Astral City - Unser Heim - Wagner de Assis (2010)
Verfasst: Fr 20. Feb 2015, 13:10
Originaltitel: Nosso Lar
Produktionsland: Brasilien 2010
Regie: Wagner de Assis
Darsteller: Renato Prieto, Fernando Alves Pinto, Rosanne Mulholland, Inez Viana, Werner Schünemann
Wenn man knapp zweihundertfünfzig Erstsemesterklausuren zu korrigieren und dann auch noch in Rekordzeit eine völlig versiffte Küche zu putzen hat, weil man quasi auf gepackten Koffern sitzt und endlich in die Ferien aufbrechen möchte, heilt man seinen Frust vielleicht am besten, indem man die eine oder andere Zeile über den schlechtesten Film schreibt, den man dieses Jahr zu sehen das Vergnügen hatte. In meinem Fall hört sich das wie folgt an:
"NOSSO LAR lautet der Titel eines Prosatextes des brasilianischen Mediums Chico Xavier (1910-2002), dessen portugiesische Erstausgabe ins Jahr 1944 fällt. Xavier, der von sich selbst behauptete, mit den Geistern Verstorbener in Kontakt zu stehen, will, ebenfalls nach eigener Aussage, all seine spirituellen Texte von eben diesen diktiert bekommen haben. NOSSO LAR, und somit sein gesamtes Erzählwerk, muss man demnach als unmittelbare Offenbarungen einer jenseitigen Welt betrachten, die sich des menschlichen Individuums Chico Xavier einzig als Medium bedient hat, durch das uns ihre Weisheiten überbracht werden sollten. Letztlich hat Xavier, wohl nicht zuletzt aufgrund des Umstands, dass er offenbar wenig bis keinen Profit aus seiner vermeintlichen oder wahrhaftigen Gabe geschlagen, sondern die Erlöse seiner Bestseller humanitären Zwecken gespendet hat, in Brasilien nicht nur eine immense Popularität erreicht, sondern vor allem maßgeblich dazu beigetragen, dass sich der sogenannte Spiritismus in seinem Heimatland zu einer ernstzunehmenden, über zahlreiche Anhänger verfügende religiösen Bewegung auswuchs. NOSSO LAR lautet jedoch ebenfalls der Titel des bis dato teuersten Spielfilms, der jemals in Brasilien produziert worden ist, einer Adaption des literarischen Verkauferfolgs in bewegten Bildern, dessen Inhalt sich auf dem Papier genauso grandios anhört wie für mich schlussendlich sein Scheitern darin ist, irgendeiner Form von Transzendenz auch nur im Ansatz nahezukommen.
Im Mittelpunkt von Buch und Film steht der Arzt André Luiz, den, nachdem er schon eine Weile unter Magenkrämpfen leidet, eines Tages jäh der Tod ereilt. Nach unserem physischen Verscheiden, so die Botschaft, die Chico Xavier von den ihm zuflüsternden Geistwesen erhalten hat, ist jedoch noch lange nicht Schluss mit unserer Existenz, unsere Seele nämlich lebt, gemäß der Reinkarnationslehre, weiter, und wird, je nachdem wie wir unser Erdendasein gemeistert haben, entweder sofort an einen himmlischen Ort namens Nosso Lar, was aus dem Portugiesischen übersetzt so viel wie „Unser Heim“ heißt, versetzt, oder zur Läuterung zunächst in eine Art Hölle namens Umbral geworfen. Letzteres widerfährt André Luiz, der, kaum hat er auf einem OP-Tisch seinen letzten Lebenshauch von sich gegeben, in einem Inferno von Dante’schen Ausmaßen aufwacht – oder, um genau zu sein: mitten in den berühmten Illustrationen, mit denen Gustave Doré die Göttliche Komödie bereichert hat. Von überallher dringt Schmerzensgeheul, verfaulende, verwahrloste Gestalten torkeln durch ein Szenario aus Schlamm, Flammen und zerschundenen Körpern, ein unersättlicher Hunger brennt in Andrés Eingeweiden, sein Bauch ist aufgeplatzt, sodass ihm die halben Eingeweide herausbaumeln. In diese scheinbar trost- und hoffnungslose Situation, die ein bisschen von ihrer Trost- und Hoffnungslosigkeit dadurch genommen bekommt, dass Andrés Stimme aus dem Off und somit aus einer angenehmeren Zukunft heraus, seine ungemütliche Lage kommentiert, sind Rückblenden geschaltet, die quasi im Zeitraffer das vergangene Erdenleben des Arztes schildern.
