Seite 1 von 1

Tepeyac - C. González, J. Ramos, F. Sáyago (1917)

Verfasst: Do 3. Mär 2016, 18:12
von Salvatore Baccaro
Bild

Originaltitel: Tepeyac

Produktionsland: Mexiko 1917

Regie: Carlos E. González, José Manuel Ramos, Fernando Sáyago

Darsteller: Gabriel Montiel, Beatriz de Córdova, Pilar Cota, Roberto Arroyo Carrillo
Wir erinnern uns: vom 9. bis zum 12. Dezember 1531 soll einem Indio namens Juan Diego am Stadtrand von Mexico City, gerade mal knapp zehn Jahre nach dem finalen Schlag der europäischen Eroberer gegen das Aztekenreich, die Jungfrau Maria erschienen sein, um ihm den Auftrag zu erteilen, auf dem Berg Tepeyac eine ihr geweihte Kapelle zu errichten. Zunächst haben die örtlichen Priester und Bischöfe dem in ihren Augen trotz seiner Konversion zum Christentum noch halben Heiden freilich keinen Glauben geschenkt. Erst musste, wie bei den meisten Marienerscheinungen über die Jahrhunderte hinweg, ein Wunder geschehen, das den Klerus schließlich von der Wahrhaftigkeit Juan Diegos überzeugt hat. Besichtigen kann man dieses Wunder noch heute: es handelt sich um ein sogenanntes Gnadenbild auf einem aus Kaktusfasergewebe bestehenden Mantel, den Juan Diego den Zweiflern vorzeigte, und der ihm von Maria persönlich überreicht worden sein soll. Es zeigt die Gottesmutter in Gestalt eines jungen Mädchens mit gefalteten Händen, eingefasst in einen sichel- oder muschelförmigen Strahlenkranz, zu ihren Füßen ein geflügelter Engel, dessen Unterleib in einer Wolke versteckt ist. Sie trägt ein roséfarbenes Kleid und einen blaugrünen Umhang, auf dem Sterne glänzen. Angeblich bis heute ist sich die Forschung darüber uneinig, aus welchen Materialien und mit welcher Technik dieses Gnadenbild auf Juan Diegos Mantel gelangt sein soll – kein Wunder also, dass die Liebe Frau von Guadelupe in der römisch-katholischen Kirche schnell Karriere machte. Sie wurde, nachdem sie einen entscheidenden Faktor dabei gespielt hat, noch im sechzehnten Jahrhundert Millionen von Indios der Heilslehre Jesu zuzuführen, bereits von Papst Benedikt XIV. zur Schutzpatronin Mexikos erklärt. Auch Juan Diego bedachte die Kirche mit ihrem Segen. Papst Johannes Paul II. machte ihn per offiziellen Beschluss, weit über vierhundertfünfzig Jahre nach seinem Tod, zum Heiligen.

Diese fromme Geschichte bildet den Kern des mexikanischen Stummfilms TEPEYAC von 1917, dessen Stoßrichtung somit von Anfang an klar sein dürfte. Es handelt sich um einen pro-katholischen Erbauungsfilm, der das neue Medium des Kinos entweder zur spirituellen Stärkung seines Publikums nutzt oder, sollten diese noch nicht der Christenheit angehören, diese zu missionieren beabsichtigt. Erzählt wird Juan Diegos Zusammentreffen mit der Jungfrau Maria dabei jedoch in ungewohnt zurückhaltender, fast schon bescheidener Weise. So simpel wie die Legende ist, so simpel sind die Bilder, mit denen die offiziellen Angaben zufolge insgesamt drei Regisseure sie zu transportieren versuchen. TEPEYAC verzichtet auf jedwede Ornamentik und überflüssige Schnörkel und konzentriert sich ausschließlich auf die Eckpunkte seines Stoffes, wobei er diesen freilich konsequent durch eine Brille betrachtet, deren Gläser aus katholischem Buntfensterglas bestehen. Das Eintreffen der europäischen Seefahrer und das Niederringen des Aztekenimperiums – aus Budgetgründen als kleines Scharmützel im Hinterland gezeigt, wo die Indios scheinbar in Höhlen leben und die Konquistadoren in ihren schicken Rüstungen und Kostümen wie göttliche Lichtgestalten erscheinen müssen – wird genauso idealisiert und als zivilisatorischer Zugewinn geschildert wie man Juan Diegos Religiosität bis knapp zu dem Punkt übertreibt, wo sie zur Selbstparodie kippen würde: jede seiner Gesten atmet Demut, er lebt in einer armseligen Hütte, braucht nichts zum Leben außer das tägliche Gebet und ein Kreuz an der Wand – da verblüfft es einen schon ziemlich, dass die wesentlich kostspieliger ausstaffierten und wesentlich wohlgenährteren Geistlichen einem solchen Ausbund an Frömmigkeit zunächst nicht glauben wollen, was er da in der Felsenwüste gesehen haben will.

