La Nuit des Rois - Philippe Lacôte (2020)

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Salvatore Baccaro
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La Nuit des Rois - Philippe Lacôte (2020)

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Originaltitel: La Nuit des Rois

Produktionsland: Elfenbeinküste/Frankreich/Kanada 2020

Regie: Philippe Lacôte

Cast: Koné Bakary, Steve Tientcheu, Rasmané Ouédraogo, Abdoul Karim Konaté, Laetitia Ky, Denis Lavant, Anzian Marcel, Issaka Sawadogo


Gesichtet auf dem diesjährigen Braunschweiger International Filmfest:

„La Maca“ nennt sich ein Hochsicherheitsgefängnis unweit der ivorischen Hauptstadt Abidjan. In dem vollkommen überfüllten Komplex mitten im Dschungel ist es dem Wachpersonal längst nicht mehr möglich, nennenswerte Autorität auszuüben. Stattdessen werden die einzelnen Trakte von den Insassen weitgehend selbst verwaltet; die Häftlinge genießen beachtliche Freiheiten, indem sie sich ungestört von Zelle zu Zelle bewegen, unbehelligt Handel mit legalen und illegalen Substanzen treiben, sich ihre ganz eigenen Hierarchien errichtet haben; zudem wird jeder Teil des Gefängnisses von einem gewählten Vorsteher regiert, der sozusagen die Befugnisse eines Monarchen innehat. Im Falle des Trakts, in das zu Beginn von Philippe Lacôte 2020er Spielfilm LA NUIT DES ROIS ein namenloser Straßenkrimineller verfrachtet wird, gehört dieses Amt einem gewissen „Barbe Noire“. Da jener jedoch seit längerem schon unter einer asthmatischen Erkrankung leidet, die ihn zunehmend schwächt, werden hinter seinem Rücken bereits die Messer von denjenigen gewetzt, die ihn gerne gestürzt und sich selbst an seiner privilegierten Position sehen würden; zugleich versuchen die Günstlinge des Schwarzbarts, ihn unter allen Umständen auf dem Thron zu behalten, müssen sie doch fürchten, selbst an Macht und Geltung einzubüßen, sollte Barbe Noire, wie es die Gefängnisregeln vorsehen, entscheiden, nicht mehr regierungsfähig zu sein, und sich selbst das Leben zu nehmen, indem er sich in einem unterirdischen Pool ertränkt. Um all die bösen Omen abzuwenden, von denen er sich zunehmend umschwirrt sieht, beschließt Barbe Noire eine alte Tradition von „La Maca“ wiederzubeleben: Wenn der Mond blutrot ist, bricht nämlich die Nacht des Geschichtenerzählens ein, und einer der Insassen wird dazu bestimmt, die anderen bis zum Morgengrauen mit seiner Fabulierkunst zu unterhalten, - und sollten ihm vorher die Geschichten ausgehen oder sollten die übrigen Häftlinge der Meinung sein, dass er sich nur noch wiederholt oder sich in Banalitäten verliert, kostet ihn das den Kopf. Hierfür auserwählt wird von Barbe Noire der besagte Neuankömmling, den man kurzerhand aufgrund der ihm bevorstehenden Aufgabe „Roman“ tauft, und der sich plötzlich inmitten einer großen Halle einem Haufen nach Geschichten dürstender Männer gegenübersieht, die jedes seiner Worte mit Tänzen, Gesängen, wildem Gestikulieren oder Grimassieren kommentieren. Der einzige weißhäutige Insasse des Traktes, ein Mann, den alle nur „Silence“ nenne, und der ständig ein Huhn auf seiner Schulter herumträgt, hat Roman indes bereits darin eingeweiht, was ihm blühen wird, wenn er seine Zuhörerschaft nicht bis zum Tagesanbruch unterhalten sollte, weswegen unser Held sich voller Leidenschaft in seine Story wirft, die zunächst noch auf dem Boden seiner eigenen Biographie beginnt, wenn er von Zama, einem an der gesamten Elfenbeinküste bekannten Ganoven berichtet, zu dessen Gang er selbst gehört hat, und dann in immer phantastischere Gefilde abwandert, wo beispielweise Zamas Vorfahren als Zauberer in magische Duelle verwickelt sind, bei denen sich die Kontrahenten auch schon mal in Greifvögel oder Elefanten verwandeln. Die Gunst der Stunde, dass die Gefangenen alsbald gedankenverloren an Romans Lippen kleben, nutzen derweil die Feinde Barbe Noires, um zum großen Gegenschlag auszuholen, der die Verhältnisse in „La Maca“ von den Füßen auf den Kopf stellen soll…