Freilich hält es NOSSO LAR nicht lange in der Schwärze des Purgatoriums aus. Kaum dass wir erfahren haben, dass André ein völlig unspektakuläres Leben mit Frau und Kindern geführt hat, bevor es mit ihm zu Ende gegangen ist, tauchen schon Lichtwesen in die Unterwelt, um ihr unseren Helden, der offenbar genügend für seine eigenen oder die Sünden seiner vorherigen Leben gebüßt hat, zu entreißen und ihn in die Sphären einer von zahllosen astralen Städten zu entrücken, über deren Mauern computeranimierte Paradiesvögel kreisen, hinter deren Mauern eine steril-futuristische Landschaft aus Tempeln und Verwaltungsgebäuden herrscht, und zwischen deren Mauern all jene Seelen beschaulich ihre Zeit vertreiben, die entweder darauf warten, zurück auf die Erde gesandt zu werden, um in einem neuen Leben der spirituellen Vervollkommnung ein Stückchen näher zu rücken, oder aber darauf, ohne weiteren Umweg eine noch höhere Himmelsleiter hinaufzusteigen, näher hin zu etwas, das man am besten wohl als Gott umschreibt, um es gedanklich überhaupt fassen zu können.
Ich übertreibe nicht, wenn ich Nosso Lar den Alptraum eines jeden nenne, der sich gerne an Ecken und Kanten stößt und die flachen Flächen normalerweise meidet. Das Leben in dieser angeblichen Himmelsstadt plätschert vor sich hin wie ein träger Fluss, der sich irgendwann lautlos im Meer verliert. Nachdem André eine Weile auf einer Krankenstation verbracht hat, kann er sich frei in Nosso Lar bewegen, trifft auf verstorbene Bekannte, lernt neue Freunde kennen, verabschiedet Liebgewonnene, die in ein höheres Sein transzendieren oder zwecks Wiedergeburt zurück zur Erde reisen, unterstützt Neuangekommene, die, wie er, zunächst etwas Zeit benötigen, sich mit dem makellosen Weiß und der lammfellweichen Freundlichkeit zu arrangieren, und erfährt bei alldem natürlich eine innere Wandlung, die ihn von einem dann doch eher egoistischen Menschen zu einem verklärten Geist heranwachsen lässt. Ohne den geringsten Funken Selbstironie, stattdessen getragen von einem biederen Ernst, der Binsenweisheiten wie die, dass jeder Mensch zuallererst das Gute für sich und seine Mitmenschen wollen solle, oder dass die Liebe letztendlich über alles und jedes Schlechte triumphiert, vorträgt, als würden damit niemals auch nur geahnte Bewusstseinspforten aufgestoßen werden, bietet NOSSO LAR spätestens ab der zwanzigsten Minute eine Wellness-Oase, deren Mechanismen freilich eins zu eins von dem abgeschaut sind, was man gemeinhin unter dem Begriff des Hollywood- oder Mainstream-Kinos zusammenfasst.
Immerhin kann man den Film dabei nicht vorwerfen, dass er sich selbst nicht treu sein würde. Vielmehr gehen Inhalt und Ästhetik Hand in Hand, lassen sich wie zwei Siamesische Zwillinge nicht voneinander trennen. Nosso Lar ist nun mal ein Ort der blanken Fassaden, der weichgespülten Emotionen, der künstlichen Lichtquellen, seine filmische Umsetzung trägt dem im Prinzip nur Rechnung, wenn sie wirklich jede einzige Szene in unerträglichen Spezialeffekten, von denen ich sicher bin, dass sie in knapp zehn Jahren schon schrecklich antiquiert ausschauen werden, regelrecht ertränkt, in seiner Handlung ausschließlich Figuren ohne innere Brüche, deren Oberfläche zu betrachten allein schon ausreicht, ihr Innerstes zu kennen, versammelt, und jede Gelegenheit nutzt, in einen derart dickflüssigen Kitsch zu kippen, dass es keine Poren geben kann, die nicht vollkommen von ihm verklebt werden wird. Dass Philipp Glass, dessen Frühwerk ich eigentlich ziemlich feiere, für den überaus pathetischen, überaus lauten und sowieso schon überaus sentimentale Szenen, in denen beispielweise André seine lange tote Mutter wiedertrifft oder, im Finale, selbst als Geistwesen seine inzwischen erwachsenen Kinder und seine neuverhei-ratete Ex-Frau besuchen darf, noch zusätzlich mit Gefühlen, die sich einfach nur falsch und verlogen anfühlen, zukleisternden Soundtrack zuständig gewesen sein soll, mindert meine Erschütterung um kein Grad.
