Die Mafia-Story - Gianfranco Mingozzi (1968)

Action, Crime, harte Cops, Gangster & Mafia

Moderator: jogiwan

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CamperVan.Helsing
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Re: Die Mafia-Story - Gianfranco Mingozzi (1968)

Beitrag von CamperVan.Helsing »

Sardinien, eine Welt, die nord- und mittelitalienische Großstädter/innen stets unbegreiflich bleiben wird. Die aus Rom stammende Christina ist zum ersten Mal mit ihrem einheimischen Freund Francesco dort unterwegs, als er kurzerhand entführt wird. Sie will die Polizei einschalten, Vater Marras besteht hingegen darauf, dass nur Schweigen seinen Sohn retten kann. Doch die Lösegeldforderung übersteigt seine liquiden Mittel, aber Marras hat ja ein paar schöne Grundstücke an der Küste, auf denen man nett ein Hotel bauen könnte... Christina kommt Francescos Freund Gavino sehr nahe, aber kann sie ihm trauen? Gavino seinerseits entwickelt einen Plan, denn er hat erkannt, dass auch auf entführender Seite falsch gespielt wird. Aber auch Gavino kann sich den Regularien Sardiniens nicht entziehen...

"Mafia-Story" ist ja nun nicht gerade ein typischer Film für das X-Rated-Programm, aber es ist schön, dass dieser früher Mingozzi mit Charlotte Rampling und Franco Nero verfügbar gemacht wurde, den man sich nicht entgehen lassen sollte, wenn man am mafiakritischen Italokino interessiert ist.
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Salvatore Baccaro
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Re: Die Mafia-Story - Gianfranco Mingozzi (1968)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Mit SEQUESTRO DI PERSONA hat Gianfranco Mingozzi einen mehr oder minder politisch motivierten Entführungsthriller inszeniert, der mir sogar noch einen Tick besonnener, ruhiger und unaufgeregter daherzukommen scheint als die späteren Referenzwerke eines Damiano Damiani oder Florestano Vancini: Über Gebühr dramatisiert wird hier nichts, und allerhöchstens die (unvermeidliche) Sexszene zwischen Charlotte Rampling und Franco Nero könnte man noch als (exploitativeres) Zugeständnis an ein etwaiges Genre-Publikum verstehen, während der gesamte Rest sich inszenatorisch und dramaturgisch betont realistisch gibt, (und zwar derart betont, dass manchem gar das Attribut "spannungsarm" auf den Lippen liegen dürfte.)

Wofür dieser Film mir jedoch wahrscheinlich auf ewig im Gedächtnis bleiben wird, das ist seine Eröffnungssequenz: Zusammen mit einem beschwingten Ortolani-Score tragen die adretten Landschaftsbilder des ruralen Sardinies während des Vorspanns dazu bei, dass man sich nahezu in eine heitere Sommerkomödie verirrt wähnt. Dann aber trifft das im Sportwagen durchs sardinische Hinterland kutschierende Pärchen auf eine Schafsherde - und "trifft" muss man in dem Zusammenhang wortwörtlich verstehen: Mit Vollgras rast das Vehikel mitten in die blöckende Meute hinein, wobei ein Schaf sichtbar unter die Räder kommt und danach keinen Mucks mehr tut, und ein anderes nach dem Frontalkontakt mit dem Kühlergrill (hoffentlich nur leicht) verletzt auf unsicheren Beinen aus dem Bildkader stakst.

Es mag sein, dass meine Saiten mit den Jahren immer zarter aufgespannt werden, aber diese, eh, "Extravaganz" hat mir dann doch regelrecht den gesamten nachfolgenden Film vergällt...
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buxtebrawler
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Re: Die Mafia-Story - Gianfranco Mingozzi (1968)

Beitrag von buxtebrawler »

Salvatore Baccaro hat geschrieben:Wofür dieser Film mir jedoch wahrscheinlich auf ewig im Gedächtnis bleiben wird, das ist seine Eröffnungssequenz: Zusammen mit einem beschwingten Ortolani-Score tragen die adretten Landschaftsbilder des ruralen Sardinies während des Vorspanns dazu bei, dass man sich nahezu in eine heitere Sommerkomödie verirrt wähnt. Dann aber trifft das im Sportwagen durchs sardinische Hinterland kutschierende Pärchen auf eine Schafsherde - und "trifft" muss man in dem Zusammenhang wortwörtlich verstehen: Mit Vollgras rast das Vehikel mitten in die blöckende Meute hinein, wobei ein Schaf sichtbar unter die Räder kommt und danach keinen Mucks mehr tut, und ein anderes nach dem Frontalkontakt mit dem Kühlergrill (hoffentlich nur leicht) verletzt auf unsicheren Beinen aus dem Bildkader stakst.

