Gunda - Victor Kosakovskiy (2020)

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Salvatore Baccaro
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Gunda - Victor Kosakovskiy (2020)

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Originaltitel: Gunda

Produktionsland: Norwegen/USA 2020

Regie: Victor Kosavokskiy

Darsteller: Das Hausschwein Gunda, seine Kinder sowie eine Herde Rinder und mehrere Hühner


Georges Franjus LE SANG DES BÊTES aus dem Jahre 1949 gehört zu den heftigsten Filmen, die mir jemals untergekommen sind. Obwohl ich die gerade mal zwanzigminütige Schlachthausdokumentation mindestens fünfundzwanzigmal gesehen haben dürfte, (einmal davon in einem brütend heißen Kinosaal in Norditalien), kann ich mich der Schockwirkung seiner Bilder noch immer nicht entziehen: Die auf dem Rücken fixierten Kälber, die ohne Köpfe in Reih und Glied postmortal mit den Beinen strampeln; der Embryo, den die routiniert agierenden Schlachter aus dem Bauch einer soeben getöteten Kuh zutage fördern; das weiße Pferd, das wie beiläufig einen Bolzen in die Stirn geschossen bekommt und wie auf Knopfdruck in sich zusammenbricht. All das Blut, all die dampfenden Eingeweide, all die von ihrem Ursprungskontext getrennten Extremitäten – alles, was Franju tut, ist, die Kamera schonungslos den Pariser Abattoir-Alltag einzudangen, und er tut das nicht ohne Poesie, die sich vor allem in den Flanêurien durch die Vororte der französischen Hauptstadt niederschlägt, mit denen der Film uns immer wieder weg von den Schlachthausgräueln führt, um durch die Kontrastwirkung noch mehr zu verstören, und er tut das nicht ohne einen schwarzen, surrealen, galligen Humor, wenn der von Jean Painlevé verfasste Kommentar nüchtern aufzählt, welche Partien des Schlachtviehs zu welchem Konsum- und Kulturgut verarbeitet werden würden, wenn Nonnen durchs Bild laufen, um Pansen fürs Kloster abzuholen, oder wenn die Schlachter nach verrichtetem Tagewerk mit schiefen Stimmen den populären Chanson „La Mer“ von Charles Trenet singen, während sie ihre Wasserschläuche die Blutlachen hinfortspritzen und die überlebenden Tiere sich zusammendrängend auf den Einbruch ihrer letzten Nacht warten, und er tut das vor allem ohne eine eindeutige Agenda, ohne anklagenden Gestus, ohne moralische Keule: Auch wenn LE SANG DES BÊTES von den zeitgenössischen Kritikern häufig als verklausulierte Holocaust-Allegorie interpretiert wurde, und auch wenn seine Schock-Ästhetik ganze Generationen von PETA-Tierschutzvideos inspiriert haben dürfte, geht es Franju nicht darum, Vegetarismus zu propagieren, das moderne Schlachthaus per se als Sodom und Gomorrha zu stigmatisieren oder den Schlachtern ethische Vorwürfe vor die Füße zu werfen – wobei der Film in seiner offenen Form, seiner kontrapunktischen Inszenierung, seinen subversiven Surrealismen natürlich trotzdem auch problemlos für derlei Dinge instrumentalisiert werden kann.

GUNDA des russischen Dokumentarfilmers Viktor Kosakovskiy scheint auf den ersten Blick die komplette Antithese zu Franjus Ausflug hinter Schlachthausmauern zu sein. Der in glänzendem Schwarzweiß gedrehte Film spielt auf einem ländlichen Bauernhof und portraitiert das Leben der dortigen Tiere: Eine Herde Rinder, eine Gruppe Hühner sowie die titelgebende Sau Gunda, die zu Beginn des neunzigminütigen Streifens einem Wurf Ferkelchen das Leben schenkt. Es gibt keinen Off-Kommentar, es gibt keine extradiegetische Musik – alles, was Kosakovskiy uns anbietet, ist, uns gemeinsam mit seiner Kamera auf Augenhöhe mit den animalischen Protagonisten zu begeben, die Welt aus ihrer Perspektive wahrzunehmen, uns von ihnen in ihren Alltag entführen zu lassen. Menschen bekommen wir folgerichtig kein einziges Mal zu sehen. Natürlich, ihre Anwesenheit ist unverkennbar, denn ein Zaun, den Gunda beim Umherschweifen berührt, steht offenkundig unter Strom, und die Schweine tragen Plastikkennzeichnungen in ihren Ohren, die sie als Besitztum eines Farmers ausweisen, und einmal ist auch ein Traktor zu sehen, der in der Ferne die Felder umpflügt, und der, da wir uns zu dem Zeitpunkt längst an die Menschenleere des Films gewöhnt haben, im ersten Moment wirkt wie ein Fahrzeug, das aus den Weiten des Alls in dieses tierische Paradies herabgestürzt sein muss.