Es gibt Filme, die mir eine wahre Qual sind, und NOSSO LAR muss dieser Kategorie, glaube ich, mit einer großen Fahne voranschreiten. Hätte ich den Film nicht in einem speziellen Rahmen gesehen, in einer halb-öffentlichen Kinovorführung zusammen mit Menschen, die ebenso unvorbereitet und schlussendlich ebenso geschockt gewesen sind wie ich, hätte ich wohl schon nach wenigen Minuten so sehr mit ihm abgeschlossen gehabt, dass ich mir die restlichen hundert nicht weiter angetan hätte. Es sind nicht mal die zahlreichen Klischees, die mir der Film vorsetzt, als sei er sich gar nicht darüber bewusst, dass es sich um welche handelt – beispielweise die schwarze Haushälterin der Luiz-Familie, die, scheinbar allein aufgrund ihrer Hautfarbe, fähig ist, André, der als Geist neben ihr steht, zwar nicht zu sehen, ihn aber doch zu erspüren -, es sind nicht die CGI-Animationen, die sicherlich, für sich genommen und wenn man auf Computereffekte steht, nicht viel schlechter sind als die vergleichbarer US-amerikanischer Produktionen, die den Film für mich allerdings mit einer Sterilität erfüllen, die der Feind jeder echten Emotion ist, und nein, es ist auch noch nicht mal die völlig unreflektierte Geisteshaltung des Films, mit der im Predigerton schale Sprüchlein aufgesagt werden, die für mich mehr mit Bauernkalenderregeln zu tun haben als mit irgendeiner Form von geistiger Erleuchtung. Mein Hauptproblem mit NOSSO LAR ist vielmehr folgendes: ich durchschaue das Konstrukt dieses nun wirklich ziemlich einfach gestrickten propagandistischen Machwerks bereits mit nur zur Hälfte hochgeschlagenen Lidern.
NOSSO LAR funktioniert im Prinzip wie jede Werbung. Er ist völlig auf seinen Effekt hin inszeniert, darauf, in mir bestimmte Gefühle wachzurufen, die sich meiner Kontrolle entziehen und die definitiv nicht von mir selbst stammen, da sie mir der Film vordiktiert. André umarmt seine in einem gleißenden Lichtkokon dahinwehende Mutter, Glass‘ beinahe selbstparodistischer Score legt noch eine Schaufel Pathos auf den bereits vorhandenen Stapel, und ich soll die eine oder andere Träne verdrücken, weil mich das Ganze tief ergreift. Es ist allein schon bezeichnend, dass in NOSSO LAR kein einziger echter Vogel auftaucht, dafür massenweise welche, die in einem Computerprogramm zusammengesetzt worden sind. Obwohl der Film vorgibt, in astrale Sphären vorzustoßen, die uns mit dem Urgrund unseres Seins verknüpfen, berichtet er unterm Strich nur davon, wie solche astralen Sphären in virtuelle Realitäten übersetzt werden und damit alles verlieren, was sie eigentlich interessant macht. NOSSO LAR ist perfekt, in jeder Hinsicht, und das bricht ihm letztlich das Genick. Es ist ein perfekter Propagandafilm, der mit leicht variiertem Inhalt auf keinem Scientology-Kongress negativ auffallen dürfte. Seine Bildsprache ist perfekt, glatt, jeder Satz ausgefeilt bis zu den Kommata, in einem Duktus, als würde ihn ein Computer sprechen. Seine Dramaturgie ist perfekt, weil sie nichts Eigenes kennt, und sich ganz auf Schemata beruft, die vor ihr dagewesen und bereits erprobt sind. Seine Botschaft ist perfekt, weil sie niemandem wehtut, weil sie die Ruhe und den status quo bewahrt, weil sie die Resignation predigt, weil sie sich ganz und gar in Grenzen aus Schaumstoff bewegt.
