Manakamana - Stephanie Spray, Pacho Velez (2013)

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Salvatore Baccaro
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Manakamana - Stephanie Spray, Pacho Velez (2013)

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Originaltitel: Manakamana

Produktionsland: Nepal/USA 2013

Regie: Stephanie Spray, Pacho Velez

Darsteller: Chabbi Lal Gandharba, Anish Gandharba, Bindu Gayek
Im tiefsten Nepal liegt der Tempel von Manakamana, ein der Hindu-Göttin Bhagwati geweihtes Heiligtum, dessen Namen sich aus den Worten mana, was Herz bedeutet, und karma, was Wunsch bedeutet, zusammensetzt. Bis in die 90er Jahre hinein mussten die zahlreich zu der Sakralstätte strömenden Pilger in mühsamen Märschen den über eintausend Meter hohen Berg zu Fuß ersteigen, um, auf dem Gipfel angelangt, von der Göttin jenen Wunsch erfüllt zu bekommen, den sie an der exponiertesten Stelle ihres Herzens trugen. In den letzten zwanzig Jahren haben einschneidende Veränderungen den Komfort der Pilgerreise enorm gesteigert. Eine Seilbahn ist es nun, die einen innerhalb von zehn Minuten hoch auf die Bergesspitze bringt und einem zudem einen sensationellen Ausblick auf das unterhalb des Tempels liegende Tal mit seinen beiden Flüssen Trisuli und Marsyangdi gewährt. Im Jahre 2013 drehen Stephanie Spray und Pacho Velez, beides Mitarbeiter des interdisziplinären Sensory Ethnography Lab der Harvard-Universität, in Wägen eben dieser Seilbahn ihr Gemeinschaftsprojekt MANAKAMANA, das ich zu dem Besten zählen muss, was mir an Filmen der letzten Jahre zu Gesicht gekommen ist.

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Schon bei einer klaren Einordnung, ob MANAKAMANA denn nun ein dokumentarisches Werk sein soll, ein Filmessay, oder vielleicht sogar ein mit einem etwas ungewöhnlichen Ansatz versehener Spielfilm, scheiden sich meine Geister. Das Konzept von Spray und Velez lautet wie folgt: Insgesamt elf Mal wird in MANAKAMANA die Seilbahn einen ihrer Wägen hinauf zum Tempelberg oder von diesem zurück ins Tal befördern. Insgesamt elf Mal befindet sich die Kamera dabei in dem jeweiligen Bahnwagen und dokumentiert statisch, ohne Schnitt, für die zehn Minuten, die die Fahrt dauert, was in diesem geschieht. Dadurch wechseln insgesamt elf Mal unsere Protagonisten: jedes Mal, wenn der Wagen oben oder unten angekommen ist, steigt man aus, um seinem Platz jemand anders zu übergeben. Facettenreich sind die Menschen, die dadurch ins Visier von Velezs und Sprays Kameraauge geraten. Von frommen Pilgern, beladen mit Blumen oder Schlachtvieh als Opfergaben für die gnädig zu stimmende Gottheit, über säkulare Metal-Fans, die die Reise zum Tempel wenig ernst zu nehmen scheinen, bis hin zu einer amerikanischen Touristin, die nach anfänglichem Schweigen dann doch mit ihrer Banknachbarin, einer Nepalesin, ins Gespräch kommt, ist in den elf Sektoren von MANAKAMANA eine ganze Bandbreite unterschiedlicher Menschen, unterschiedlicher Lebensentwürfe, unterschiedlicher Kulturen und vor allem unterschiedlicher Antriebsfedern für die Besichtigung des Heiligtums vertreten. Genauso unterschiedlich ist aber auch das Verhalten der jeweiligen Reisenden. Ein alter Mann und ein kleiner Junge, möglicherweise sein Enkel, sagen die gesamten zehn Minuten kein Wort, scheinen vollkommen versunken in ihren Gedanken und dem atemberaubenden Panorama, das wir, die wir den Fokus auf sie gerichtet haben, freilich nur angedeutet in den Augenwinkeln bzw. als Rahmung um die Gondel herum sehen können. Das erste Wort fällt sowieso erst nach fünfundzwanzig Minuten, als ein Ehepaar sich darüber unterhält, wie großartig doch die Aussicht sei, und dass man eine bestimmte Tasche zu Hause vergessen haben, und dass einem aufgrund des rapiden Höhenwechsels die Ohren zufallen. Dass MANAKAMANA kein Film ist, der über Dialoge funktioniert, beweist zudem eine Gondelfahrt, bei der die Insassen keine Menschen, sondern eine Herde Ziege ist, mutmaßlich Opfertiere, die ununterbrochen meckern und von denen eine der Kamera demonstrativ ihren Allerwertesten zukehrt. Jedes dieser Segmente kann man als eigenständige Einheit betrachten, die narrativ nicht mit den übrigen verknüpft ist. Nur einmal wiederholen Spray und Velez sich, als nämlich das Ehepaar aus Fahrt Nummer drei in der elften und letzten Fahrt wiederkehrt: der Tempel wurde von ihnen mit einem Besuch beehrt, sie sind fertig, treten die Heimreise an.

