Venus - Jaume Balagueró (2022)

Moderator: jogiwan

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Salvatore Baccaro
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Venus - Jaume Balagueró (2022)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Venus

Produktionsland: Spanien 2022

Regie: Jaume Balagueró

Cast: Ester Expósito, Magüi Mira, Federico Aguado, Ángela Cremonte, María José Sarrate, Francisco Boira, Fernando Valdivielso


Lucía geht es wie vielen Filmgeschichtsheldinnen vor ihr: Sie träumt von einem besseren Leben, will nicht mehr für ein kümmerliches Gehalt Abend für Abend die Gäste eines Poledance-Clubs aufreizen, sondern mit ihrem Boyfriend die Zelte in Madrid abbrechen, und in eine goldene Zukunft starten. Ihr Liebster Salinas ist es auch, der Lucía den einfachsten, wenn auch nicht ganz sauberen Weg zur Realisierung dieser Wünsche weist: Ihre Chefs im Nachtclub sind in Drogengeschäfte verwickelt, und derzeit lagert eine Tasche mit einem ordentlichen Batzen Geld in einem unscheinbaren Hinterraumspint, nur darauf wartend, dass Lucía ihn sich unter den Nagel reißt. Ein kleiner Diebstahl, mehr nicht, und schon hätten sie genügend Moneten, um ziemlich lange sorglos zu Bett gehen zu können. Lucía tut, wie ihr souffliert: Sie bricht ihre Tanznummer frühzeitig ab, stiehlt sich zum Spint, schnappt sich die Tasche – und wird in letzter Sekunde vom zwielichtigen Moro auf frischer Tat ertappt. Ein Schlag auf den Kopf des Muskelprotzes später befindet sich Lucía auf der Flucht, wohlwissend, dass die Gangster ihr innerhalb kürzester Zeit auf den Fersen sein werden. Das Beste wird sein, sagt sie sich, wenn sie sich erstmal für eine gewisse Weile versteckt – und zwar an einem Ort, wo niemand der Mafiosi sie vermutet. Es ist ihre Schwester, zu der sie seit Ewigkeiten nur sporadisch Kontakt hält, die ihr als Erstes einfällt: Die lebt als alleinerziehende Mutter mit ihrer kleinen Tochter in einem übelbeleumdeten Hochhaus an der Peripherie Madrids, dem sogenannten „Venus-Komplex“ – und ist wenig erbaut, das schwarze Schaf der Familie, Lucía, spät in der Nacht plötzlich mit der Bitte um spontane Aufnahme auf ihrer Wohnungsschwelle stehen zu haben. Am Ende siegt trotzdem die Geschwisterliebe: Lucía darf bleiben, freundet sich schnell mit ihrer putzigen Nichte an, verrät ihrer Schwester jedoch natürlich nicht, dass sie auf der Abschusslinie eines brandgefährlichen Syndikats steht, sondern tischt ihr eine Lügengeschichte nach der andern auf, um ihre prekäre Situation zu erklären. Während Lucía, deren Handy bei der Flucht den Geist aufgegeben hat, verzweifelt versucht, Salinas zu erreichen, um ihm ihren Aufenthaltsort zu verraten, und der Mafiaboss seine komplette Halbschneiderarmada mobilisiert, um Lucía und vor allem die entwendete Beute zurück in seine Gewalt zu bringen, kommen unserer Heldin immer mehr Dinge im nahezu vollkommen leerstehenden Hochhaus seltsam vor: Da sind diverse Spukmärchen, die um den „Venus-Komplex“ kreisen; da sind die eigenartig wirkenden älteren Damen, die direkt über Lucías Schwester wohnen; da sind die Berichte von Lucías Nichte, sie würde mit einem gleichaltrigen, nur für sie sichtbaren Mädchen befreundet sein, das ihr immer dann, wenn sie schlecht träume, obskure Gegenstände zukommen lassen würde – und da ist vor allem der Umstand, dass ihre Schwester eines Morgens spurlos verschwunden ist, so, als sei sie Hals über Kopf vor einer Bedrohung getürmt…

