La película infinita - Leandro Listorti (2018)

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Salvatore Baccaro
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La película infinita - Leandro Listorti (2018)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: La película infinita

Produktionsland: Argentinien 2018

Regie: Leandro Listorti

Cast: Fragmente, Schnipsel, Rushes ausgewählter argentinischer Filmprojekte zwischen 1968 und 2009, die nie vollendet wurden


Die Inhaltsangabe auf der IMDB bringt die Grundprämisse von Leandro Listorti LA PELÍCULA INFINITA auf den Punkt: „Based on the remains of never-completed Argentine features from the archives of the film museum in Buenos Aires. The film is, as it were, a parallel film history: an essay like a cinematographic Frankenstein, that blows new life into images that once seemed unsuccessful and pointless.”

Mich lässt Listortis Ansatz, aus Fragmenten, Weggeworfenem, Unvollständigem etwas Neues zu kreieren, unweigerlich an einen Klassiker des italienischen Experimentalfilms denken, LA VERIFICA INCERTA nämlich, bei dem Alberto Grifi und Gianfranco Baruchello 1965 etwas ganz Ähnliches unternehmen: Ein ungeordneter Haufen von Hollywood-Rushes unterschiedlichster Genres von Western über Melodramen bis hin zu Kostümschinken wird von den beiden Regisseuren auf kühne Weise neu montiert, sodass die einzelnen Szenen einen assoziativ anmutenden Bilderrausch ergeben, der Konventionen und Regeln des kommerziellen Filmemachens dekonstruiert und destruiert, indem er sein Material beliebig mixt, von einer Spielfilmgattung zur nächsten springt, die ikonischen Momenten von Schüsse wechselnden Revolverhelden, von schmachtenden Diven, von gekreuzten Degen in eine Art von Kommunikation zwingt, die an babylonische Sprachverwirrung erinnert.

Auch Listorti geht es nicht darum, Kohärenz zu stiften, - im Gegenteil: Zu Beginn ertönt eine Stimme aus dem Off, die den Filmtitel ausspricht – LA PELÍCULA INFINITA -, dann ertönt ein Schuss, und für knapp eine Stunde lang ziehen die Bilder zahlloser unvollendeter argentinischer Filmprojekte an uns vorbei, manche stumm, manche mit Ton, manche digital gedreht, manche auf Analogfilm, manche schwarzweiß, manche in Farbe, manche erahnen lassend, was das für ein Film geworden sein könnte, wenn er denn zum Abschluss gebracht worden wäre, manche so hermetisch, dass man unweigerlich beginnt, sich selbstständig eine Handlung zusammenzuphantasieren, in die die Bilder eingebettet gewesen sein könnten.

Eine Gruppe junger Leute fährt, während von der Tonspur einzig Projektorenrauschen ertönt, durchs nächtliche Buenos Aires, das wegen des expressiven Chiaroscuro aussieht, als würde es die Kulisse eines Noir-Films sein; Menschen in Gewändern wie aus dem vorvorherigen Jahrhundert spazieren auf einer Veranda herum, nachdem eine Klappe vor die Kameralinse gehalten worden ist, die die nächste Szene eröffnet; Hände in schwarzen Lederhandschuhen wie von einem Giallo-Killer machen sich an einem weiblichen Geschlechtsteil zu schaffen; ein älterer Mann hält einen endlosen Monolog, von dem wir aufgrund der fehlenden Tonspur kein Wort verstehen können; einem anderen Mann schauen wir aus der Vogelperspektive dabei zu, wie er mit weißer Kreide einen Kreis auf den Dielenboden seines Zimmers zeichnet, und sich, als wolle er ein okkultes Ritual vollziehen, mitten in ihn hineinlegt; immer wieder sehen wir eine junge Frau bei alltäglichen Verrichtungen, wie sie in ihrer Küche herumsitzt, wie sie mit irgendwem telefoniert, wie sie sich Photographien betrachtet, deren Bedeutung uns verschlossen bleibt.

Im Abspann zählt Listorti all die Filme auf, bei denen er sich für LA PELÍCULA INFINITA bedient hat: Der älteste stammt aus dem Jahre 1968; der neuste wurde 2009 nicht vollendet. Listortis Vision eines „endlosen Kinos“ wirkt wie eine Parade aus Gespenstern, wie eine vorzüglich geschnittene und collagierte Hommage an das, was verborgen in Archiven vom Zahn der Zeit zernagt wird, wie eine Ode an das Unfertige, an das Weggeworfene, an das Fragmentarische, das sich gerade dadurch, dass nie ein finaler Punkt hinter es gesetzt worden ist, anschlussfähig gegenüber all der übrigen Bruchstücke erweist, bereit, sich zu etwas Neuem zu verbinden, bereit, in einen Dialog zu treten, bereit, sich manchmal sinnstiftend, manchmal sinnlos mit anderen Bildern gemein zu machen.

Nach seinem aktuellen Werk HERBARIA ist LA PELÍCULA INFINITA nun schon der zweite Film Leandro Listortis, der mich genau dort abholt, wo ich derzeit stehe, und der mich regelrecht begeistert von der Vision zurücklässt, die der Argentinier von einem Found-Footage-Kino der Zukunft zu haben scheint...
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