My Sunny Maad - Michaela Pavlátová (2021)

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Salvatore Baccaro
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My Sunny Maad - Michaela Pavlátová (2021)

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Originaltitel: My Sunny Maad

Produktionsland: Tschechische Republik/Frankreich/Slowakei 2021

Regie: Michaela Pavlátova


Herra hat die Nase voll von den Mannsbildern in ihrer Heimat Tschechien, die sie bislang immer nur auf ganzer Linie enttäuscht haben. Als sie an der Uni den afghanischen Austauschstudenten Nazir kennenlernt, ist es Verliebtheit auf den ersten Blick, - und als Nazir ihre Zuneigung erwidert und ihr gar anbietet, sie zu heiraten und mit in sein Herkunftsland zu nehmen, zögert Herra kein bisschen: Nichts hält sie in Prag, dafür kommt ihr ein Leben in Kabul wie der radikale Neuanfang vor, nach dem sie sich seit langem gesehnt hat. Schnell allerdings wird sie in ihrer Wahlheimat auf den Boden der Realität zurückgeholt: Nach dem Abzug der Taliban ist das Afghanistan des Frühjahrs 2011 ein kriegsversehrtes Land, in dem die Bombenkrater klaffen und sich regelmäßig Islamisten mit Sprengstoffgürteln vor den Stützpunkten der noch immer dort stationierten US-Truppen in die Luft jagen; die Gesellschaft ist nach der Scharia ausgerichtet, weswegen Herra sich von einem Tag auf den andern um ihre Freiheiten beschnitten sieht: Nur ganzkörperbedeckt mit Burka darf sie das Haus verlassen; wenn Nazir und seine Familie Besuch empfangen, muss sie sich mit den anderen Frauen – Nazirs Mutter, Nazirs Schwester und deren Teenager-Tochter – in einer Art Verschlag verstecken; zunächst wird sie auch von Nazirs Familie kritisch beäugt, nicht zuletzt, weil ihr Gatte und sie es einfach nicht fertigbringen, für den erwarteten Nachwuchs zu sorgen. Selbst Nazir macht eine Wandlung durch: Von dem liebe- und verständnisvollen Gentleman, der er in Prag gewesen ist, kann Herra alsbald nicht mehr viel erkennen, wenn er ihr verbietet, sich mit einem andern Mann allein in einem Raum aufzuhalten, sich nur widerwillig darauf einlässt, dass Herra einen Job bei einer Entwicklungsorganisation übernimmt, die sich um die sexuelle Aufklärung von jungen Frauen und Mädchen kümmert, und einmal gar die Hand gegenüber seiner Ehefrau erhebt, als diese ihm Widerworte gibt. Herra indes ist nicht das einzige weibliche Wesen unter Nazirs Dach, das sich zwischen islamischer Tradition und dem Wunsch nach westlicher Freizügigkeit aufreibt: Nazirs Schwester leidet noch mehr unter ihrem Angetrauten als Herra, und vor allem die halbwüchsige Tochter bringt das heimliche mitternächtliche Sichten von illegal ins Land geschmuggelten Videofilmen wie BASIC INSTINCT immer mehr in Grundopposition zu den patriarchalen und erzkonservativen Herrschaftsverhältnissen. Ein Lichtblick bedeutet es, als Herra und Nazir eines Tages quasi dazu genötigt werden, einen kleinen Waisenjungen namens Mohammed, genannt: Maad, zu adoptieren. Der Bub ist äußerlich entstellt, soll wegen einer mysteriösen Krankheit nicht lange zu leben haben, und wurde von seiner eigenen Familie verstoßen, da diese ihn aufgrund seiner Behinderung für einen Dämon hielten. Vor allem mit dem vergleichsweise liberal gesinnten Vater Nazirs freundet sich der Knabe schnell an und schafft es auf seine unorthodoxe Art, auch Herra und Nazir wieder näher zusammenzubringen. Dann aber hat Nazirs Nichte ihre erste Periode, und ihr Vater verkündet, es sei nun an der Zeit, dass sie den Mann heiratet, den er längst für sie ausgesucht hat: Eine Tragödie bahnt sich an...