Es mag sein, dass meine Saiten mit den Jahren immer zarter aufgespannt werden, aber diese, eh, "Extravaganz" hat mir dann doch regelrecht den gesamten nachfolgenden Film vergällt...[/align]
"Vollgras" wäre für die Tiere vermutlich angenehmer gewesen... ;)
Aber im Ernst: Es handelte sich also um echten Tiersnuff, keine getrickste Szene?
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Salvatore Baccaro
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Re: Die Mafia-Story - Gianfranco Mingozzi (1968)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

buxtebrawler hat geschrieben:"Vollgras" wäre für die Tiere vermutlich angenehmer gewesen...
Haha! Da hat mir wohl ein Freud'scher Vertipper in die Tasten gelegt, was ich mir eigentlich für die Tiere gewünscht hätte...
buxtebrawler hat geschrieben:Aber im Ernst: Es handelte sich also um echten Tiersnuff, keine getrickste Szene?
Die Szene ist ganz sicher nicht getrickst. Man sieht zuerst die Schafe auf einem Gebirgspfad weiden, und sodann wie der PKW mitten in sie hineinrast. Die meisten Tiere stieben beiseite, eins kommt unter die Räder bzw. wird seitlich erfasst und zu Boden geschleudert, ein anderes schleppt sich verletzt von dannen. Gefilmt ist mit relativ wenigen Schnitten per Totale und Halbtotale. Das mausetote Schaf wird kurz darauf von Charlotte Rampling persönlich auf Geheiß der zwischen Felsen versteckten "Mafiosi" beiseite geräumt.
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buxtebrawler
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Re: Die Mafia-Story - Gianfranco Mingozzi (1968)

Beitrag von buxtebrawler »

Salvatore Baccaro hat geschrieben:Die Szene ist ganz sicher nicht getrickst. Man sieht zuerst die Schafe auf einem Gebirgspfad weiden, und sodann wie der PKW mitten in sie hineinrast. Die meisten Tiere stieben beiseite, eins kommt unter die Räder bzw. wird seitlich erfasst und zu Boden geschleudert, ein anderes schleppt sich verletzt von dannen. Gefilmt ist mit relativ wenigen Schnitten per Totale und Halbtotale. Das mausetote Schaf wird kurz darauf von Charlotte Rampling persönlich auf Geheiß der zwischen Felsen versteckten "Mafiosi" beiseite geräumt.
Das ist ja zum Kotzen :evil:
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Maulwurf
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Re: Die Mafia-Story - Gianfranco Mingozzi (1968)

Beitrag von Maulwurf »

 
Die Mafia-Story
Sequestro di persona
Italien 1968
Regie: Gianfranco Mingozzi
Franco Nero, Charlotte Rampling, Frank Wolff, Ennio Balbo, Pierluigi Aprà, Margarita Lozano, Steffen Zacharias,
Enrico Osterman, Enzo Robutti, Fabrizio Jovine, Paolo Todisco, Gino Cassani


Die Mafia-Story.jpg
Die Mafia-Story.jpg (80.25 KiB) 121 mal betrachtet
OFDB
Italo-Cinema.de (Gerald Kuklinski)

Ein Land, zerrissen zwischen Armut und Gewalt. Ein Land, dessen Wurzeln bäuerlich sind, und dessen Zukunft offensichtlich in der bedingungslosen Hinwendung zur Moderne zu liegen scheint. In dem Touristen die wilde Schönheit der Natur bewundern und kaum merken, dass diese Wildheit und Natürlichkeit in erster Linie Armut und Gewalt beherbergen.

Der Sarde Francesco Marras zeigt seiner römischen Freundin Christina seine Heimat. Nach einem Unfall(?) wird er gezwungen Christina aussteigen zu lassen und alleine weiterzufahren. Christina wird von zwei Männern aufgegabelt und zur Küste gebracht: Francesco wurde soeben entführt. Das Lösegeld beträgt 80 Millionen Lire, und der Vater Francescos hat nur eine Möglichkeit soviel Geld aufzutreiben, nämlich indem er seine Ländereien verkauft. Gavino, der Jugendfreund Francescos, versucht zwischen den Entführern und dem Vater zu vermitteln. Versucht Christina davon abzuhalten zur Polizei zu gehen. Versucht einen Weg zu finden, Francesco da alleine herauszuholen. Denn ihn stört, dass die „Banditen“, die dahinterstecken, über die dahinterliegenden Grundstücksgeschäfte mitnichten die für sie wertvollen Weidegründe in den Bergen bekommen, sondern das Gelände in Küstennähe, welches für sie, kleine und mittellose Hirten und Bauern die sie sind, wertlos ist. Und er kombiniert, dass hinter den Banditen noch jemand anderes steckt, der intelligenter ist und die Entführungen sehr gezielt steuert. Gavino bietet sich als Köder an.

