O fovos - Kostas Manoussakis (1966)

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Salvatore Baccaro
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O fovos - Kostas Manoussakis (1966)

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Originaltitel: O fovos

Produktionsland: Griechenland 1966

Regie: Kosta Manoussakis

Darsteller: Anestis Vlahos, Elli Fotiou, Elena Nathanail, Alexis Damianos, Mairi Hronopoulo
Nachdem ich kürzlich den relativ zeitgenössischen argentinischen Rape-&-Revenge-Thriller NO MORIRÉ SOLA aus dem Jahre 2008 einer vergleichsweise harten Vivisektion unterzogen habe, kramte ich in meinem Gedächtnis, ob es denn nicht einen Film gäbe, den ich an seiner statt empfehlen könnte, und der, zumindest ansatzweise, ähnliche Zutaten in sich vereint wie Adrián Garcia Boglianos unsympathisches Frauenfolterfest. Meine Wahl fiel schließlich auf einen griechischen Film aus dem Jahre 1966 namens O FOVOS (dt.: Die Angst), inszeniert und geschrieben von Kostas Manoussakis, der in seiner Lebenszeit von 1929 bis 2005 exakt drei Filme gedreht hat, von denen der vorliegende der letzte ist. Meiner Meinung nach handelt es sich bei O FOVOS um einen herben Schlag in die Mägen des Publikums, der, glaube ich, sowohl Zuschauer, die am europäischen Autoren- bzw. sogenannten Arthouse-Kino der vergangenen Jahrzehnte interessiert sind, als auch welche, deren Interesse hauptsächlich sexuell exploitativer Themen gilt, sofern sie denn ihre Ansprüche nicht auf das Niveau eines NO MORIRÉ SOLA heruntergeschraubt haben sollten, für sich gewinnen kann.

Die Familie Kanalis führt ein mehr oder minder gewöhnliches Leben im griechischen Hinterland. Man unterhält einen kleinen Bauernhof, verdient sich seinen Tageslohn mit den eigenen Händen, ist eingebunden in eine weitgehend hermetisch gegen die Außenwelt abgeriegelte, konservative Dorfgemeinschaft, deren Normen und Werte allgemeingültige Gesetze sind. Natürlich braucht man die fromme Fassade des katholischen Örtchens nur ein bisschen heftiger zu streichen und schon offenbaren sich die gleichen zwischenmenschlichen Abgründe wie man sie von jeder Großstadt kennt: Vater Dimitros Kanalis ist Trinker und zwingt seine Frau zum Sex, wenn er spätnachts berauscht aus der Kneipe nach Hause taumelt. Töchterchen Anna ist verliebt in einen jungen Mann, gegen den ihr Vater jedoch alle möglichen Einwände vorbringt, und deshalb plant, sie gegen ihren Willen mit einem Bräutigam seiner eigenen Wahl zu verehelichen. Bei Sohn Anestis handelt es sich um einen ein wenig mental beeinträchtigten jungen Mann, der aufgrund seines nicht unbedingt den gängigen Schönheitsidealen der westlichen Welt entsprechenden Äußeren und seiner geistigen Behinderung schon seit Kindheitstagen gehänselt und verspottet wird, sich seitdem in nahezu kompletter Isolation von der übrigen Dorfjugend aufhält, inzwischen emotional regelrecht verkrüppelt ist und sich nichts sehnlicher wünscht, als endlich einmal eine Freundin, oder gar Frau, zu haben, die ihn liebt für das, was er ist. Die Einzige innerhalb des fünfköpfigen Familiengefüges, die mit sich und ihrer Rolle in der Welt zufrieden scheint, ist Hrysa, ein taubstummes Mädchen, das Vater und Mutter Kanalis vor Jahren als Magd einstellten und damit quasi adoptierten. Von einigen Dorfbewohnern wird sie als halbe Heilige verehrt. Sie soll die Mutter Maria gesehen haben. Ihr fehlendes Gehör, ihre fehlende Sprache sollen Zeichen göttlichen Segens sein. Ausgerechnet sie ist es, auf die Anestis‘ unterdrückte sexuellen Gelüste sich mehr und mehr richten.

