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Klass - Ilmar Raag

Verfasst: Di 8. Jun 2010, 14:52
von horror1966
Bild




Klass
(Klass)
mit Vallo Kirs, Part Uusberg, Lauri Pedaja, Paula Solvak, Mikk Mägi, Riina Ries, Joonas Paas, Kadi Metsla, Triin Tenso, Virgo Ernits, Karl Sakrits, Liina Joonas, Saara Kadak, Kaspar Kannelmäe, Britta Kikas
Regie: Ilmar Raag
Drehbuch: Ilmar Raag
Kamera: Kristjan-Jaak Nuudi
Musik: Martin Kallasvee / Paul Oja / Timo Steiner
FSK 16
Estland / 2007

Wegschauen oder eingreifen? Mitmachen oder sich in den Weg stellen? Auch wenn das eigene Leben in Gefahr gerät? Joosep ist der Prügelknabe der Klasse. Auch für Kasper. Doch eines Tages kommt Kasper seinem Klassenkameraden zu Hilfe und gerät damit ebenfalls in die Schusslinie. Ein System von Demütigungen und Gewalt wird in Gang gesetzt. Schließlich sehen die beiden Jungen nur noch einen Ausweg. KLASS erzählt in dokumentarisch anmutenden Bildern die ebenso beunruhigende, wie erschütternde Vorgeschichte eines Amoklaufs, bei der die Grenzen zwischen Opfern und Tätern fließend sind.


Die Chronik eines Amoklaufs


Wie oft ist man in den letzten Jahren mit Amokläufen an Schulen konfrontiert worden, so das schon teilweise der Eindruck entstanden ist, das es sich um eine Art neuen Volkssport handelt? Und immer wieder trauert man um die Opfer, die aus scheinbar nicht nachzuvollziehenden Gründen ihr junges Leben lassen mussten. Die Täter hält man für psychisch krank und sieht in ihnen zumeist seelenlose Monster, die sich anscheinend einen Spaß daraus machen, ihre Mitschüler scheinbar mutillig und vollkommen willkürlich zu töten. Das eine solche Tat aber auch aus vollkommen anderen Beweggründen geschehen kann, zeigt dieser estnische Beitrag auf sehr schockierende, aber auch äusserst eindrucksvolle Art und Weise. Bei "Klass" bekommt es der Zuschauer mit einem Jugenddrama zu tun, das schonungslos das perfide System des Schulmobbings durchleuchtet und dabei eine so ungeheure Intensität entwickelt, das einem die Haare zu Berge stehen. Wenn man diesen Film gesehen hat, gibt es zwar immer noch keinen Grund, die Taten eines Amokläufers zu rechtfertigen, aber man ist doch dazu in der Lage, eine gewisse Art von Verständniss dafür aufzubringen, ohne jedoch die Taten gutzuheissen.

Im Vordergrund der Geschichte steht nicht die Tat an sich, sondern vielmehr eine Chronik der Geschehnisse, die zu ihr geführt haben. Regisseur Ilmar Raag erzählt diese Chronik, die lediglich 7 Tage dauert, in einer schockierenden, gleichzeitig aber auch absolut faszinierenden Art, die einem phasenweise kalte Schauer über den Rücken jagt. Das ist ganz sicher auch in der extrem realistischen und authentischen Szenerie begründet, die sich dem Zuschauer offenbart, denn nicht selten entsteht der Eindruck, das man sich vielmehr in einem wirklich geschehenden Szenario befindet, als das man einen Spielfilm schaut. Das Geschehen fesselt einen auf seine ganz eigene Art, wirkt aber gleichzeitig auch abstossend und vollkommen schockierend. Man fühlt sich nicht selten einer Ohnmacht nahe, denn möchte man doch einerseits den beiden Mobbingopfern Jossep und Kaspar zur Hilfe eilen und sich mit ihnen zusammen gegen den restlichen Klassenverbund entgegenstemmen, der unter dem Befehl des Anführers Anders steht, muss aber andererseits die Hilflosigkeit akzeptieren, zu der man als Zuschauer verdammt ist.