Diese Sichtungen sind nicht nur das Herzstück des Plots, sondern auch TEPEYACs größter Triumph im Visuellen und Ästhetischen. Der Unterschied nämlich zu zeitgenössischen, ähnlich gelagerten Filmen wie beispielweise der Evangelien-Verfilmung CHRISTUS des Italieners Giulio Antammoro von 1916, oder, wenn man weiter in der Filmgeschichte voranschreiten möchte, die thematisch verwandte Bernadette- bzw. Lourdes-Leinwandadaption THE SONG OF BERNADETTE von Henry King aus dem Jahre 1943, könnte kaum größer sein. Während bei CHRISTUS, durchaus dem Geist der Zeit entsprechend, sämtliche göttliche Wunder, seien es nun verkündigende Engel, der Morgenstern, der die Heiligen Drei Könige zu Christi Krippe führt, oder Jesu finale Auferweckung nach dem Kreuzestod, so wirken und aussehen, als seien mit ihnen Postkartenmotive katholischsten Kitsches oder kitschigsten Katholizismus zum (filmischen) Leben erwacht, und während die Muttergottes BERNADETTE in einem blendenden Lichtglanz aufwartet, unterlegt mit pseudo-himmlischen Chören, und einer Melodramatik, die noch den kleinsten Funken Ergriffenheit in mir mit mehreren Kopfkissen erstickt, wählen Carlos E. Gonzalez, José Manuel Ramos, Fernando Sáyago oder wer immer auch nun genau verantwortlich für TEPEYAC gewesen ist, einen derart reduzierten, im besten Wortsinne banalen Lösungsweg, das Göttliche darzustellen, dass es sie, ein paar Jahrzehnte später, fast schon in die Nähe der künstlerischen Avantgarde gerückt hätte. Wenn Juan Diego die Heilige Jungfrau trifft, dann ohne falsches Brimborium: sie steht einfach da, zwischen Felsen, irgendwo am Straßenrand, eine Schauspielerin, deren Körperhaltung dem bekannten Gnadenbild entspricht, und deren Mantel man, scheinbar indem man sie einfach auf ihn draufklebte, derart mit Strahlen gespickt hat, dass man sie für einen Igel hätte halten können. Das ist auch schon die ganze Kunst, das ganze Wunder: Maria wird in TEPEYAC nicht zu einem verklärten Wesen höherer Sphären stilisiert, sie wird gefilmt wie jeder andere der Protagonisten, befindet sich mit diesen auf einer Augenhöhe – wodurch den Erscheinungsszenen eine gewisse surreale Note innewohnt, die das mexi-kanische Publikum von 1917 wahrscheinlich noch nicht so stark empfunden hat wie ich, der ich die folgenden hundert Jahre Kinogeschichte kenne, und darin dutzende religiöser Filme gesehen habe, denen es bei weitem nicht gereicht hat, eine derart simple Lösung für solch ein sakrales Problem zu suchen und zu finden.

