La part de l'ombre - Olivier Smolders (2014)
Verfasst: Fr 18. Sep 2015, 18:37
Originaltitel: La part de l'ombre
Produktionsland: Frankreich / Belgien 2014
Regie: Olivier Smolders
Darsteller: Marie Lecomte, Benoît Peeters, Bouli Lanners, Tatiana Nette, Pierre Lekeux, Moreau Marcel
Im Oktober 2010 veranstaltet die Brüsseler Galerie de l’Aigle eine Retrospektive des ungarischen Photographen Oskar Benedek. Es ist seine erste Werkschau seit 1944, jenem Jahr, in dem Benedek, am Vorabend seiner bis dato größten Ausstellung, spurlos aus seiner Budapester Wohnung verschwunden ist. Auch die 2010er Retrospektive ist umschattet von Mysterien. Kurz vor Ausstellungseröffnung sollen die Veranstalter einige Photographien, die bereits die Wände geziert hatten, wieder abgehängt und somit in letzter Minute vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen haben. Sie würden das öffentliche Empfinden verletzen, lautet die Begründung. Aufgenommen wurden diese geheimnisumwitterten Bilder in einer Wiener Kinderklinik gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Zu sehen sind Kinderleichen, ausgehöhlte Schädel, noch lebende Kinder, denen bei vollem Bewusstsein die Gesichtshaut abgezogen oder die Augen aus den Höhlen geschnitten werden. Wie sind diese Aufnahmen zustande gekommen? Ist Benedek tatsächlich ihr Urheber? Stehen sie irgendeinem Zusammenhang zu seinem mysteriösen Verschwinden vor über einem halben Jahrhundert? In den einzigen beiden von einem Off-Sprecher begleiteten Passagen stellt die Dokumentation LA PART DE L’OMBRE von Olivier Smolders genau diese Frage und deutet an, in ihrer knappen halbe Stunde vielleicht keine klare Antworten, jedoch zumindest den einen oder anderen Lösungsansatz für sie finden zu können.
Oskar Benedek wurde, heißt es zumindest in einer französischen Monographie von 1952, 1911 in Budapest geboren. Im Alter von elf Jahren bekommen er und sein Zwillingsbruder Miklos von ihrem Vater, einem Verwaltungsangestellten, ihre erste Kamera geschenkt. Ihre liebsten Motive sind Tiere: Pferde, Tauben, Kätzchen. Als die beiden dreizehn sind, stirbt Miklos. Oskar wird seinen Tod nie verwinden, schreibt ihm lange Briefe in sein Tagebuch, beginnt, seine Photographie nicht mehr als Möglichkeit zu begreifen, die Zeit einbalsamieren und dem Tod damit entgegenwirken zu können, vielmehr sieht er ihre Bestimmung fortan darin, die Dinge auszulöschen, auf die er die Linse seiner Kamera richtet, sie zu töten, zu vernichten, effektiver als mit Kugeln, schreibt er. In den zwanziger Jahren verschlägt es ihn nach Paris, wo er die Bekanntschaft mit Künstlern wie Breton, Eluard und Picabia macht. Seine Photos werden surrealer, obszöner, avantgardistischer. Er experimentiert mit neuen Formen des Ausdrucks und der Technik. Parallel dazu verkompliziert sich sein Seelenleben. Nach einem missglückten Selbstmordversuch, verübt aus Liebeskummer, zieht es ihn in den späten Dreißigern nach Ungarn zurück, wo er seine Muse Krisztina Ligeti kennenlernt, die ihn zu erotischen Bildserien inspiriert, so lange zumindest bis man sie 1943 nach Bergen-Belsen deportiert. Etwa zeitgleich nimmt Benedek Kontakt zu dem deutschen Arzt Dr. Klein auf. In regelmäßigen Therapiesitzungen erzählt er ihm von Lukas Nadasky, seinem Freund aus Kindertagen und späteren künstlerischen Weggefährten, dem Verlust seines Bruders, seinen Depressionen und Selbstzweifeln. Künstlerisch beschäftigt er sich in diesen Tagen mit dem Verschwinden. Seine Photographien werden diffuser, abstrakter. Menschen, Dinge lösen sich in ihnen auf. Den Nerv der Zeit trifft er mit ihnen immerhin so weit, dass im Februar 1944 seine erste große Ausstellung ansteht. Die gesamte Budapester Prominenz und Stadtelite ist geladen. Wer jedoch nicht auftaucht, das ist Benedek selbst. Einen Monat später besetzen deutsche Truppen die ungarische Hauptstadt, die Ausstellung wird sofort geschlossen, der im kommunistischen Untergrund tätige Benedek als entarteter Künstler und Bolschewistenspitzel diffamiert. Von ihm selbst fehlt bis heute (fast) jede Spur.