Und gerade dieses ohnmächtige Gefühl der Hilflosigkeit ist es, das sich durch den gesamten Film zieht und eine unbändige Wut in einem selbst aufsteigen lässt. Das geschieht aber keineswegs nur deshalb, weil man selbst zur Untätigkeit verdammt ist, sondern auch deshalb, weil hier wirklich alle Personen wegsehen, oder genau die falschen Hilfeleistungen anbieten. So ist es die gesamte Schule, die hier im Prinzip über das vorherrschende Mobbing informiert ist, jedoch findet sich nicht eine Person, die wirklich etwas gegen die immer mehr eskalierenden Handlungen unternimmt. Und dann sind da noch die Eltern von Joseep, die selbst, als er mit mehreren Hämatomen aus der Schule kommt, noch von harmlosen Hänseleien sprechen. Vor allem sein Vater, der einem typischen Macho gleicht, hat keinerlei Verständnis für die Opferrolle seines Sohnes und rät ihm lediglich, das er umso fester zurückschlagen soll. Seine Mutter hingegen macht den grössten Fehler, indem sie die Schule informiert, das ihr Sohn mishandelt wird.

Nun ergibt es sich dadurch schon fast zwangsläufig, das sich das Mobbing immer weiter verstärkt und dabei Ausmaße annimmt, die nicht mehr zu kontrollieren sind. Selbst einige Mitschüler wenden sich angewidert von den Rädelsführern ab, da sie ihre Taten nicht mehr gutheissen können. Doch ist es mittlerweile schon viel zu spät und eine Situation am Strand, die vollkommen eskaliert und eine Demütigung sondergleichens an den tag legt, ist der Funke, der das Fass zum explodieren bringt. Die sich daraus ergebende Reaktion der beiden Opfer ist schon fast als logisch anzusehen und so nimmt das Unheil seinen Lauf und endet am nächsten tag in der Schule in dem finalen Showdown, der sich im Amoklauf der beiden Mobbingopfer äussert. Dabei ist es nicht nur die Tötung mehrerer Schüler, die einen absolut fassungslos macht, sondern insbesondere die mehr als tragische Reaktion von Joseep, kurz bevor die Polizei eintrifft. Denn in seiner Reaktion auf die Ereignisse liegt die gesamte Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit eines jungen Menschen, der innerlich schon längst gestorben ist und nicht aus seiner Hilflosigkeit heraus kann.

Ilmar Raag hat hier ein wirklich beeindruckendes Stück Film geschaffen, das mit einer ungeheuren Härte auf den Betrachter einschlägt und ihn in gewisser Weise selbst zu einem hilflosen Opfer macht, da er zum Zuschauen verdammt ist und trotz des vorhandenen Willens zu keiner Zeit in das Geschehen eingreifen kann. Die Intensität, die diese estnische Produktion entfaltet, ist extrem hoch angesiedelt und so manche Situation ist wie ein körperlicher Tiefschlag, den man förmlich spüren kann. Dazu tragen vor allem die herausragenden Jung - Darsteller bei, die dem Geschehen einen mehr als authentischen Eindruck verleihen. Ihr dargebotenes Schauspiel ist erschreckend realistisch und hält dem Zuschauer die Verrohung der heutigen Jugend auf erschreckende Art und Weise vor Augen. Begriffe wie Rücksicht, Anteilnahme oder Hilfe scheinen hier absolute Fremdworte zu sein. Ohne Rücksicht auf die gefühlslage eines anderen Menschen werden hier systematisch zwei junge Menschen zerstört und gedemütigt, bis sie im Endeffekt keinen anderen Ausweg mehr sehen, als das sie sich von ihren Peinigern für immer befreien.


Fazit:


"Klass - Chronik einer Katastrophe" sollte ein mahnendes Beispiel dafür sein, wie schnell aus anfänglichen Hänseleien eine Katastrophe entstehen kann, die eigentlich jederzeit hätte aufgehalten werden können, wenn sich einige Personen etwas intensiver mit den Vorfällen beschäftigt hätten. Gleichzeitig wird einem aber auch die teilweise vorhandene Gleichgültigkeit der heutigen Zeit vor Augen geführt, so das Situationen immer erst eskalieren müssen, bevor sich einem die Ernsthaftigkeit der Handlungen und deren Wirkung auf andere erschließt. Ein Film, der sehr nachdenklich stimmt und auch einen sehr nachhaltigen Eindruck im Gedächtnis des Betrachters hinterlässt. Das hier gezeigte Geschehen ist absolut realistisch und zeigt einmal mehr, das wegschauen nicht immer die richtige Maßnahme ist, manchmal sollte man die innere Gleichgültigkeit überwinden und vielmehr eine ordentliche Portion Zivilcourage an den Tag legen, um eventuell deeskalierend einwirken zu können.


