Furtivos - José Luis Borau (1975)

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Salvatore Baccaro
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Furtivos - José Luis Borau (1975)

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Originaltitel: Furtivos

Produktionsland: Spanien 1975

Regie: José Luis Borau

Darsteller: José Luis Borau, Lola Gaos, Ovidi Montllor, Alicia Sánchez
Es ist natürlich nahezu unmöglich, einen Film, der im Jahre 1975 nur wenige Monate vor dem Tod Francisco Francos in den spanischen Kinos angelaufen ist, und bis dahin zudem einige Scherereien mit Zensoren hatte, die ihn letztlich nur widerwil-lig bis zur Leinwand vordringen ließen, außerhalb seines historischen Kontexts zu betrachten. Regisseur José Luis Borau bestätigt dies in einem Interview, wo er zunächst einmal die unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs „Furtivo“ im Spanischen erläutert. Zum einen bezeichne man damit einen Wilderer, zum anderen jemanden, der ein Geheimnis hütet. Die gesamte spanische Gesellschaft habe man unter Franco, erklärt Borau, metaphorisch in diesem dualen Raster verorten können: Auf der einen Seite gesetzlose Wildschützen, auf der andern Seite Leute, die ihr Leben im Verborgenen leben, um nicht mit der politischen Macht in Konflikt zu geraten. Es braucht allerdings nicht Boraus Ausführungen, um mich nicht wenig darüber in Erstaunen zu versetzen, dass ein radikales Werk wie FURTIVOS zu diesem Zeitpunkt und in dieser Form überhaupt produziert werden konnte. Eine verklausulierte politische Parabel ist das nicht, und selbst wenn man das komplexe Referenzsystem, mit dem Boraus Film auf aktuelle und zurückliegende gesellschaftliche Entwicklungen im letzten faschistischen Staat Europas reagiert, völlig übersieht: Szenen, in denen reihenweise kapitale Hirsche vor laufender Kamera über den Haufen geschossen werden, oder in denen Mutter und Sohn offenbar inzestuös in einem Bettchen schlafen, oder in denen eine junge Frau nymphenhaft mitten im Wald einen Striptease hinlegt, dürften nicht wenigen zeitgenössischen Kinogänger die Augen aus dem Kopf getrieben haben.

Das Drehbuch, verfasst von Borau und Manuel Gutiérrez Aragón, erzählt uns folgende seltsame und zutiefst menschliche Geschichte: Ángel ist ein junger Mann, der zusammen mit seiner Mutter in einer Hütte im Wald nahe der Stadt Segovia lebt. Sie verdienen sich ihren Lebensunterhalt, indem sie Wölfe unschädlich machen. Nebenbei versichert man sich aber noch eines Extraeinkommens, indem man Wilderei betreibt, und das erbeutete Fleisch beispielweise an einen Gouverneur verkauft, der mit seinem Gefolge immer mal wieder bei ihnen in der Wildnis vorbeischaut, um zum reinen Zeitvertreib im großen Stil gefühlte Dammwildpopulationen zu erlegen. Eines Tages aber lernt Ángel beim Einkaufen in Segovia ein Mädchen namens Milagros kennen, die kurz zuvor aus einer katholischen Erziehungsanstalt ausgebüxt ist, und sich dem unbedarften, weltfremden Jüngling sofort an den Hals wirft. Dessen Mutter staunt nicht schlecht, als ihr Sohn, mit dem sie mehr als nur ein Bett teilt, als seine neue und erste Freundin aus der Stadt mitbringt. Nur zähneknirschend räumt die herrschsüchtige Dame die einzige Schlafstatt der Hütte, und erschlägt voll Wut und Verzweiflung noch in der gleichen Nacht einen kürzlich gefangengenommenen Wolf. Aber auch auf Ángel warten Enttäuschungen: Milagros ist, wie er bald erfährt, eigentlich die Geliebte eines berühmt-berüchtigten Schwerverbrechens, der sie in der Einöde ausfindig macht. Nachdem sie mit diesem vermeintlich durchgebrannt ist, reagiert auch Ángel seine ohnmächtige Wut an einem wehrlosen Hirsch ab. Dann aber läuft ihm in Segovia plötzlich Milagros Lover über den Weg, und bedroht ihn mit einem Messer: Er wolle wissen, wo das Mädchen verblieben sei. Seit Wochen habe er keine Nachricht mehr von ihr erhalten. In Ángel keimt ein furchtbarer Verdacht…

Was FURTIVOS seinem Publikum an menschlichen Abgründen offeriert, das sollte wohl für die meisten unvorbereiteten Betrachter noch heute harten Tobak darstellen. Ich spreche nicht einmal so sehr vor den zahlreichen Szenen, in denen echte Tiere, zumeist Hirsche, vor laufender Kamera ihr Leben lassen zu müssen, und von denen diejenige, in der Schauspielerin Lola Galos einen leibhaftigen Wolf mit einem Knüppel zu Tode prügelt, wohl die unerträglichste darstellt – denn auch jenseits derartiger Schock-Momente verstört das Bild, das Borau von einer Gesellschaft zeichnet, in der zwischenmenschliche Beziehungen einzig noch im Spannungsfeld von dekadenter Tristesse und perversen Machtspielchen abrollen. Dabei ist FURTIVOS aber nie wirklich exploitativ, sondern fasziniert durch einen schlichten, unaufgeregten Inszenierungsstil sowie eine beinahe märchenhafte Atmosphäre, die vor allem dadurch entsteht, dass der Großteil der Handlung fernab der Zivilisation im Wald spielt, und vollgestopft ist mit, wenn auch natürlich ironisch gebrochenen, archetypischen Figuren wie der bitterbösen Schwiegermutter, der männerverschlingenden Nixe oder dem moralisch verkommenen Herrscher, den übrigens Regisseur Borau selbst auf eine Weise verkörpert, dass die Rolle des Gouverneurs in keinem Spätwerk von Bunuel deplatziert wäre: Der beleibte, zugleich joviale wie gefährliche Amtsträger ist die personifizierte vollgefressene und aus dem Ruder gelaufene Macht, die zertritt, was ihr nicht passt, und hätschelt, was ihr wohlgefällig ist. Eine weitere kanonisierte Gesellschaftssatire, Jean Renoirs LA RÉGLE DU JEU, drängt sich mir ebenfalls regelrecht auf: Auch dort wird aus einem heiteren Freizeitspaß erst ein apokalyptischer Skeletttanz am Vorabend eines Weltkriegs und dann blutiger Ernst, wenn am Ende ein Dutzend Fasanen und Kaninchen massakriert sind, und die munteren Liebesspielchen der Oberschicht zersprengt in tausend Stücke herumliegen.

Das originale Plakat dieses Films hat übrigens Iván Zulueta entworfen. Es zeigt Ángel mit zerknirschtem Gesicht, seiner Flinte und Schultern, die deshalb niederhängen, weil sich seine Mutter mit ihren unmenschlichen Pranken auf diesen abstützt, während sie uns darüber als gelb-violettes Monstrum mit Kraushaar und weit aufgerissenem Mund aus einem nicht vorhandenen Gesicht anvisiert. Ich glaube, besser hätte man die Essenz dieses irgendwie abstoßenden, und doch schönen, irgendwie schwarzhumorigen, und doch jedes Lachen in der Kehle fixierenden, irgendwie unterhaltsamen, und doch sehr beunruhigenden Werks nun auch nicht zusammenfassen können.
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