LA PART DE L’OMBRE ist vollständig aus Originaldokumenten komponiert. Presseauszüge und Polizeiberichte, die Ereignisse im Frühjahr 1944 betreffend. Interviewszenen mit Lukas Nadasky, der als alter Mann zurückgezogen in seiner Pariser Wohnung lebt, und Krisztina Ligeti, die das Schicksal Bergen-Belsen hat überleben lassen. Benedeks Tagebuchaufzeichnungen von 1935 bis 1944. Sitzungsprotokolle seines Arztes, Dr. Klein. 8mm-Filme aus dem Nachlass Benedeks. Vor allem natürlich seine Photographien, die den Löwenanteil an Bildern ausmachen, mit denen Smolders die verstrickte, dichte Geschichte – oder besser: Geschichten - des Photographen erzählt. Es sind Aufnahmen von Landschaften, die durch den ungewöhnlichen Blickpunkt der Kamera surreal wirken oder durch das extreme Schwarzweiß. Es sind Aufnahmen von Paris und Budapest, alltäglich, Vergangenes schildernd, Details aufdeckend, die einem beim bloßen Schauen leicht entgehen können. Es sind Aufnahmen von Menschen: toten, namenlosen Kindern auf OP-Bahren, von Benedeks Liebsten, seinem Bruder, seinen Frauen, von Leuten, die ihm zufällig auf der Straße aufgefallen sind. Dabei erzählen diese Bilder immer wieder ihre ganz eigenen Geschichten. Wir hören einen Polizeibericht vom Februar 1944. Benedeks Hauswirtin hat seine Wohnung leer vorgefunden, ohne Möbel, ohne ihn. Dazu zeigt Smolders uns eine ältere Frau, die freundlich in die Kamera lächelt. Der ältere Mann auf der nächsten Photographie, ist das ihr Gatte? Die Balustrade, auf der sie stehen, ist das die, auf die Benedek hinausgetreten ist, wenn er seine Wohnung verlassen hat? Aber wer ist die junge Frau, die kurz darauf auf zwei Photos auftaucht? Sie fährt auf der Donau. Genau dort soll Benedek ertrunken sein. Heißt es zumindest in einem späteren Polizeibericht, nunmehr auf Deutsch, nach der Okkupation.
LA PART DE L’OMBRE ist selbst wie eine Ausstellung. Wir bewegen uns in der Geschichte Benedeks vor und zurück. Die Geschichte Europas wird quasi nebenbei erzählt. Von der Künstlerszene im Paris der 20er. Von Nazi-Ärzten mit unaussprechlichen Experimenten, die nach Ende des Krieges unbescholten weiter in Wien agieren durften. Von Stasi-Archiven, aus denen nach 1990 Dinge auftauchen, mit denen niemand mehr gerechnet hätte. Mögen diese Eckpfeiler der Historie einigermaßen klar sein, die Pseudo-Fakten, die Benedeks Geschichte stützen, sind fast allesamt auf Hypothesen aufgebaut. Exemplarisch führt Smolders uns all diese Möglichkeiten vor. Hat Benedek wirklich, wie Dr. Klein andeutet und wie es im Polizeibericht der Besatzer heißt, Selbstmord begangen? Oder ist er, von wem auch immer, entführt worden, vielleicht weil er zu viel wusste über bestimmte Vorgänger in einer Wiener Kinderklinik? Oder hat er gar seinen Tod bloß vorgetäuscht, um, in Komplizenschaft mit seinem Galeristen, seine Popularität anzustacheln? Nadasky behauptet, er habe nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unter falschem Namen in Paris gelebt. Sie hätten Dr. Klein noch einmal besucht, 1962 in Hallstadt. Seltsamerweise stirbt dieser kurz darauf, wird mit schrecklich entstelltem Gesicht ermordet aufgefunden. Auch soll Benedek irgendwann nichts weiter mehr photographiert haben als Selbstportraits von sich selbst. Nach und nach sei er dadurch verschwunden. Nadasky behauptet, gewusst zu haben, er liege in seinem Bett, doch er sei nicht sichtbar für ihn gewesen, seiner fleischlichen Existenz beraubt, verwandelt in ein Gespenst. Oder ist das alles nur das wirre Reden eines Tattergreises?