Dass TEPEYAC dennoch nicht zum Stummfilmäquivalent von, sagen wir, Pasolinis IL VANGELO SECONDO MATTEO wird, daran hindern ihn, meiner Meinung nach, vor allem sein Prolog und Epilog, die den Ton der Volkslegende, der im Mittelteil herrscht, unbedingt gegen einen eintauschen müssen, mit dem das Kino im frühen zwanzigsten Jahrhundert zu Menschen gesprochen hat. Bevor nämlich die alte Geschichte von Juan Diego aufgerollt wird, lernen wir zunächst eine Dame namens Lupita kennen, die ihren Mann wider Willen nach Europa losreisen sehen muss, wo er irgendwelche diplomatischen Dinge zu erledigen hat. Als sie erfährt, dass das Schiff, auf dem er den Ozean überqueren wollte, von einem deutschen U-Boot torpediert und versenkt worden sein soll – immerhin befinden wir uns 1917 noch mitten im Ersten Weltkrieg -, betet sie in ihrer Verzweiflung zur Heiligen Frau von Guadalupe. Über einem Buch, in der deren Legende erzählt wird, überfällt sie der Schlaf, und unsere Zeitreise zurück ins sechzehnte Jahrhundert wird dadurch zum Traum der emotional verstörten Braut, die schlafend das imaginiert, was ihr zuvor von dem erbaulichen Folianten verraten worden ist. Am Ende steht, wenig verwunderlich, ein Ausgang so glücklich, dass es wehtut. Die Meldung über den Tod ihres Gatten entpuppt sich als eine falsche, er steht freudestrahlend vor ihr, und gemeinsam pilgern die Liebenden zu der Marienkirche von Tepeyac, um der Gottesmutter für die wundersame Rettung zu danken. Für mich ist dieses Einbetten der Volkslegende in einen zeitgenössischen Kontext ein dramaturgischer Kniff, der meinen Gefühlen gegenüber TEPEYAC mehr schadet als dass er ihnen hilft. Ein Gebet, eine Andacht, ein fester Glaube an Gott, scheint die Botschaft beim Abspann, und schon kehrt selbst ein Totgeglaubter an den heimischen Herd zurück. Wo der Hauptteil mit seinen spröden, schnörkellosen Bildern es teilweise schafft, einen Eindruck echten Volksglaubens zu vermitteln, wirkt die Rahmenhandlung um Lupita und Carlos wie der erfolglose Versuch, genau diesen Legendenton in die Zeit des Ersten Weltkriegs zu übersetzen. Nichtsdestotrotz: wer einmal die Mutter Gottes verkleidet wie ein Igel in felsiger Kulisse sehen möchte, dem sei dieser wunderliche Film dann aber doch dringendst empfohlen…

Re: Tepeyac - C. González, J. Ramos, F. Sáyago (1917)

Verfasst: Do 3. Mär 2016, 18:49
von CamperVan.Helsing
Salvatore Baccaro hat geschrieben:Wir erinnern uns: vom 9. bis zum 12. Dezember 1531 soll einem Indio namens Juan Diego am Stadtrand von Mexico City,
Daran kannst du dich noch erinnern? :shock: Chapeau! :verbeug:

Re: Tepeyac - C. González, J. Ramos, F. Sáyago (1917)

Verfasst: Do 3. Mär 2016, 19:47
von Dick Cockboner
So ist das eben bei älteren Mitbürgern.Frag ihn mal was es heut mittag zu essen gab. ;)
Ansonsten:sehr interessant zu lesen (wie immer) :thup:

Re: Tepeyac - C. González, J. Ramos, F. Sáyago (1917)

Verfasst: Do 3. Mär 2016, 19:52
von Salvatore Baccaro
ugo-piazza hat geschrieben:Daran kannst du dich noch erinnern? :shock: Chapeau! :verbeug:
Haha! :thup:
Dick Cockboner hat geschrieben:So ist das eben bei älteren Mitbürgern.Frag ihn mal was es heut mittag zu essen gab. ;)
Ansonsten:sehr interessant zu lesen (wie immer) :thup:
Danke, und: es gab Kohlrabi mit Steckrübe, Feldsalat und Karotten... ;-)

Solange bis TEPEYAC keine anständige DVD-Veröffentlichung gewährt bekommt, kann man sich ihn übrigens hier anschauen (ohne Ton, mit spanischen Zwischentiteln, und in eher bescheidener Qualität, doch ich kenne in diesem Fall leider keine bessere):

[BBvideo][/BBvideo]