Es gibt, glaube ich, einen Grund, weshalb jede Religion ihr Paradies in eine undenkliche Vorzeit oder eine undenkliche Zukunft verbannt hat. Ein Paradies, in dem es nichts mehr gibt, wofür es sich zu kämpfen lohnen würde und in dem man bis in alle Ewigkeit gesättigt ist und nichts mehr zu tun braucht, um diese Sättigung zu erreichen, muss jedem, der es sich vorzustellen versucht, wie die tödlichste Langeweile vorkommen. Das, was mich fühlen lässt, dass ich überhaupt zu fühlen in der Lage bin, sind die oben bereits erwähnten Kanten und Ecken, an denen ich mir die Stirn stoße, mir den Ellenbogen aufschürfe. Wo sie fehlen, lehne ich gelangweilt an der Mauer und habe nicht mal eine Zigarette oder einen Strohhalm, um darauf herum zu kauen und hoffentlich cool auszusehen. Für diesen Zustand ist NOSSO LAR ein Paradebeispiel, gerade weil es sich um einen dezidiert religiösen Film handelt, der, ohne dass es ihm bewusst ist, ein allgemeines Grundproblem der Religion aufdeckt: die Frage danach, was zur Hölle ich denn eine Ewigkeit lang tun soll, wenn ich für alle Zeit im gleichen harmonischen Wohlklang schwinge, aus dem auszubrechen mir unmöglich ist?
Aber es gibt noch eine Szene in NOSSO LAR, die mich nicht nur besonders geärgert, sondern mich tatsächlich physisch attackiert hat. Viel hätte nicht gefehlt, um mich zum ersten Mal in meinem Leben aus einem Kinosaal zu scheuchen bevor die Leinwand wieder schwarz geworden ist. Die Szene, die ich meine, findet sich im letzten Viertel des Films. Völlig unerwartet bricht auf einmal das Zeitgeschehen in die Abgeschiedenheit Nosso Lars hinein - um genau zu sein: der Zweite Weltkrieg. Der wird jedoch nicht nur in den zuckrigen Dialogen erwähnt, sondern dem Zuschauer plastisch vor Augen geführt, und zwar in Originalaufnahmen von Bomben, Trümmern und Kampfflugzeugen. Dazu ertönt eine Musik, die mir regelrecht ins Gesicht schreit, wie betroffen ich nun sein soll. Als sei das noch nicht genug, folgt gleich darauf eine große Willkommenszeremonie vor den Toren von Nosso Lar. Man hat sich versammelt, um eine Gruppe frisch Verstorbener in Empfang zu nehmen, bei denen es sich augenscheinlich um ermordete Juden und Jüdinnen handelt: kleine Mädchen in Lumpen, zwei greise Rabbiner mit gelben Sternen an der Brust, eine ausgemergelte Gestalt in Sträflingskleidung. Neben der Frage, weshalb denn nun ausgerechnet als singuläres Ereignis die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden aus den an Grausamkeiten wirklich nicht armen ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts herausgegriffen wurde – zumal Brasilien in das Kriegsgeschehen vergleichsweise wenig involviert gewesen ist -, stellt sich mir vor allem die noch viel grundlegendere, wieso denn überhaupt in einem Film, der ansonsten mit dem Thema überhaupt nichts zu tun hat, es weder zuvor irgendwann einmal angeschnitten hat noch später jemals wieder darauf zurückkommen wird, dieses plötzlich aufs Parkett gebracht werden muss. Meine Antwort ist so simpel wie schockierend. Jüdische Schicksale im Kontext des Zweiten Weltkriegs bzw. des Nationalsozialismus sind prädestiniert dafür, Emotionen wie Trauer, Ergriffenheit, Mitleid zu hervorzurufen, und lassen sich deshalb leicht zu diesem Zweck instrumentalisieren. Dass NOSSO LAR genau dies tut, und zwar ohne jegliche Notwendigkeit – wäre bspw. André Luiz Spross einer jüdischen Familie, würde die Sache natürlich schon ganz anders aussehen -, werfe ich dem Film als letzten, wenn auch größten Anklagepunkt in sein dermaßen poliertes Gesicht, dass man in ihm, obwohl es vorgibt, von Menschlichkeit zu erzählen, kaum noch etwas Menschliches erkennen kann.
