Satan Triumphant - Yakov Protazanov (1917)
Verfasst: Mo 8. Jun 2015, 09:46
Originaltitel: Satan Likuyushchiy
Produktionsland: Russland 1917
Regie: Yakov Protazanov
Darsteller: Ivan Mozzhukhin, Aleksandr Chabrov, Nathalie Lissenko, Pavel Pavlov
Der triumphierende Satan. So lautet der Titel eines zweihundert Jahre alten Gemäldes, auf das Talnoks, seines Zeichens protestantischer Priester eines kleinen Dörfchens im russischen Hinterland, etwa in der Mitte des vorliegenden Films durch Zufall - oder göttlichen Fingerzeig - stößt. Es zeigt ein Teufelchen vom Schlage Mephistos: recht korpulent und grobschlächtig, ein bisschen schmierig, den rechten Arm erhoben, als wolle es damit das gesamte Christentum zerschmettern, die Augen wild aufgerissen, den Mund verzerrt zu einer Mischung aus Grinsen und Grimasse. Wie ein Feldherr wirkt dieser Satan auf mich, der zum finalen Angriff ausholt, und nicht daran zweifelt, siegreich daraus hervorzugehen. Im Falle Talnoks hinkt dieser Vergleich überhaupt nicht. Bis zu dem Zeitpunkt, als er das Gemälde entdeckt, hat des Priesters Seele schon einiges über sich ergehen lassen müssen - und es wird noch ärger werden:
Dabei beginnt SATANA LIKUYUSHCHIY, ein Frühwerk Yakov Protazanovs, dessen bekanntester Film wohl das äußerst schräge Science-Fiction-Abenteuer AELITA von 1924 sein dürfte, mit einer Idylle: Talnoks lebt gemeinsam mit der Schwester seiner verstorbenen Frau, Esfir, und deren Gatten, dem buckligen Pavel, ein bescheidenes, beschauliches Leben im Dienste der Gemeinde. Dabei tut Talnoks sich besonders durch seine Frömmigkeit hervor, die zuweilen schon einmal exzessive Züge annehmen kann. Beispielweise scheucht er Liebespaare auseinander, die er nach dem Sonntagsgottesdienst auf Parkbänken knutschen sieht, und predigt Esfir so lange den keuschen Lebenswandel bis diese sich Pavel irgendwann vollends sexuell zu verweigern beginnt. Doch die heilige Existenz erhält jähe Risse als eines Tages ein Fremder vor der Pfarrhaustür steht, der erklärt, er habe sich verlaufen, außerdem sei sein Fuß verletzt, und da für ihn noch eine weite Strecke zu marschieren sei, bitte er den Geistlichen um ein Obdach für die Zeit, die sein Körper braucht, um sich zu regenerieren. Der vor Nächstenliebe nahezu berstende Talnoks schlägt dem Wandersmann dies natürlich nicht ab und quartiert ihn sogleich in seinem Gästezimmer ein. Was er nicht ahnt, der Zuschauer jedoch längst weiß: der Fremde ist freilich niemand anders als Satan höchstpersönlich, der von so viel Züchtigkeit wie sie im Hause Talnoks herrscht dazu angestachelt worden ist, genau dort die Samen der Wollust zu streuen. Es dauert auch nicht lange und schon hat seine pure Präsenz dazu geführt, dass sowohl in Esfir als auch in Talnoks Gefühle aufkeimen, die die beiden schon seit Ewigkeiten unterdrückt haben. Argwöhnisch beäugt Pavel, dass seine Gattin öfters mal mit dem Fremden im Zwiegespräch tuschelt, und dass Talnoks immer öfter unkonzentriert ist und Esfir mit merkwürdigen Blicken folgt. Es kommt schließlich wie es kommen muss: als Esfir sich durch ein Fenster in die Pfarrersstube hineinbeugt, gerät ihr wogender Busen direkt in das priesterliche Blickfeld, die Verführung ist vollendet, den Pastorenphallus hält kein Gott geleisteter Schwur mehr vom Antritt seiner Herrschaft ab. Nachdem Talnoks ein frommes Gemälde durch das oben erwähnte satanische ersetzt hat, machen es sich Esfir und er unter ihm gemütlich und begehen Unzucht. Da die letzten Minuten dieses ersten Akts von SATANA LIKUYUSHCHIY verschollen sind, kann ich anhand der spärlichen Texttafeln bloß mutmaßen, was aus Talnoks und Pavel wird. Jedenfalls sind beide zu Beginn des zweiten Akts tot, und Esfir hat ein Kind geboren, offensichtlich aus der sündigen Verbindung mit dem eigenen Schwager, und dieses Kind ist ein junger Mann inzwischen schon, heißt Sandro, und fühlt in sich ein Künstlerherz pochen, durch das er zum gefeierten Pianisten aufsteigt.