Als er eines Tages zufällig ein Liebespaar beim Geschlechtsverkehr im an einem abgelegenen Feldweg geparkten Auto überrascht und den Prügeln des männlichen Parts der Vereinigung nur mit letzter Mühe entkommen kann, lässt sich seine überschäumende Geilheit nicht mehr im Zaum halten. Er trifft Hrysa in der Scheune beim Kuhmistschaufeln, überwältigt sie, vergewaltigt sie. Als das Mädchen in Hilfeschreie ausbrechen will, erschlägt er sie im Affekt, versucht anschließend, die Leiche verschwinden zu lassen, verrät sich aber bereits nach wenigen Minuten vor seiner Mutter. Schnell ist Vater Dimitros klar, was der einzige Weg ist, mit der Situation umzugehen: um seine Familie vor dem kollektiven Ausschluss aus der Dorfgemeinschaft zu bewahren, versenkt er Hrysas Leiche im nahen See, den Dorfbewohnern wird erzählt, das Mädchen sei, wie schon einmal, ohne ein Wort davongelaufen, Anestis soll mit niemandem über seine Tat sprechen, selbst Anna darf nichts von ihr erfahren. Natürlich ist das Problem damit nicht aus der Welt. Obwohl erneut nach außen hin alles den gleichen eintönigen Frieden wie immer atmet, brodelt es innerhalb der Familie Kanalis gewaltig. Anna beginnt zu ahnen, dass etwas an Hrysas Verschwinden nicht stimmen kann. Mutter Kanalis plagt ein schlechtes Gewissen. Vor allem Anestis aber steigert sich in einen regelrechten Verfolgungswahn, eine panische Angst hinein, die ihn zunehmend in ein gehetztes Tier verwandelt…

Jedem dürfte klar sein, dass man von einem Film aus dem Jahre 1966 keine Gewaltexzesse oder ausufernde Vergewaltigungsszenen erwarten darf. Kostas Manoussakis zeigt aber mit O FOVOS bereits vor der großen Welle an Filmen, die ein ähnliches Sujet auf derartig exzessive, ausufernde Weise behandeln, wie man sein Publikum mit wesentlich stilleren, reduzierteren Mitteln zutiefst verstören kann. Die Szene, in der Anestis sich Hrysa erst sexuell unterwirft und dann tötet, ist ein Meisterstück darin, die Würde der beteiligten Personen zu wahren und sich eben nicht in schamlosen Voyeurismus zu verstricken, die Handlung zugleich jedoch kein bisschen zu verharmlosen oder gar konsumierbar zu machen. Lautlos, höchstens unterbrochen von den Geräuschen, die die Stallkühle beim Gehen, Schwanzwedeln oder Muhen machen, wälzen sich die beiden jungen Menschen im Stroh, scheinbar teilnahmslos beobachtet von einer Kamera, die nicht an dem Akt partizipiert, ihn nicht verurteilt, ihn nicht feiert. Manoussakis exzellente Schwarzweißkinematographie mit ihren expressionistischen Schattenspielen rahmt das Opfer und seinen Täter unaufdringlich, ohne das Geschehen abzuschwächen, ohne es unnötig zu melodramatisieren.