Es ist wie mit den Ampeln. Wir sind abgerichtet, stehenzubleiben, sobald sie von Grün auf Rot umschalten. NOSSO LAR ist eine solche Ampel. Ich bin ebenfalls eine. Ich zeige Rot. Das heißt: lasst die Finger von diesem Film, wenn ihr glaubt, dass Kino irgendwas mit Leben zu tun hat, und Gott nicht in einem Fließbandglückskeks gefunden werden kann."
"NOSSO LAR lautet der Titel eines Prosatextes des brasilianischen Mediums Chico Xavier (1910-2002), dessen portugiesische Erstausgabe ins Jahr 1944 fällt. Xavier, der von sich selbst behauptete, mit den Geistern Verstorbener in Kontakt zu stehen, will, ebenfalls nach eigener Aussage, all seine spirituellen Texte von eben diesen diktiert bekommen haben. NOSSO LAR, und somit sein gesamtes Erzählwerk, muss man demnach als unmittelbare Offenbarungen einer jenseitigen Welt betrachten, die sich des menschlichen Individuums Chico Xavier einzig als Medium bedient hat, durch das uns ihre Weisheiten überbracht werden sollten. Letztlich hat Xavier, wohl nicht zuletzt aufgrund des Umstands, dass er offenbar wenig bis keinen Profit aus seiner vermeintlichen oder wahrhaftigen Gabe geschlagen, sondern die Erlöse seiner Bestseller humanitären Zwecken gespendet hat, in Brasilien nicht nur eine immense Popularität erreicht, sondern vor allem maßgeblich dazu beigetragen, dass sich der sogenannte Spiritismus in seinem Heimatland zu einer ernstzunehmenden, über zahlreiche Anhänger verfügende religiösen Bewegung auswuchs. NOSSO LAR lautet jedoch ebenfalls der Titel des bis dato teuersten Spielfilms, der jemals in Brasilien produziert worden ist, einer Adaption des literarischen Verkauferfolgs in bewegten Bildern, dessen Inhalt sich auf dem Papier genauso grandios anhört wie für mich schlussendlich sein Scheitern darin ist, irgendeiner Form von Transzendenz auch nur im Ansatz nahezukommen.
Im Mittelpunkt von Buch und Film steht der Arzt André Luiz, den, nachdem er schon eine Weile unter Magenkrämpfen leidet, eines Tages jäh der Tod ereilt. Nach unserem physischen Verscheiden, so die Botschaft, die Chico Xavier von den ihm zuflüsternden Geistwesen erhalten hat, ist jedoch noch lange nicht Schluss mit unserer Existenz, unsere Seele nämlich lebt, gemäß der Reinkarnationslehre, weiter, und wird, je nachdem wie wir unser Erdendasein gemeistert haben, entweder sofort an einen himmlischen Ort namens Nosso Lar, was aus dem Portugiesischen übersetzt so viel wie „Unser Heim“ heißt, versetzt, oder zur Läuterung zunächst in eine Art Hölle namens Umbral geworfen. Letzteres widerfährt André Luiz, der, kaum hat er auf einem OP-Tisch seinen letzten Lebenshauch von sich gegeben, in einem Inferno von Dante’schen Ausmaßen aufwacht – oder, um genau zu sein: mitten in den berühmten Illustrationen, mit denen Gustave Doré die Göttliche Komödie bereichert hat. Von überallher dringt Schmerzensgeheul, verfaulende, verwahrloste Gestalten torkeln durch ein Szenario aus Schlamm, Flammen und zerschundenen Körpern, ein unersättlicher Hunger brennt in Andrés Eingeweiden, sein Bauch ist aufgeplatzt, sodass ihm die halben Eingeweide herausbaumeln. In diese scheinbar trost- und hoffnungslose Situation, die ein bisschen von ihrer Trost- und Hoffnungslosigkeit dadurch genommen bekommt, dass Andrés Stimme aus dem Off und somit aus einer angenehmeren Zukunft heraus, seine ungemütliche Lage kommentiert, sind Rückblenden geschaltet, die quasi im Zeitraffer das vergangene Erdenleben des Arztes schildern.