GUNDA ist ein Vertreter des Kontemplativen Kinos par excellence. Den Knalleffekten berüchtigter Blockbuster stellt Kosakovskiy eine Entschleunigung entgegen, die man wahlweise als Sterbenslangweile oder als Einladung zur Meditation empfinden kann. Minutenlang erkunden wir mit Gunda und ihren Kindern ein Waldstück, die Ohren voll von dem zufriedenen Schweinegrunzen; die erwähnten Hühner werden scheinbar auf der Farm ausgewildert und befinden sich in einem erbärmlichen Zustand, (möglicherweise haben sie ihr bisheriges Leben in einer Legebatterie verbracht?): eins hat überhaupt keine Federn mehr im Halsbereich, einem andern fehlt ein Bein, weshalb es sich nur hüpfend fortbewegen kann, während es zusammen mit seinen Artgenossen zunächst ängstlich, vorsichtig, behutsam, dann immer zutraulicher werdend die neugewonnene Freiheit zelebriert; bei der Geburt der Ferkel sind wir ebenfalls zugegen, eröffnet der Film doch mit der Szene, in der Gunda eins ihrer Nachkommen nach dem andern aus dem Uterus presst, wobei sie schwer atmend auf der Seite liegt, während die glitschigen, halbblinden, unsicher umherstaksenden Frischlinge instinktiv die Schnauzen an die mütterlichen Zitzen pressen, um so viel Milch zu saufen wie ihre kleinen Mägen fassen können.

An Michelangelo Frammartinos LE QUATRE VOLTO könnte man denken, jedoch ist GUNDA wesentlich monothematischer und verzichtet auch auf eine metaphysisch-philosophische Einbettung seines Sujets; auch SPACE DOGS von Levin Peter und Elsa Kremser ist nicht allzu weit entfernt, allerdings setzt GUNDA seine tierischen Helden nie in konkrete Beziehung zum Menschengeschlecht und dessen ausbeuterischen Umgang mit dem "lieben Vieh"; nicht zuletzt muss ich an Thierry Zénos VASE DE NOCES denken, (auch wegen der wundervollen Schwarzweißästhetik), doch natürlich entschlackt um all die Transgressionen und Tabubrüche und ganz fokussiert auf die Sicht der Stallbewohner. Dass ich anfangs LE SANG DES BÊTES zitiert habe, liegt an den letzten zehn Minuten von GUNDA: Richtig hineingekuschelt habe ich mich in den Schweinealltag, in die Klangkulisse aus Gackern, Grunzen, Getrappel, in die Utopie eines Universums, in dem die Apokalypse alles Menschliche weggefegt und die Tiere als alleinige Herrscher der Welt zurückgelassen hat. Dann taucht ein Lastwagen im Bild auf; die Ferkel werden verladen, eins nach dem andern; nachdem sich das Fahrzeug entfernt hat, eilt Gunda in einer Mischung aus Irritation und Panik auf dem Hof herum, ruft nach ihren Ferkeln, bleibt immer wieder stehen, um sich umzuschauen, wechselt die Richtung, verfällt in Trab, erstarrt wieder. Es sind die herzzerreißendsten Minuten, die ich seit langem in einem Film gesehen habe, gerade weil Kosakovskiy, wie Franju siebzig Jahre zuvor, der Versuchung widersteht, seine Heldin über Gebühr zu anthropomorphisieren, weil er auch jetzt nicht aus seinem sachlichen Dokumentar-Modus herausfällt, weil er es unterlässt, uns unter die Nase zu reiben, wohin die Ferkel verbracht worden sind, welches Schicksal sie an ihrem Bestimmungsort erwarten wird und dass die Zeit zwischen ihrer Geburt und ihrem Abtransport ein Idyll gewesen ist, das auf sehr wackligen, weil früher oder später wegbrechenden Stelzen gestanden hat.
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