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Ein Land, zerrissen zwischen Vergangenheit und Zukunft. Kleine Dörfer in den Bergen, nur über schmale Pfade zugänglich, wenn überhaupt. Häuser die eher Ruinen gleichen. Bitterste Armut. Alte Frauen in schwarz, die ihre Wäsche am Dorfbrunnen waschen, und junge Männer in verwaschener und zerrissener Kleidung. Die sich mit Gewehren über der Schulter und harten und verschlossenen Gesichtern im steinigen Gelände so gekonnt bewegen wie Bergziegen. Eine wilde und schöne Landschaft, die die Härte und Einsamkeit dieser Menschen in ihrer Sinfonie aus Stein und Wald fortsetzt. Und dazwischen immer wieder die Zeichen der Moderne. Neue Straßen aus Asphalt, die die Landschaft erbarmungslos zerschneiden. Eine historisierende Ferienanlage am Meer, gebaut für die Touristen, mit Luxuskarossen auf dem Parkplatz. Eine Zugverbindung, die von vielen jungen Menschen genutzt wird, welche auf einem tragbaren Plattenspieler die neusten Schlager hören, während in der Bar alte Männer die traditionellen Lieder singen. Bilder eines Landes …

Und in diesen (für uns) pittoresken Eindrücken dann Menschen, die zusehen müssen wie ihre Heimat nach und nach verkauft wird, ohne dass sie selber davon etwas haben. Was treibt einen Schäfer dazu, sich von der Schäferei abzuwenden und das einträgliche Geschäft der Entführung von Menschen zu betrieben? Die Antwort lautet Geld, aber auch Land. Der Schäfer braucht Land für seine Schafe, und das Land ist im Besitz einiger weniger Familien, die es nicht hergeben wollen. Also betreibt der Schäfer eine Art Tauschhandel: Familienangehöriger gegen Land. Doch was ist, wenn der Schäfer nicht mehr das wertvolle Weideland im Landesinneren für seine menschliche Ware bekommt, sondern das für ihn wertlose Land am Meer. Das, wo seine Schafe keine Nahrung finden, und von dem sich in erster Linie Immobilienhaie ernähren können?

Und über diesem ganzen fragilen Konstrukt schweben immerzu zwei Zustände: Angst und Gewalt. Jeder, der aus einer besseren Familie kommt, hat Angst entführt zu werden. Die andern haben Angst in diese Geschichten hineingezogen zu werden. Oder plötzlich als Verräter dazustehen. Was zu Gewalt führt. Gewalt ist allgegenwärtig. Es muss auch gar keine Gewalt angewendet werden um Francesco dazu zu bringen, dass Christina aussteigt. Die Stimme. Die aus den Bergen ruft, reicht bereits, um ihm Angst zu machen. Die in der Wortwahl mitschwingende Gewalt ist gleich entsetzlicher Angst. Die Worte „Lass die Frau aussteigen“ sagen ihm klar, was jetzt passieren wird. Und wie sein Schicksal sein wird.

In den Blicken, die sich Francesco und Christina zuwerfen, ist diese Angst deutlich zu spüren, genauso wie in den Blicken zwischen Gavino und seinem Vater. Ganz zu schweigen von den Bauern, die mit dieser Angst ununterbrochen leben müssen. Angst vor den Soldaten oder vor den Carabinieri. Angst vor der Zukunft. Angst vor allem Fremden. Regisseur Giancarlo Mingozzi gibt diesen Menschen viel Raum. Er zeigt ihre Gesichter, ihre ärmlichen Lebensumstände, er deutet ein klein wenig ihrer Kultur an und er zeigt immer wieder ihre Angst. Und wenn am Ende der Hintermann der Entführungen seiner mutmaßlichen Exekution entgegenfährt, dann wirkt dies auch nicht wie eine Befreiung von der Angst, sondern eher wie ihre Kulmination. Die Luft im Auto ist zum Schneiden dick, und jeder, aber auch wirklich jeder, hat Angst.

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Angst braucht ein Ventil, und dieses Ventil heißt im Film genauso wie im wirklichen Leben Gewalt. Die „sanfte“ Gewalt der Männer gegenüber ihren Frauen, denen sie befehlen können wie sie gerade wollen, genauso wie die Gewalt gegenüber den Besserverdienenden, deren Reichtum umverteilt wird in die Hände klandestiner Organisationen. Gewalt heißt aber auch, dass, wenn ein Schäfer ein Schaf durch einen Unfall verliert, er sich woanders ein Schaf stiehlt. Und dafür ins Gefängnis kommt. Gewalt kann genauso ein Auto bedeuten, dass hinter einem herfährt. Oder Männer die dastehen und beobachten.

Der gebürtige Norditaliener Giancarlo Mingozzi schaut genau hin in diese für ihn fremde Welt, und er zieht den Zuschauer mit in eine spannende und entsetzlich abgründige Geschichte, die für einen Städter genauso wie für einen Mitteleuropäer auch auf dem Mond spielen könnte, so fremd und anders ist das was uns da gezeigt wird. Und bei aller Faszination, und vor allem bei aller Spannung die Mingozzi in seine Geschichte legt, das allmählich wachsende Grauen ist auch heute, mehr als 55 Jahre nach der Entstehung des Films, immer noch da, und schleicht sich langsam das Rückgrat des Zuschauers hinab. Und mit ein klein wenig Recherche im Internet wird auch schnell klar, dass das organisierte Verbrechen im Italien des 21. Jahrhunderts genauso funktioniert wie „damals“. Und die Gänsehaut wird umso größer.

DIE MAFIA-STORY ist großartiges, spannendes, anklagendes, kritisches und packendes Genrekino, wie es in dieser Schärfe und gleichzeitig mit diesem Unterhaltungswert heute nicht mehr gedreht wird.

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8/10
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
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