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Trotzdem fallen einem Dinge auf, die irritieren und den Eindruck vereiteln, Spray und Velez könnten tatsächlich einfach, ganz im Sinne des cinema verité, authentische Pilgerreisenden bei ihrer authentischen Fahrt auf den Manakamana-Gipfel gefilmt haben. Zum einen: keiner der Menschen schaut jemals direkt in die Kamera. Wäre diese für sie unsichtbar gewesen, hätte das doch irgendwann einmal passieren müssen, oder nicht? Andererseits: kann man in einem derart überschaubaren Seilbahnwagen überhaupt eine Kamera so effektiv verstecken, dass sie sowohl für die Insassen nicht sichtbar ist und trotzdem derart deutliche Bilder einfängt – zumal es sich bei MANAKAMANA um einen Film auf 16mm handelt und nicht um einen, der etwa mit einem handelsüblichen Smartphone geschossen wurde. Man kann sich das nur so erklären, dass jeder der Reisenden in das Filmprojekt eingeweiht gewesen sein muss. Der Verdacht erhärtet sich schon bei oberflächlicher Recherche: In Wirklichkeit haben die Filmemacher im Vorfeld der Dreharbeiten ein regelrechtes Casting betrieben. Sämtliche Darsteller sollen in einer knapp achtzig Kilometer entfernten Stadt engagiert worden und dann gemeinsam mit Velez und Spray per Bus nach Manakamana gereist sein. Nicht mal in den Gondeln sind die falschen Pilger allein, stattdessen haben ihnen die Filmemacher bei jeder Fahrt mit Kamera und Tonaufnahmegerät gegenübergesessen. Dass MANAKAMANA aussieht wie ein ethnographisches Artefakt, das eine vermeintliche Realität ohne inszenatorische oder manipulative Eingriffe mimetisch widergibt, ist damit nicht zuletzt einer exzessiven Illusionserzeugung geschuldet. Gerade das macht aber, meine ich, das Spannende aus an diesem Film, der sich letztlich gar nicht entscheiden will, ob er nun Dokumentation, Essay oder Illusionstheater ist. Es mag sein, dass die Menschen, die wir knapp zwei Stunden lang vor Augen geführt bekommen, ohne die Initiative von Spray und Velez nicht zum Heiligen Berg gereist wären, nichtsdestotrotz sind sie doch völlig sie selbst, artikulieren keine eingeübten Phrasen, präsentieren sich uns so, als wüssten sie nicht, dass wir sie beobachten. Genauso kann man fragen: sind die Menschen aus Warhols SCREEN TESTS weniger sie selbst, nur weil der Künstler sie an einem bestimmten Ort vor eine Kamera mit der Anweisung gesetzt hat, sie dürfen tun und lassen, was sie wollen, bis der Film voll ist?

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An wichtigsten ist mir an MANAKAMANA die ungemein subtile Art und Weise wie hier Emotionen evoziert werden, so leicht, als würde jemand mit der äußersten Spitze der Fingerkuppe eine Feder berühren und sie damit zum Fallen bringen. In manchen Fahrten herrscht eine sakrale Stille, eine Würde und Demut, als befänden wir uns kniend vor dem Heiligtum. In manchen Fahrten kann man sich einfach zurücklehnen, den Reisenden zuhören oder zusehen wie sie ihrerseits die Landschaft unter sich bewundern. In manchen Fahrten kann man sich eines Lachens nicht erwehren, bei den beiden Frauen gegen Ende zum Beispiel, die sich ein Eis vom Tempel mitgenommen haben: eine hat eine Plastiktüte, in die tropfen kann, was schmilzt, die andere, ältere, kämpft unter Gelächter mit dem ihren und saut nach und nach ihren ganzen Rock ein. MANAKAMANA ist einer dieser Filme, die Kino und Leben derart einander angleichen, dass die Grenzen wie von selbst verschwimmen. Er schärft den Blick, definitiv, und er versöhnt einen mit der Welt, und hat, ob von Spray und Velez nun intendiert oder nicht, eine transzendentale Erfahrung für mich im Gepäck, die sich anfühlt, als habe ich selbst die Reise auf den Tempelberg angetreten – um das Heiligtum dann gar nicht zu betreten, da mir mein innigster Wunsch schon während der Gondelfahrt erfüllt worden ist.
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