Meiner Meinung nach ist genau dies die Stärke von O FOVOS: dieser Film beobachtet seine Figuren von einer gewissen Distanz aus, allerdings nicht zu weit entfernt, als dass der Zuschauer nicht doch Sympathien für den einen oder anderen Charakter entwickeln könnte – nur ist es eben so, dass der Film uns selbst nicht vorgibt, wem nun unsere Sympathien gelten sollen oder nicht. Ähnlich wie Michael Haneke es gerne tut, fordert Manoussakis sein Publikum auf, einen eigenen Standpunkt zu finden, sich Antworten auf bestimmte, sich aufdrängende Fragen eigenständig zu geben: ist Anestis Opfer oder Täter oder beides zugleich?, wie hätten seine Eltern besser handeln können?, wie viel Schuld muss überhaupt den Eltern und der gesamten Dorfgemeinschaft an Hrysas Tod angelastet werden? An Haneke erinnert ebenfalls der Plot. Wie in BENNYS VIDEO (1992) geht es in O FOVOS etwa ab Filmmitte um einen von einem Sohn verübten Mord (oder Totschlag), den die Eltern aus Prestigegründen zu vertuschen gedenken – eine Idee, die man übrigens, O FOVOS zeitlich näherliegend, ebenso in Roland Klicks BÜBCHEN (1968) findet. Manoussakis Fokus liegt hierbei freilich nicht so sehr auf dem Krimi- oder Thriller-Aspekt der Geschichte – wird die Familie es schaffen, Hrysas grausigen Tod vor ihrer Umwelt geheimzuhalten? -, stattdessen konzentriert er sich völlig auf das Innenleben seiner Figuren, legt O FOVOS an wie eine Psychen- und Sozialstudie, eine Materialsammlung gesellschaftlicher und psychologischer Daten – und kann darin als Bruder im Geiste von Filmen wie Nikos Papatakis‘ OI VOSKOI (1967) oder Peter Fleischmanns JAGDSZENEN AUS NIEDERBAYERN (1969) bezeichnet werden, mit dem Unterschied, dass der revolutionäre Gestus, der Papatakis und Fleischmann unverhohlen innewohnt, in O FOVOS hinter dem naturalistischen Studium der Welt weit zurücktritt: der Autor steht seiner eigenen Geschichte nicht im Wege.

Ein weiterer Film, zu dem ich zwangsläufig Parallelen ziehe, ist Youssef Chahines BAB EL HADID (1958), der, ähnlich wie O FOVOS, in seinem Kern das Portrait eines jungen Mannes darstellt, mit dem es das Schicksal nicht gutmeinte, und der darüber zum Lustmörder wird. Chahine, der seinen tragischen Antagonisten Kinawi selbst spielt, steht Anestis Vlahos‘ Darstellung des Anestis Kanalis in O FOVOS letztlich in nichts nach. Beide Schauspieler scheinen mir förmlich mit ihren Rollen zu verschmelzen: ich kaufe Anestis alles ab, was er auf der Leinwand verkörpert, seine Einsamkeit und Verzweiflung, seine erwachenden und immer stärker werdenden sexuellen Triebäußerungen, seine unbändige Angst, als er glaubt, jeder könne ihm seinen Mord von der Stirn ablesen. Doch auch sämtliche anderen Figuren in O FOVOS sind so brillant gezeichnet wie möglich: sei es nun die unglücklich verliebte Anna, pendelnd zwischen Rebellion gegen die väterliche Autorität und Resignation, oder Mutter Kanalis, die derart in sich zurückgezogen lebt, dass man jedes ihrer Gefühle quasi anhand minimaler Gesten erahnen muss, oder sogar eine Nebenfigur wie Anestis‘ einziger Bekannter Nikos, der ihm den Rat erteilt, seine noch intakte Jungfräulichkeit bloß nicht vor den jungen Männern des Dorfes zu thematisieren und die Tragweite der inneren Qualen Anestis' überhaupt nicht begreift. Zudem ist der Film, neben einem für 1966 ziemlich überraschenden Atonal-Soundtrack, dessen Klänge die in den Bilden heraufbeschworene Weltuntergangsstimmung effektiv unterstützen, voll mit winzigen Details, die uns die Charaktere, ob wir wollen oder nicht, näherbringen. Besonders berührt hat mich eine Geste im Ehebett von Dimitrios und seiner Frau. Sie hat sachte Zweifel daran geäußert, ob es denn wirklich richtig ist, einen Mörder, und wenn er denn ihr eigener Sohn sei, zu decken. Dimitros sagt nichts, legt stattdessen seine rechte Hand auf ihre linke. Es ist die einzige Zärtlichkeit, die wir zwischen den beiden während des gesamten Films sehen werden. Soll es Zeichen von Liebe und Verbundenheit sein? Soll es die ängstliche Frau beruhigen und zurück auf Spur bringen? Oder rutscht das Handauflegen Dimitrios einfach so heraus, ohne dass er vorher darüber nachgedacht hat? Erneut bleibt es uns überlassen, was wir daraus machen. Mich hat es fast zu Tränen gerührt.

Ich empfehle, wie man hört, O FOVOS nachhaltig jedem. Dieser Film wartet auf seine Wiederentdeckung – und ich warte mit ihm.
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