Wie steht es aber um LA PART DE L’OMBRE selbst? So wenig wie die unterschiedlichen Erklärungsmuster zusammenpassen, so wenig ergibt dieser Film selbst Sinn in sich selbst. Angeblich soll Benedek 1911 geboren worden sein. Später heißt es, er sei 1923 nach Paris übergesiedelt. Als Zwölfjähriger? Dr. Kleins Vorname ist in der einen Quelle Siegfried, in einer andern Helmut. Einmal stirbt Miklos mit dreizehn, dann doch mit zwölf Jahren. LA PART DE L’OMBRE ist einfach nur schlecht recherchiert, könnte man glauben. Aber was ist dann mit dem Eingangszitat von Edme de la Taille de Gaubertin aus dem Jahre 1775: „Manch einer verpaart Lüge mit Wahrheit so geschickt, dass es ebenso gefährlich ist, ihm zu glauben, wie es nicht zu tun.“?Nun, die Wahrheit ist, dass nichts an LA PART DE L’OMBRE der Wahrheit entspricht. Die Lüge ist, dass LA PART DE L’OMBRE komplett der Erfindungskraft von Olivier Smolders und seinem Co-Autor Thierry Horguelin entsprungen ist. Oskar Benedek hat nie gelebt. Kaum eins der schockierenden Photos ist authentisch. Es gab nie eine Skandalausstellung 2010 in Brüssel. Sämtliche Dokumente sind fingiert, sämtliche Bilder entstammen der Kamera des zeitgenössischen Photographen Jean-Francois Spricigo. Bi auf die historischen Fakten stimmt hier gar nichts. LA PART DE L’OMBRE ist eine Fiktion, ein Schwindel, Lug und Trug.
An der hohen Emotionalität, die LA PART DE L’OMBRE auf mich ausstrahlt, ändert dies gar nichts, im Gegenteil. Wenn Smolders auf etwas hinweist, dann, wie sehr konstruiert letztlich jeder Versuch ausfallen muss, mit dem wir die Vergangenheit für uns ordnen wollen. Er tut das ohne den Gestus von jemandem, der einem eine Binsenweisheit verkaufen möchte. Vielmehr bleibt er dem düsteren, morbiden, schwarzhumorigen, selbstreflexiven Stil treu, den er seit seinen ersten Kurzfilm in den 80ern kontinuierlich weiterverfolgt. Er erzählt nichts, sondern lässt seine Bilder erzählen, oder noch eher das, was die Bilder in seinem Publikum auslösen. LA PART DE L’OMBRE ist eine Sammlung von Bruchstücken, die, je nach der Art und Weise wie man sie zusammensetzt, ein anderes Bild ergeben. Jedes dieser sich ergebende Bilder ist dabei genauso bedrückend und berührend wie die, mit denen Smolders seine narrativen Fetzchen zu uns transportiert. Ich denke an die Schwäne vor Dr. Kleins Seehaus wie sie die Hälse miteinanderverschränken, sodass es für einen Moment aussieht, als würden sie ein Herz bilden. Ich denke an die Photos, die Benedek von sich selbst schießt, mit jedem sich etwas mehr von seiner Substanz subtrahierend. Ich denke an die Schreie der Kinder kurz vor dem Verstummen, wenn man ihnen die Gehirne freilegt oder die Gesichtshaut abzieht.