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Höhere Gewalt - Ruben Östlund (2014)
Verfasst: Mi 20. Mai 2015, 07:34
von jogiwan
Höhere Gewalt
Originaltitel: Turist
Herstellungsland: Norwegen, Schweden, Frankreich / 2014
Regie: Ruben Östlund
Darsteller: Lisa Loven Kongsli, Johannes Kuhnke, Clara Wettergren, Vincent Wettergren, Brady Corbet
Story:
Eine junge schwedische Familie macht Skiurlaub in den französischen Alpen. Die Sonne scheint, die Pisten sind herrlich, das Berg-Idyll perfekt. Doch plötzlich geschieht beim Mittagessen auf der Restaurant-Terrasse die Katastrophe: Eine Lawine rast mit voller Wucht auf sie zu. Panisch ergreift Mutter Ebba die beiden Kinder – panisch ergreift Vater Tomas… die Flucht. Als sich der Nebel legt, sind alle unversehrt. Das große Unglück ist zwar ausgeblieben, doch zurück bleibt der Schock über Tomas' Handeln. Die Kinder streiken, die Ehe kriselt und Tomas muss schwer mit seiner mangelnden Courage und seiner angeschlagenen Männlichkeit kämpfen. (quelle: cover)
Re: Höhere Gewalt - Ruben Östlund (2014)
Verfasst: Mi 20. Mai 2015, 07:37
von jogiwan
„Höhere Gewalt“ ist ein eigentlich bitterböser und augenscheinlich sehr kontroverser Streifen über Rollenbilder und wie sie uns im täglichen Leben unbewusst beeinflussen. Ruben Östlund erzählt die Geschichte einer hippen, jungen Familie im Ski-Urlaub in einem französischen Luxus-Resort, die während des Mittagessens durch den kontrollierten Abgang einer Lawine dennoch einen großen Schock erlebt, als sich diese mit scheinbar tödlicher Wucht auf die Terrasse zubewegt. Doch während die Mutter instinktiv an die Kinder denkt und diese beschützen möchte, ergreift der Mann sein Iphone und die Flucht. Obwohl die Katastrophe ausbleibt, nagt das Geschehene an der Mutter und später auch am Vater, der sich durch vermeintlich falsche Wahrnehmung und Schuldzuweisungen seiner Frau immer mehr in die Ecke gedrängt fühlt und das eingangs gezeigte Familien-Idyll zeigt Bruchstellen. „Höhere Gewalt“ erzählt seine Geschichte dabei in ruhigen und schönen Bildern, überlässt dem Publikum eine Wertung und ist aber auch ein Streifen, der geschlechterspezifisch komplett unterschiedlich aufgenommen wird. Das männliche Publikum ist ja nicht sehr begeistert und das ist wenig verwunderlich, da mir persönlich kein Film bekannt ist, in dem Männer und ihr aufgeplustertes Alphamännchen-Gehabe durch die Hintertür so derart einen vor den Latz geknallt bekommen, während auch nicht klar ist, ob die Frau nicht einfach nur überreagiert und jedes Wort ihres Mannes noch zusätzlich in die Waagschale legt. Und auch wenn die Wahrheit vermutlich irgendwo in der Mitte liegt und „Höhere Gewalt“ keine Antwort bietet, ist Ruben Östlund ein ganz großartiger Streifen gelungen, der auch sehr empfindlich den Nerv seiner Zeit trifft.
Re: Höhere Gewalt - Ruben Östlund (2014)
Verfasst: Sa 12. Mär 2016, 11:04
von Il Grande Silenzio
HÖHERE GEWALT ist ein ungemein starker Streifen über die Demontage des Rollenklischees des "starken" Geschlechts.
HÖHERE GEWALT zeigt geschickt auf, dass es weder eine echte Kontrolle des eigenen Lebens oder gar des von anderen gibt noch sich unsere Instinkte durch gesellschaftliche und moralisch-ethische Prägung völlig unterdrücken lassen.
Nach dem Versagen als Beschützer der Familie begeht Tomas den nächsten schwerwiegenden Fehler, denn anstatt sich mit seinem Versagen auseinander zu setzen, verleugnet er dieses nicht nur gegenüber sich selbst, sondern auch gegenüber seiner Frau. Da Tomas das auf der rationalen Ebene vielleicht noch entschuldbare Versagen, allein seinem Überlebensinstinkt zu gehorchen, die Feigheit folgen lässt, sich diesem zu stellen, manövriert sich Tomas immer mehr in eine Sackgasse bzw. Ebba, die dieses Verdrehen der Wahrheit kaum glauben mag, drängt ihn immer weiter in diese argumentative und emotionale Sackgasse hinein.
Und spätestens hier bezieht Östlund Stellung, indem er Tomas als quasi gebrochenen Mann darstellt, der sogar zu feige dazu ist, seine Angst zuzugeben und als hysterisches Etwas sein wahres Gesicht zeigt. So kommt es zu einem Rollentausch und Ebba übernimmt die Rolle der Beschützerin der Familie. Zwar überlässt sie ihm die Führung in beherrschbaren Situationen (Skiausflug im Nebel), wenn es aber um echte Gefahrensituationen geht (Busfahrt), übernimmt sie das Zepter.
So wird am Ende des Filmes klar, dass nach dieser Prüfung die Rollen getauscht wurden. Letztendlich entscheidet das Bedürfnis und die Notwendigkeit nach Schutz und nicht die von der Gesellschaft vorgegebene Rolle.
Die Szenerie des mondänen Skiresorts ist dabei offensichtlich sehr bewusst gewählt. Hier flanieren tagsüber die Reichen und Wohlhabenden und geben vor, ihr Leben nicht nur zu jeder Zeit komplett im Griff zu haben, sondern auch über allem zu stehen, letztendlich auch über der eigenen Verletzlichkeit. Den Kampf gegen die Natur müssen sie aber schon lange nicht mehr selbst führen, der wird für sie in dieser eigentlich völlig lebensfeindlichen Welt von nächtlichen Lawinensprengungen und Pistenraupen übernommen.
Umso mehr wird deutlich, dass heutzutage kaum noch ein Mann dazu in der Lage oder auch Willens ist, seine von der Natur vorgesehene Rolle wahrzunehmen, wenn er urplötzlich mit der höchsten Anforderung überhaupt konfrontiert wird. Welcher Mann wächst in unserer (westlichen) Welt noch in eine solche Rolle hinein? Da sich das kaum jemand eingestehen will, wird dies mit übertriebenen Balzritualen kompensiert.
Mir als Mann hat "Höhere Gewalt" sehr gut gefallen, was nicht daran liegt, dass ich dessen Aussage als Befreiung von der mir übertragenen Rolle ansehe, sondern weil er geschickt aufzeigt, dass wir letztendlich nur Sklaven unserer eigenen Instinkte sind, mal mehr, mal weniger.
8,5/10