Wenn der erste Teil von SATANA LIKUYUSHCHIY im übertragenen Sinn von einem Sündenfall berichtet und damit, nach christlicher Terminologie, mit dem Oberbegriff Genesis überschrieben werden könnte, handelt der zweite und letzte von einer Erlösung ähnlich der, die die Christenheit durch den Kreuzestod Jesu erfahren hat. So als würde man nur den linken und den rechten Flügel eines Triptychons betrachten, während der ganze, dem Irdischen gewidmete Mittelteil ausgelassen wird, erzählt SATANA LIKUYUSHCHIY im Grunde nichts anderes als die christliche Heilsgeschichte in parabelhaftem, volkstümlichem Ton, und ist damit überhaupt nicht weit entfernt von dem vergessenen Meisterwerk des frühen deutschen Films DIE TEUFELSKIRCHE (1919), dem ich kürzlich die eine oder andere euphorische Zeile gewidmet habe. Beide Filme nähern sich ihrem Stoff mit einer Naivität, die ihm vollkommen entspricht. Beide Filme haben eine simple, einfache Botschaft, verpackt in einer simplen, einfachen Erzählung. Beide Filme überschreiten jedoch quasi nebenbei immer mal wieder Grenzen des guten Geschmacks die in den späten 1910ern noch höher und strenger bewachter gewesen sein dürften als heutzutage. Zwar lehnt sich SATANA LIKUYUSHCHIY niemals derart weit aus dem Fenster der Sittsamkeit wie das DIE TEUFELSKIRCHE nicht nur mit seinen höchsterotischen Nymphentänzen tut, jedoch kann man auch dem Film Protazanovs nicht absprechen, dass in ihm vor allem gegen Ende des ersten Akts eine äußerst schwüle, erotisch knisternde, verschwitzte Atmosphäre der Geilheit regiert. Richtige Sexszenen wird man hier zwar keine zu Gesicht bekommen, doch allein die Szene, in der der Priester und seine Schwägerin sich unter dem Satansgemälde räkeln, lässt der Phantasie eigentlich wenig übrig, das sie sich noch darüber auszumalen bräuchte, was die beiden dort miteinander veranstalten. Im zweiten Teil dann, der in der als dekadent und verlottert geschilderten modernen Kunstszene spielt, schwelt stimmungstechnisch eine ausgelaugte, übersättigte Sexualität permanent im Hintergrund. Sandro, dessen Erfolg mitunter auf einem Klavierstück namens Satana Likuyushchiy beruht, das vom Teufel höchstpersönlich komponiert worden zu sein scheint, bewegt sich in Kreisen, die aus komplett verworfenen Künstlerfiguren und liebeshungrigen, champagnersüchtigen Prostituierten bestehen, sprich: so weit wie möglich entfernt von Talnoks Pfarrhausparadies. Schwarzweißzeichnerisch werden Oppositionspaare und Dichotomien eröffnet, die unterstreichen wie bewusst unreflektiert und kindlich dieser Film funktioniert: das Dorf ist, wenn nicht der Garten Eden, so doch zumindest ein Vorplatz davon, die Stadt demgegenüber ein Sündenpfuhl, in dem jeder, einmal darin verstrickt, sich nur mit göttlicher Hilfe an den eigenen Haaren aus dem Morast ziehen kann.
Aber – und das eint den Film erneut mit DIE TEUFELSKIRCHE – Form und Inhalt von SATANA LIKUYUSHCHIY verschränken sich derart sinnig ineinander, dass das Werk eine völlig runde Sache ergibt, die unterhält, zuweilen verwundert, oftmals schmunzeln lässt. Außerdem muss ich unbedingt noch die schauspielerischen Leistungen zweier Akteure hervorheben: zum einen Alexandr Chabrov als Satan, dessen breites Grinsen einen allein schon in die nächtlichen Träume verfolgen kann, sowie vor allem Ivan Mozzhukin, dem eigentlichen Star des Films, der sowohl Pfarrer Talnoks als auch dessen unehelichen Sohn Sandro verkörpert, und als aufgegeilter Geistlicher genauso überzeugend wirkt wie als sinnsuchender, zwischen zwei in seiner Brust schlagenden Seelen hin und her gerissener aufstrebender Stern am Künstlerhimmel. SATANA LIKUYUSHCHIY mag knapp einhundert Jahre auf dem Rücken haben und ein Film sein, der, allein historisch betrachtet, an der Schwelle einer Geschichtszäsur steht – nur wenige Wochen nach seinem Erscheinen brach das russische Zarenreich endgültig unter dem Ansturm der Revolution zusammen -, ich kann dem Werk dennoch oder gerade deshalb nicht wenig abgewinnen, und empfehle es jedem, der sich dafür interessiert wie das Horrorgenre aussah, während es noch in Kinderschuhen steckte, seine ersten Schritte wagte und gerade zahnte.