Das Konzept von LA NUIT DES ROIS ist schon ziemlich brillant: Ein gigantisches Gefängnis im westafrikanischen Busch, dessen Innenleben so etwas wie eine dystopische Gesellschaftsordnung darstellt, in der archaische Traditionen zu blutiger Realität werden; ein wegen vergleichsweise geringer Vergehen in diesen Hexenkessel verfrachteter Jüngling, der sich plötzlich als Spielball zweier verfeindeter Parteien wiederfindet und hineingezogen wird in ein Netz aus Intrigen, Komplotten, Staatsstreichen; und natürlich letztlich die Idee, diesen jungen Mann zum Griot wider Willen werden zu lassen, der im wahrsten Wortsinne, ähnlich wie Scheherazade in den Märchen von 1001 Nacht, Geschichten am Fließband zum Besten geben muss, um seinen eigenen Hals ungeschoren aus einer Schlinge ziehen zu können, die sich im Laufe einer einzigen ereignisreichen Nacht nicht nur für ihn immer enger zusammenzieht. Letztendlich hat mir das Konzept von LA NUIT DES ROIS jedoch wesentlich besser gefallen als der Film selbst: Das mag sicher nicht zuletzt an kulturellen Barrieren liegen, - viele Verweise auf den Mythenschatz und die Tagespolitik der Elfenbeinküste sind mir naturgemäß verschlossen geblieben, - oder daran, dass sich LA NUIT DES ROIS wenig um gängige (westliche) Erzählmuster schert, und seinen Plot mit fortschreitender Laufzeit immer allegorischer ausgestaltet, sodass alles, was Roman erzählt, zugleich mindestens eine weitere Bedeutung zu haben scheint, (was sich vor allem niederschlägt in den Passagen seiner Erzählung, die purer Magischer Realismus sind, inklusive Metamorphosen von Mensch zu Tier und Gefechte zwischen Schamanen.) Insgesamt aber blieb mir die Welt, die Lacôte zeichnet, sowie die Figuren, die diese Welt bevölkern, reichlich fremd, und bis auf ein, zwei Szenen, (darunter der Freitod Barbe Noires, der mit einem wirklich rührenden Bild schließt), hat mich LA NUIT DES ROIS weder emotional besonders eng an sich gepresst noch mich sonderlich atemlos vor Spannung in den Kinosessel gedrückt, - und das, obwohl ich diese Welt auf dem Papier sofort für eine gehalten hätte, die mich auf Anhieb verschlingen wird. Andererseits ist dieser Hybrid aus Gefängnisdrama, Gangsterstory und metareflexiver Märchenstunde freilich unterm Strich, (und wenn auch nur auf dem Papier), interessant genug, dass ich ihn mir durchaus noch ein zweites Mal ansehen würde, - dann aber bitte mit einer fachkundigen Einführung, die mir all die Fragezeichen von der Stirn streicht, was es denn nun mit dem Blutmond auf sich hat, und wie genau die Story um den Ganovenkönig Zama mit Zauberduellen im 19. Jahrhundert zusammenhängt, und welche politisch motivierte Parabel mir der Film in seinem Subtext erzählen möchte, die ich immer vage spüren konnte, aber nie klar und deutlich zu fassen bekam.
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