Freilich hält es NOSSO LAR nicht lange in der Schwärze des Purgatoriums aus. Kaum dass wir erfahren haben, dass André ein völlig unspektakuläres Leben mit Frau und Kindern geführt hat, bevor es mit ihm zu Ende gegangen ist, tauchen schon Lichtwesen in die Unterwelt, um ihr unseren Helden, der offenbar genügend für seine eigenen oder die Sünden seiner vorherigen Leben gebüßt hat, zu entreißen und ihn in die Sphären einer von zahllosen astralen Städten zu entrücken, über deren Mauern computeranimierte Paradiesvögel kreisen, hinter deren Mauern eine steril-futuristische Landschaft aus Tempeln und Verwaltungsgebäuden herrscht, und zwischen deren Mauern all jene Seelen beschaulich ihre Zeit vertreiben, die entweder darauf warten, zurück auf die Erde gesandt zu werden, um in einem neuen Leben der spirituellen Vervollkommnung ein Stückchen näher zu rücken, oder aber darauf, ohne weiteren Umweg eine noch höhere Himmelsleiter hinaufzusteigen, näher hin zu etwas, das man am besten wohl als Gott umschreibt, um es gedanklich überhaupt fassen zu können.
Ich übertreibe nicht, wenn ich Nosso Lar den Alptraum eines jeden nenne, der sich gerne an Ecken und Kanten stößt und die flachen Flächen normalerweise meidet. Das Leben in dieser angeblichen Himmelsstadt plätschert vor sich hin wie ein träger Fluss, der sich irgendwann lautlos im Meer verliert. Nachdem André eine Weile auf einer Krankenstation verbracht hat, kann er sich frei in Nosso Lar bewegen, trifft auf verstorbene Bekannte, lernt neue Freunde kennen, verabschiedet Liebgewonnene, die in ein höheres Sein transzendieren oder zwecks Wiedergeburt zurück zur Erde reisen, unterstützt Neuangekommene, die, wie er, zunächst etwas Zeit benötigen, sich mit dem makellosen Weiß und der lammfellweichen Freundlichkeit zu arrangieren, und erfährt bei alldem natürlich eine innere Wandlung, die ihn von einem dann doch eher egoistischen Menschen zu einem verklärten Geist heranwachsen lässt. Ohne den geringsten Funken Selbstironie, stattdessen getragen von einem biederen Ernst, der Binsenweisheiten wie die, dass jeder Mensch zuallererst das Gute für sich und seine Mitmenschen wollen solle, oder dass die Liebe letztendlich über alles und jedes Schlechte triumphiert, vorträgt, als würden damit niemals auch nur geahnte Bewusstseinspforten aufgestoßen werden, bietet NOSSO LAR spätestens ab der zwanzigsten Minute eine Wellness-Oase, deren Mechanismen freilich eins zu eins von dem abgeschaut sind, was man gemeinhin unter dem Begriff des Hollywood- oder Mainstream-Kinos zusammenfasst.
Immerhin kann man den Film dabei nicht vorwerfen, dass er sich selbst nicht treu sein würde. Vielmehr gehen Inhalt und Ästhetik Hand in Hand, lassen sich wie zwei Siamesische Zwillinge nicht voneinander trennen. Nosso Lar ist nun mal ein Ort der blanken Fassaden, der weichgespülten Emotionen, der künstlichen Lichtquellen, seine filmische Umsetzung trägt dem im Prinzip nur Rechnung, wenn sie wirklich jede einzige Szene in unerträglichen Spezialeffekten, von denen ich sicher bin, dass sie in knapp zehn Jahren schon schrecklich antiquiert ausschauen werden, regelrecht ertränkt, in seiner Handlung ausschließlich Figuren ohne innere Brüche, deren Oberfläche zu betrachten allein schon ausreicht, ihr Innerstes zu kennen, versammelt, und jede Gelegenheit nutzt, in einen derart dickflüssigen Kitsch zu kippen, dass es keine Poren geben kann, die nicht vollkommen von ihm verklebt werden wird. Dass Philipp Glass, dessen Frühwerk ich eigentlich ziemlich feiere, für den überaus pathetischen, überaus lauten und sowieso schon überaus sentimentale Szenen, in denen beispielweise André seine lange tote Mutter wiedertrifft oder, im Finale, selbst als Geistwesen seine inzwischen erwachsenen Kinder und seine neuverhei-ratete Ex-Frau besuchen darf, noch zusätzlich mit Gefühlen, die sich einfach nur falsch und verlogen anfühlen, zukleisternden Soundtrack zuständig gewesen sein soll, mindert meine Erschütterung um kein Grad.