Die DVD:

Vertrieb: Ascot Elite
Sprache / Ton: Deutsch DD 2.0
Bild: 1,85:1 (16:9)
Laufzeit: 98 Minuten
Extras: Trailershow


9/10

Re: Klass

Verfasst: Di 8. Jun 2010, 15:11
von buxtebrawler
Klingt sehr interessant. Kann noch jemand anderer etwas zu diesem Film sagen?

Re: Klass

Verfasst: So 26. Dez 2010, 19:50
von horror1966
Habe den gerade die Tage wieder gesehen, der Film ist so schockierend und wirkungsvoll, das es eine wahre Pracht ist. Hier handelt es sich wirklich um einen absoluten Geheimtip, den ich nur wärmstens empfehlen kann. :thup:

Re: Klass

Verfasst: Di 3. Jan 2012, 01:55
von horror1966
Hat denn ehrlich noch keiner hier diesen tollen Film gesehen? Euch entgeht wirklich etwas und andere Meinungen würden mich brennend interessieren.

Re: Klass

Verfasst: Di 3. Jan 2012, 09:42
von buxtebrawler
horror1966 hat geschrieben:Hat denn ehrlich noch keiner hier diesen tollen Film gesehen? Euch entgeht wirklich etwas und andere Meinungen würden mich brennend interessieren.
Da mich die Thematik wirklich interessiert, hab ich den jetzt einfach mal bestellt. Wirst dann entsprechend von mir hören. ;)

Re: Klass

Verfasst: Di 3. Jan 2012, 18:00
von horror1966
buxtebrawler hat geschrieben:
horror1966 hat geschrieben:Hat denn ehrlich noch keiner hier diesen tollen Film gesehen? Euch entgeht wirklich etwas und andere Meinungen würden mich brennend interessieren.
Da mich die Thematik wirklich interessiert, hab ich den jetzt einfach mal bestellt. Wirst dann entsprechend von mir hören. ;)

Das höre ich gern und ich bin mir eigentlich sicher, das dir der Film gefallen wird. :thup:

Re: Klass - Ilmar Raag

Verfasst: Fr 17. Feb 2012, 23:28
von buxtebrawler
Hey horror1996, danke noch mal für den Tipp - wirklich ein "klass(e)" Film! Deine Kritik finde ich auch ziemlich treffend formuliert. Hier meine zwei Kreuzer:

„Ich sterbe nicht. Euch zum Trotz. Ich sterbe nicht.“

Die Schulzeit – ein Lebensabschnitt, auf den viele gern zurückblicken als eine Zeit der jugendlichen Unbedarftheit, des Abenteuers und des Spaßes, der Ernst des Lebens noch weit entfernt. Für einige jedoch wird diese Zeit schnell zur Hölle auf Erden: Außenseiter, die zu Opfern systematischen Mobbings werden, dem sie nicht aus dem Weg gehen können, da der Terror von der eigenen Klasse ausgeht.

In Zeiten, in denen auch in Europa immer mal wieder Außenseiter an Schulen Amok laufen und schwer bewaffnet scheinbar wahllos mit Papis Gewehren in die Menge feuern, sind anschließend in der Regel alle schwer entsetzt, betroffen und um Erklärungsversuche bemüht. Der estnische Spielfilm „Klass“ aus dem Jahre 2007, anscheinend bis dato das einzige Werk von Regisseur Ilmar Raag greift dieses heikle Thema auf und zeigt anhand dramatisch verlaufender sieben Tage, was sich normalerweise über Monate oder gar Jahre aufstaut und ankündigt.

Joseep (Pärt Uusberg) wurde ungefragt zum Prügelknaben seiner Schulklasse ausgewählt, unter der Rädelsführung sportlicher, tyrannischer Typen wird er systematisch psychisch wie physisch gedemütigt. Die Begründung lautet lapidar, dass er ein „Freak“ wäre; selbst sich viel mehr selbst als „Freak“ gebende Mitschüler stimmen in diese Rechtfertigung mit ein, die einfach unhinterfragter Konsens ist, während Gleichgültigkeit regiert. Während Joseep längst resigniert und sich in seine Rolle eingefügt hat, auf die er bisweilen gar mit zynischem Humor reagiert, bricht Kaspar (Vallo Kirs) hingegen dieses ungeschriebene Gesetz und nimmt sich seines gepeinigten Klassenkameraden an – mit fatalen Folgen.