Im Grunde entspricht MY SUNNY MAHD, realisiert von der tschechischen Animatorin Michaela Pavlátová nach einer autobiographischen Buchvorlage von Petra Procházková, ganz dem, was man heutzutage von einem veristischen Drama erwarten darf – mit dem einzigen Unterschied, dass es sich um einen Animationsfilm handelt. Die Tatsache, dass seine Figuren keine Menschen aus Fleisch und Blut sind, nutzt der Film allerdings zu kaum einem Zeitpunkt, um seine realitätsbasierte Geschichte in irgendeiner Weise zu überzeichnen, - wenn das einmal geschieht, (wie beispielweise in einer Szene, in der sich die halbwüchsige Tochter von Nazirs Schwester Tagträumen davon hingibt, wie es wäre, ein Teenager-Leben wie ein westliches Mädchen führen zu können, und ihre blühende Phantasie sich eine ganze Gruppe von Frauen imaginiert, die sich die Burkas abstreifen und auf Skateboards und zu Popmusik in eine selbstbestimmte Zukunft rasen), dann wirken diese Momente tatsächlich wie Fremdkörper in der ansonsten ausgesprochen naturalistischen Herangehensweise, mit der MY SUNNY MAHD sein Sujet behandelt. Vermittelt wird nämlich ein durchweg authentisch anmutendes Bild der Geschlechter- und Gesellschaftsverhältnisse im Post-Taliban-Afghanistan, - wobei wir freilich von letzteren, den Gesellschaftsverhältnissen, nur insoweit etwas mitbekommen, wie es unsere Protagonistin Herra selbst tut, die ja den Großteil ihres Alltags in der Privatsphäre fristen muss. Bezeichnenderweise gibt es gleich mehrere Szenen, in denen wir zusammen mit ihr hinter den Sichtschutzstäben ihres Ganzkörperschleiers hervorgucken, und eine Ahnung von der Beschränktheit ihres Blickfelds unter der Burka erhalten, während es wiederum regelrecht en passant geschieht, dass wir bei einem Familienausflug zum örtlichen Zoo wie beiläufig an einem riesigen Loch vorbeikommen, wo eine Bombe ein Haus niedergemäht hat: Der nach wie vor schwelende Krieg erweckt den Eindruck eines bedrohlichen Hintergrundrauschens, das jäh zur vollen Lautstärke aufdrehen kann. Seinen hauptsächlichen Fokus legt MY SUNNY MAHD natürlich auf die Rolle der Frau, und spart dabei nicht mit schmerzhaften, wütend machenden Situationen, wenn beispielweise Nazirs Schwester, nachdem sie sich von ihrem Mann losgesagt hat, ihre Kinder von dessen Familie weggenommen bekommt, wenn Polizisten über die Marktplätze streifen, um etwaige Verstöße gegen die Kleiderordnung sofort zu ahnden, oder wenn Nazirs Nichte mit Hilfe von Herras Arbeitgebern eine Geschlechtskrankheit vortäuscht, um wenigstens noch ein paar Woche vor der gefürchteten Trauung mit einem ihr unbekannten Mann verschont zu bleiben. Wäre MY SUNNY MAHD ein Realfilm, würde ihn sich sicher wenig von zeitgenössischem Arthouse unterscheiden: Niemand, der mit dem herkömmlichen Programmkino nicht unbedingt auf Kriegsfuß steht, wird sich an diesem Streifen stoßen, sondern stattdessen mit einem sensiblen Drama belohnt werden, das sein Thema recht ausgewogen von vielen Seiten beleuchtet, ohne agitatorisch zu wirken oder allzu sehr die Tränendrüsen zu strapazieren, das voller detailfreudiger, liebevoller Animationen steckt, das mich nach spätestens einer halben Stunde aufgesogen und bis zu seinem zugleich traurigen wie hoffnungsfrohstimmenden Schluss nicht mehr losgelassen hat.
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