Es gibt Filme, die mir eine wahre Qual sind, und NOSSO LAR muss dieser Kategorie, glaube ich, mit einer großen Fahne voranschreiten. Hätte ich den Film nicht in einem speziellen Rahmen gesehen, in einer halb-öffentlichen Kinovorführung zusammen mit Menschen, die ebenso unvorbereitet und schlussendlich ebenso geschockt gewesen sind wie ich, hätte ich wohl schon nach wenigen Minuten so sehr mit ihm abgeschlossen gehabt, dass ich mir die restlichen hundert nicht weiter angetan hätte. Es sind nicht mal die zahlreichen Klischees, die mir der Film vorsetzt, als sei er sich gar nicht darüber bewusst, dass es sich um welche handelt – beispielweise die schwarze Haushälterin der Luiz-Familie, die, scheinbar allein aufgrund ihrer Hautfarbe, fähig ist, André, der als Geist neben ihr steht, zwar nicht zu sehen, ihn aber doch zu erspüren -, es sind nicht die CGI-Animationen, die sicherlich, für sich genommen und wenn man auf Computereffekte steht, nicht viel schlechter sind als die vergleichbarer US-amerikanischer Produktionen, die den Film für mich allerdings mit einer Sterilität erfüllen, die der Feind jeder echten Emotion ist, und nein, es ist auch noch nicht mal die völlig unreflektierte Geisteshaltung des Films, mit der im Predigerton schale Sprüchlein aufgesagt werden, die für mich mehr mit Bauernkalenderregeln zu tun haben als mit irgendeiner Form von geistiger Erleuchtung. Mein Hauptproblem mit NOSSO LAR ist vielmehr folgendes: ich durchschaue das Konstrukt dieses nun wirklich ziemlich einfach gestrickten propagandistischen Machwerks bereits mit nur zur Hälfte hochgeschlagenen Lidern.
NOSSO LAR funktioniert im Prinzip wie jede Werbung. Er ist völlig auf seinen Effekt hin inszeniert, darauf, in mir bestimmte Gefühle wachzurufen, die sich meiner Kontrolle entziehen und die definitiv nicht von mir selbst stammen, da sie mir der Film vordiktiert. André umarmt seine in einem gleißenden Lichtkokon dahinwehende Mutter, Glass‘ beinahe selbstparodistischer Score legt noch eine Schaufel Pathos auf den bereits vorhandenen Stapel, und ich soll die eine oder andere Träne verdrücken, weil mich das Ganze tief ergreift. Es ist allein schon bezeichnend, dass in NOSSO LAR kein einziger echter Vogel auftaucht, dafür massenweise welche, die in einem Computerprogramm zusammengesetzt worden sind. Obwohl der Film vorgibt, in astrale Sphären vorzustoßen, die uns mit dem Urgrund unseres Seins verknüpfen, berichtet er unterm Strich nur davon, wie solche astralen Sphären in virtuelle Realitäten übersetzt werden und damit alles verlieren, was sie eigentlich interessant macht. NOSSO LAR ist perfekt, in jeder Hinsicht, und das bricht ihm letztlich das Genick. Es ist ein perfekter Propagandafilm, der mit leicht variiertem Inhalt auf keinem Scientology-Kongress negativ auffallen dürfte. Seine Bildsprache ist perfekt, glatt, jeder Satz ausgefeilt bis zu den Kommata, in einem Duktus, als würde ihn ein Computer sprechen. Seine Dramaturgie ist perfekt, weil sie nichts Eigenes kennt, und sich ganz auf Schemata beruft, die vor ihr dagewesen und bereits erprobt sind. Seine Botschaft ist perfekt, weil sie niemandem wehtut, weil sie die Ruhe und den status quo bewahrt, weil sie die Resignation predigt, weil sie sich ganz und gar in Grenzen aus Schaumstoff bewegt.
