen worden und man zu den Burgruinen aufgebrochen ist, diskutiert der Regisseur mit seinem Kameramann darüber, aus welchen Filmen er Annika Strauss bloß kenne. Das gibt Walz Gelegenheit, seine Figuren einfach mal ein paar Titel der eigenen Filmographie aufzählen zu lassen: verkaufs-trächtiges name-dropping par excellene. Na gut, könnte man sagen, wenigstens ist er ehrlich. Es geht hier nicht um große Kunst, nicht darum, kreativ zu sein, nicht darum, Herzblut in irgendetwas zu stecken. Na gut, werde ich sagen, aber nur weil jemand ehrlich zu mir ist, heißt das nicht, dass er mir die Wahrheit sagt. Tatsächlich ist RAW 2 ein verlogener Film wie ich schon lange keinen mehr gesehen habe.
Bemerkenswert immerhin: Walz recycelt unverblümt seine eigenen Verlogenheiten. Die Burgruine, noch immer oberhalb des kleinen Städtchens gelegen, das keine fünf Kilometer entfernt sein kann, die zweihundertprozentig schlecht improvisierten Dialoge völlig ohne Witz oder Poesie, vor allem die Handkamera, die höchstens dazugelernt hat, wie man die Bilder noch mehr verwackeln kann: all das, was man in RAW 1 kennen und schätzen gelernt hat, wärmt Walz für die zweite Runde nicht etwa noch einmal auf, sondern präsentiert sie eiskalt, ohne mit der Wimper zu zucken. Sobald die Nacht hereinbricht, die ersten Teammitglieder verschwunden sind, durchleiden Ivana, Annika und der Zuschauer noch einmal genau das, worin schon RAW 1 gegipfelt hat. Erneut muss ich fragen: findet das wirklich irgendjemand interessant, wenn miese Darsteller eine knappe halbe Stunde völlig ziellos durch einen heimischen Forst stapfen, schleichen oder sprinten, dabei schreien, seufzen, stöhnen, und ihre Handkameras nichts einfangen außer Schatten, Baumstämme, Schatten, noch mehr Schatten, Baumstämme, Baumkronen, und vielleicht den einen oder anderen Schatten? Wenn wenigstens ein Hauch von Atmosphäre vorhanden wäre, wie beispielweise in THE BLAIR WITCH PROJECT, den ich nach wie vor ziemlich schaurig finde und sofort als lobenswertes Beispiel für einen Film anführen würde, der mit einem Minimum an Moneten ein Maximum an Gänsehaut zustande bringt, könnte man den inhaltlichen Leerlauf mit Sicherheit besser ertragen. In der vorliegenden Form kommt RAW 2 jedoch nie darüber hinaus, dass eine kreischende oder keuchende Person mit zittriger Hand Bäume im Halb- oder Vollschatten filmt. Eine Sonderfolge von BERLIN – TAG & NACHT, in der die Protagonisten eine Nacht im Wald verbringen und allerlei gruselige Abenteuer erleben, könnte, glaube ich, nicht unterhaltsamer sein.
Nein, ich bin wahrlich der Letzte, der Filme deshalb abkanzelt, weil sie mit primitiven Mitteln gedreht worden sind. Doch jeder vergessene Stummfilm aus exotischen Ländern wie Brasilien oder Aserbaidschan, jedes Frühwerk Philippe Garrels, jeder Joe-D’Amato-Porno, jede stundenlange Stativaufnahme Andy Warhols, in der man Menschen beim Küssen, Essen oder Schlafen sieht, besitzt mehr Magie als Walzens zielloses Kamerawackeln in finsterster Nacht. Das Problem ist nicht das fehlende Budget, sondern das fehlende Talent bzw. der fehlende Willen, mehr als nur das Notwendigste zu bewerkstelligen. Das eint Walzens Werke dann wiederum mit Serienabfall wie BERLIN – TAG & NACHT. Wozu, fragen sich die rein aus pekuniären Motiven handelnden TV-Produzenten völlig zurecht, sollen wir ein paar Tausender in ein Produkt stecken, wo doch ein paar Hunderter reichen, um die gleiche Gewinnspanne zu erzielen? Dass Walz ähnlich denkt, mag man ihm im Angesicht der freien Marktwirtschaft nicht verübeln, was ich indes nicht verstehe, ist, wie vollkommen gleichgültig es ihm und seinem Team zu sein scheint, auf welchem Niveau ihr Endprodukt siedelt. RAW 2 ist kein Spielfilm, kein Experimentalfilm, kein Dokumentarfilm. Ist es überhaupt ein Film? RAW 2, das sind ein paar junge Leute, die sich dabei filmen wie sie nachts im Wald herumschreien.
Aber man kann die Mäuse so lange melken bis ihre Zitzen wund sind. Dafür spricht die Ankündigung am Ende von RAW 2 bereits Bände. Ein dritter Teil, heißt es dort, wird bald folgen, und in diesem dann endlich alle Geheimnisse um Grete aufgeklärt werden. Was sich wie eine Drohung anhört, ist purer Ernst, genauso frei von Selbstironie – oder Ironie im Allgemeinen – wie Walz-Produktionen an sich. Die Frage bleibt: wird RAW 3 dann, um noch mehr einsparen zu können, mit der Handykamera gedreht?
Dennoch möchte ich nicht abstreiten, dass diese von mir als bedenklich betrachtete Entwicklung nicht etwas Positives haben kann. Immerhin zeigt einem ein Film wie RAW 2 nämlich, wie einfach es mittlerweile geworden ist, das, was man verurteilt, selbst besser zu machen. Ein paar Freunde im Wald versammeln, ein, zwei semi-professionelle Kameras, ein Wochenende zur freien Verfügung. Ich bin mir sicher, dass jedem, in dessen Herz sich ein noch so kleiner Cineast versteckt, mit diesen Produktionsparamatern etwas gelingen dürfte, dass Walzens Hexenschmarrn mit Abstand in die Schatten stellen wird, in die er hingehört. Die grenzenlose Unfähigkeit der Verantwortlichen von Machwerken wie RAW 1 und 2 wirkt auf mich wie eine Aufgabe, die es zu bewältigen gilt. Wäre nur zu hoffen, dass der Großteil seiner Zuschauerschaft, wie ich fast fürchte, von RAW 2 nicht in seinen Fernsehsesseln festgebannt, sondern dazu animiert wird, tatsächlich selbst aktiv zu werden und seinen, wenn auch noch so kleinen, Teil dazu beizutragen, dass RAW 15 nicht im Jahre 2040 die Goldene Palme von Cannes überreicht bekommt.
Übrigens: falls sich jemand gefragt haben sollte, weshalb die beiden Filme eigentlich RAW heißen… ich weiß es nicht, irgendwie kommt es mir aber so vor, als habe das irgendwas mit dem englischen Wort für Säge zu tun, ich kann mir nicht helfen.