Originaltitel: Victoria
Produktionsland: Deutschland 2015
Regie: Sebastian Schipper
Darsteller: Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yigit, Max Mauff
Sebastian Schippers VICTORIA stellt sich der Herausforderung. Gedreht wurde er an einem Stück in etwas mehr als zwei Stunden in einer Berliner Aprilnacht, nachdem man die Wochen zuvor bereits zwei vollständige Fassungen angefertigt hatte. Freilich ist Schippers Konzept kein neues. Schon 2010 wurde beispielweise der uruguayische Horrorfilm LA CASA MUDA veröffentlicht, dessen Alleinstellungsmerkmal es eben war, in einer einzigen ununterbrochenen Kameraeinstellung entstanden zu sein. Seine aus allen erdenklichen Versatzstücken der Schauerliteratur zusammengesuchte Geschichte allein hätte wohl tatsächlich, ohne diesen spezifischen Inszenierungsstil, keine Katze hinter dem Ofen hervorgelockt. LA CASA MUDA steht exemplarisch für ein Kino, das seine Machart zum Nachteil seines Inhalts überbetont.
In seinem Kern brüht VICTORIA ebenfalls Altbekanntes auf. Wenn Schipper und sein Team schon auf der technischen Seite Wagemut zeigen, gehen sie, was die Geschichte betrifft, die sie erzählen möchten, auf Nummer sicher. Unübersehbar für mich ist der eindeutige Bezug zur Nouvelle Vague, konkret zu einem Film wie Jean-Luc Godards Spielfilmerstling À BOUT DE SOUFFLE von 1960. Dessen reine Geschichte ist ebenfalls kaum der Rede wert: Eine amerikanische Studentin in Paris verliebt sich in einen Kleinkriminellen, verrät ihn aber schließlich an die Polizei, worauf Schüsse fallen und er stirbt. Was Á BOUT DE SOUFFLE zu einer erfrischenden Dusche macht, die ein neues Kino einläutete, war und ist nicht sein Was, sondern sein Wie. Man denke an die vielen verrückten jump cuts, mit denen Godard seinen Film regelrecht zerstückelt. Oder an die vielen verrückten Dialoge, die gar nichts mit der eigentlichen Handlung zu tun haben. Natürlich sollte man die vielen verrückten Genrezitate und Querverweise nicht vergessen, mit denen Godard deutlich macht, dass er keinen traditionellen Gangsterfilm hat drehen wollen, sondern eine Art Meta-Film, in dem eher über traditionelle Gangsterfilme reflektiert, diskutiert und sich über sie amüsiert wird. Da es Godard um einen solchen selbstreflexiven Diskurs geht, braucht es schlicht keine komplexe, ausgeklügelte Fabel. Eine Frau und eine Waffe. Das reicht.
In VICTORIA findet sich all das wieder. Eine Frau gibt dem Film schon den Titel. Victoria ist Spanierin, gestrandet in Berlin, träumt von einer Karriere als Pianistin. Ihr männlicher Gegenpart nennt sich Sonne und ist verstrickt in die Vorbereitungen eines Banküberfalls, den ein Freund von ihm verüben soll, um eine alte Rechnung mit einem Gangsterboss zu begleichen. Nachdem man sich in einem Technoschuppen kennengelernt hat, dauert es nicht lange und Victoria sitzt am Steuer des Fluchtfahrzeugs, hat sich innerhalb einer Stunde zumindest ein bisschen in Sonne verliebt und er sich in sie, und es werden Schüsse fallen, und, obwohl niemanden irgendwen verrät, einer von beiden am Ende tot sein. So gesehen ist VICTORIA ebenfalls ein Meta-Film, da er auf eine stereotypische Genrefilmhandlung zurückgreift und sie höchstens hier und da etwas akzentuiert und vor allem modernisiert.
Ich muss an Gaspar Noe denken. Zwei scheinbar schnittlose Werke hat der Franzose in seiner Filmographie stehen. IRRÉVERSIBLE und ENTER THE VOID. Bei beiden Filmen ist der Inszenierungsstil eng verzahnt mit ihrem Inhalt. IRRÉVERSIBLE stellt die These auf, dass die Zeit letztlich alles zerstört, und erzählt seine Geschichte schrittweise rückwärts, beginnt mit dem blutigen Ende eines Rape&Revenge-Thrillers und arbeitet sich von dort, während die zunächst unruhige Kamera immer besonnener wird, zum schönen, hoffnungsvollen Anfang vor. ENTER THE VOID begleitet seinen Helden, der schon im ersten Drittel erschossen wird und aus dessen Sicht der gesamte Film erzählt wird – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, denn die Kamera, das sind seine beiden Augen -, selbst nach dem Tod weiter durch das bunte, grelle Tokyo. Wo IRRÉVERSIBLE mit der Zeit selbst sein versiertes Spiel treibt, zieht ENTER THE VOID seine eingangs etablierte Ästhetik mit aller Konsequenz bis zum Schluss durch. In keinem der beiden Filme kann das Wie vom Was getrennt werden. Beide bedingen einander.
Aber bedingt die Geschichte von VICTORIA den Inszenierungsstil, mit dem Schipper sie sich entspinnen lässt? Ich würde sagen Nein. Deshalb fällt mein Urteil, trotz der sicherlich applauswürdigen technischen und logistischen Leistung, die hinter dem Film steckt, dann doch nicht so euphorisch aus wie es hätte sein können, wenn VICTORIA einen plausiblen inner- oder außerfilmischen Grund dafür liefern würde, weshalb er nun unbedingt in einer einzigen Einstellung gedreht werden musste. Sicher, Schipper wollte realistisch sein, und ja, jeder Schnitt ist eine Lüge, das hat Godard gesagt, und sicher, Schipper wollte sein Publikum nicht belügen, doch ist nicht jeder Spielfilm per se eine Lüge?, und zumal einer wie VICTORIA, der seinen Realismusanspruch zum einen durch Szenen unterwandert wie die, in der unsere Helden einem Gangsterboss gegenüberstehen, der eher wirkt wie die Karikatur eines solchen, oder darin scheitert, mir seine Protagonisten derart nahe zu bringen, dass ich mit ihnen mitfühlen und sie, zumindest ansatzweise, verstehen würde, und der offene Löcher für die Logik lässt wie das große am Ende, wo es mir schlicht unrealistisch scheint, dass ein verhuschtes Pärchen, einer von beiden zudem angeschossen und blutend, während draußen die Fahndungssirenen der Polizeiautos heulen, einfach so ein Zimmer in einem gehobenen Hotel bekommen können.
Ein Satz kann poetisch klingen, er kann unzähllige rhetorische Stilmittel aufweisen, mit Alliterationen und Chiasmen spielen wie ein übermütiges Kind, mit den kühnsten Metaphern gespickt sein, über einen eigenen Rhythmus verfügen, sodass er sich fast schon singen lässt, zitierbar sein in allen möglichen Lebenslagen, und geschrieben einfach wunderschön aussehen. Aber wenn dieser Satz nichts aussagt, bloß eine Aneinanderreihung bestimmter Worte ist, nur dazu da, ihn zu einem Satz zu machen, dann vereitelt seine Selbstzweckhaftigkeit, dass ich ihn einem vorziehe, der mir neben all seiner formalen Brillanz noch etwas vermittelt, über das ich gerne und lange nachdenken möchte.