Es gibt, glaube ich, einen Grund, weshalb jede Religion ihr Paradies in eine undenkliche Vorzeit oder eine undenkliche Zukunft verbannt hat. Ein Paradies, in dem es nichts mehr gibt, wofür es sich zu kämpfen lohnen würde und in dem man bis in alle Ewigkeit gesättigt ist und nichts mehr zu tun braucht, um diese Sättigung zu erreichen, muss jedem, der es sich vorzustellen versucht, wie die tödlichste Langeweile vorkommen. Das, was mich fühlen lässt, dass ich überhaupt zu fühlen in der Lage bin, sind die oben bereits erwähnten Kanten und Ecken, an denen ich mir die Stirn stoße, mir den Ellenbogen aufschürfe. Wo sie fehlen, lehne ich gelangweilt an der Mauer und habe nicht mal eine Zigarette oder einen Strohhalm, um darauf herum zu kauen und hoffentlich cool auszusehen. Für diesen Zustand ist NOSSO LAR ein Paradebeispiel, gerade weil es sich um einen dezidiert religiösen Film handelt, der, ohne dass es ihm bewusst ist, ein allgemeines Grundproblem der Religion aufdeckt: die Frage danach, was zur Hölle ich denn eine Ewigkeit lang tun soll, wenn ich für alle Zeit im gleichen harmonischen Wohlklang schwinge, aus dem auszubrechen mir unmöglich ist?
Aber es gibt noch eine Szene in NOSSO LAR, die mich nicht nur besonders geärgert, sondern mich tatsächlich physisch attackiert hat. Viel hätte nicht gefehlt, um mich zum ersten Mal in meinem Leben aus einem Kinosaal zu scheuchen bevor die Leinwand wieder schwarz geworden ist. Die Szene, die ich meine, findet sich im letzten Viertel des Films. Völlig unerwartet bricht auf einmal das Zeitgeschehen in die Abgeschiedenheit Nosso Lars hinein - um genau zu sein: der Zweite Weltkrieg. Der wird jedoch nicht nur in den zuckrigen Dialogen erwähnt, sondern dem Zuschauer plastisch vor Augen geführt, und zwar in Originalaufnahmen von Bomben, Trümmern und Kampfflugzeugen. Dazu ertönt eine Musik, die mir regelrecht ins Gesicht schreit, wie betroffen ich nun sein soll. Als sei das noch nicht genug, folgt gleich darauf eine große Willkommenszeremonie vor den Toren von Nosso Lar. Man hat sich versammelt, um eine Gruppe frisch Verstorbener in Empfang zu nehmen, bei denen es sich augenscheinlich um ermordete Juden und Jüdinnen handelt: kleine Mädchen in Lumpen, zwei greise Rabbiner mit gelben Sternen an der Brust, eine ausgemergelte Gestalt in Sträflingskleidung. Neben der Frage, weshalb denn nun ausgerechnet als singuläres Ereignis die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden aus den an Grausamkeiten wirklich nicht armen ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts herausgegriffen wurde – zumal Brasilien in das Kriegsgeschehen vergleichsweise wenig involviert gewesen ist -, stellt sich mir vor allem die noch viel grundlegendere, wieso denn überhaupt in einem Film, der ansonsten mit dem Thema überhaupt nichts zu tun hat, es weder zuvor irgendwann einmal angeschnitten hat noch später jemals wieder darauf zurückkommen wird, dieses plötzlich aufs Parkett gebracht werden muss. Meine Antwort ist so simpel wie schockierend. Jüdische Schicksale im Kontext des Zweiten Weltkriegs bzw. des Nationalsozialismus sind prädestiniert dafür, Emotionen wie Trauer, Ergriffenheit, Mitleid zu hervorzurufen, und lassen sich deshalb leicht zu diesem Zweck instrumentalisieren. Dass NOSSO LAR genau dies tut, und zwar ohne jegliche Notwendigkeit – wäre bspw. André Luiz Spross einer jüdischen Familie, würde die Sache natürlich schon ganz anders aussehen -, werfe ich dem Film als letzten, wenn auch größten Anklagepunkt in sein dermaßen poliertes Gesicht, dass man in ihm, obwohl es vorgibt, von Menschlichkeit zu erzählen, kaum noch etwas Menschliches erkennen kann.
Es ist wie mit den Ampeln. Wir sind abgerichtet, stehenzubleiben, sobald sie von Grün auf Rot umschalten. NOSSO LAR ist eine solche Ampel. Ich bin ebenfalls eine. Ich zeige Rot. Das heißt: lasst die Finger von diesem Film, wenn ihr glaubt, dass Kino irgendwas mit Leben zu tun hat, und Gott nicht in einem Fließbandglückskeks gefunden werden kann."