In komprimierter Form zeigt Raag den unbarmherzigen Vernichtungsfeldzug, dem Joseep und Kaspar ausgeliefert sind, geht dabei auch auf die erschreckenden Rollen der Lehrer und Eltern ein, die die Lage vollkommen verklären, ihr mit Desinteresse begegnen oder durch ihr Verhalten alles nur noch schlimmer machen und zeichnet eine besorgniserregende Gruppendynamik inklusive der Gefahren, der couragierte Mitmenschen ausgesetzt sind, nach, wie sie nicht nur auf den Mikrokosmos einer Schulklasse beschränkt täglich tausendfach stattfindet. Dabei kann er sich auf seine ambitionierten Jungdarsteller 100%ig verlassen, die den Film in seinem semidokumentarischen Stil tragen und fast durchgehend glaubwürdig agieren. Mit dem Einsatz leicht verfremdender Kameratechniken und Filmmusik lässt Raag nie einen Zweifel an der Fiktion seines Films, ohne aber jemals den Realitätsbezug aufzugeben.

Perfiderweise lässt Raag sein Publikum so starke Empathie für Joseep und Kaspar entwickeln, dass dieses nach Art eines Revenge-Movies im erahnbar unausweichlichen Finale mit ihnen während ihres verzweifelten Befreiungsschlag zweier Menschen, die glauben, nichts mehr zu verlieren zu haben, mitfiebern, ja richtiggehend hoffen, die Täter mögen ihre gerecht erscheinende Strafe erhalten. Der Zuschauer wird zum Komplizen eines Amoklaufs gemacht! Das ist starker Tobak, der erst einmal verdaut werden will und sich lange im Gedächtnis festsetzen dürfte. Die mögliche Skandalträchtigkeit wird geschickt umschifft, indem zwar für Verständnis im Sinne einer möglichen Erklärung für derartige Taten geworben wird, ohne auch mit nur einer Silbe selbige zu rechtfertigen. Der Stil des Films verhindert dies, die Bewertung, die ethische Einordnung bleibt dem Zuschauer überlassen. Dramaturgischer Höhepunkt des konsequenten, trotz Vorhersehbarkeit des Ausgangs immens fesselnden Films ist die über den Amoklauf hinausgehende deftige Schlusspointe, die sofort weitere Fragen aufwirft.

Zu guter Letzt habe ich lediglich einen wirklichen Kritikpunkt an dieser durch ihren pessimistischen Realismus mahnenden Sozialstudie: Um Menschen so weit zu bringen wie Joseep und Kaspar braucht es nicht unbedingt physische Vergewaltigungen und Waffengewalt seitens der Täter bzw. späteren Opfer, wie hier im Verlaufe der Zuspitzung der zur völligen Eskalation führenden Ereignisse geschehen– ein Verzicht zugunsten stärkerer Subtilität, der Mut zu mehr Psychoterror, hätte „Klass“ zu einem brillanten Meisterwerk veredelt, evtl. aber etwas von seiner Plakativität eingebüßt, die möglicherweise für einfachere Gemüter zum Verständnis des Films vonnöten ist.

Re: Klass - Ilmar Raag

Verfasst: Fr 17. Feb 2012, 23:35
von DrDjangoMD
Ich seh solche Filme ja normalerweise nicht, weil mich Bösekidssploitation immer so deprimiert, aber die lobpreisenden Kritiken von Bux und horror1966chen machen schon neugierig :?

Re: Klass - Ilmar Raag

Verfasst: Fr 17. Feb 2012, 23:44
von buxtebrawler
DrDjangoMD hat geschrieben:Ich seh solche Filme ja normalerweise nicht, weil mich Bösekidssploitation immer so deprimiert, aber die lobpreisenden Kritiken von Bux und horror1966chen machen schon neugierig :?
Als Exploitation würde ich "Klass" nicht bezeichnen.

Re: Klass - Ilmar Raag

Verfasst: Fr 17. Feb 2012, 23:47
von DrDjangoMD
buxtebrawler hat geschrieben:
DrDjangoMD hat geschrieben:Ich seh solche Filme ja normalerweise nicht, weil mich Bösekidssploitation immer so deprimiert, aber die lobpreisenden Kritiken von Bux und horror1966chen machen schon neugierig :?
Als Exploitation würde ich "Klass" nicht bezeichnen.
Wählte den Begriff nur um allgemein die Gesamtheit der Filme, die sich um Probleme in Schulen drehen zu bezeichnen, aber du hast natürlich recht, der Film unterscheidet sich wahrscheinlich in Ambitionen und Machart stark von den 80er Jahren Beiträgen.