Im Jahre 1975 fragt sich der italienische Schriftsteller und Semiotiker Umberto Eco angesichts einer Fernsehausstrahlung von Howard Hawks‘ Klassiker CASABLANCA, was denn eigentlich das Faszinierende an diesem „Kultfilm“ sei, den Eco, nüchtern betrachtet, für ein eher mäßiges Hollywoodprodukt hält, das zumindest auf den ersten Blick den unglaublichen Zuspruch kaum rechtfertigt, den es noch drei Dekaden nach seinem Erscheinen von Angehörigen unterschiedlicher Generationen erhält. "Ein Comic strip in Bewegung“, soll CASABLANCA sein, „ein Schinken, in dem die psychologische Wahrscheinlichkeit sehr gering ist und die Theatercoups sich ohne vernünftigen Grund aneinanderreihen.“ Genau in der Collagenhaftigkeit des Films, darin, dass er willkürlich alle möglichen Genres mixt, seine Handlung unerwartete Sprünge vollziehen lässt, sich letztlich gar rücksichtlos im Kitsch wälzt, erhält der Film für Eco jedoch die ihm immanente Strahlkraft: Es sei wie mit dem architektonischen Synkretismus von Antonio Gaudis „La Sagrada Familia“: „Wenn man […] mit vollen Händen hineingreift und wirklich alles nimmt, [dann] gerät [man] ins Taumeln, man streift die Genialität.“ Im Ergebnis ist CASABLANCA somit „nicht ein, sondern viele Filme, eine Anthologie. […] Und deswegen funktioniert er, entgegen allen ästhetischen und cineastischen Theorien. Denn in ihm entfalten sich mit gleichsam tellurischer Kraft die Potenzen des Narrativen im Rohzustand, ohne den disziplinierenden Eingriff der Kunst. […] Wenn alle Archetypen schamlos hereinbrechen, erreicht man homerische Tiefen. Zwei Klischees sind lächerlich, hundert Klischees sind ergreifend. Denn irgendwie geht einem plötzlich auf, daß die Klischees miteinander sprechen und ein Fest des Wiedersehens feiern. Wie höchster Schmerz an die Wollust grenzt und tiefste Perversion an die mystische Energie, gewährt äußerste Banalität einen Blick aufs Erhabene.“

Ohne VENUS, dem aktuellen Film des spanischen Regisseurs Jaume Balagueró unterstellen zu wollen, dass er „genial“ sei, hat mich seine kürzliche Sichtung doch frappant an Ecos CASABLANCA-Analyse denken lassen, denn auch VENUS ist im Kern eine „Orgie von Archetypen“, ein Potpourri aus Genre-Versatzstücken, das mich, der ich eigentlich einen zwar kurzweiligen, aber generischen Horrorschocker erwartet hatte, allein durch seine schiere Fülle an Referenzen übermannt hat. Balagueró, den ich für seine Found-Footage-Zombie-Vehikel [REC] in wenig wohlwollender Erinnerung habe, bedient sich bei seinem Drehbuch in bester postmoderner Tradition an allem Möglichen und Unmöglichen, was ihm gerade in den Sinn zu kommen scheint –, weswegen man über die Story von VENUS auch nichts weiter wissen sollte, als das, was ich in meiner Inhaltsangabe oben skizziert habe: Argentos Mütter-Trilogie; ROSEMARIES BABY; Film Noir; raue Gangster- und Mafiathriller; H.P. Lovecraft; Spukerscheinungen, gesehen mit Kinderaugen; science-fiction-esque Ausflüge ins Weltenall; eine Stripperin auf der Suche nach dem persönlichen Lebensglück - all dies zusammengeschustert zu einem frankensteinschen Ungetüm, das mit jedem Schritt neue unvorhersehbare Plot-Volten aus dem Ärmel schüttelt. Möglicherweise käme ich, analog zu Umberto Eco, bei VENUS, würde ich den Film erstmal sacken lassen und dann ganz emotionslos betrachten, zu dem Schluss, dass Balaguerós Originalität vor allem in seiner Kombinationstechnik liegt, eben darin, dass er Dinge zusammenrührt, die üblicherweise nicht zusammengedacht werden, dass er sich fast schon surrealistisch an diversen filmischen Archetypen vergreift, um sie zugleich kontingent wie durchdacht zusammenzuwürfeln - aber, puh, ehrlich gesagt, bin ich vielleicht (und zum Glück) einfach noch naiv genug, dass mich solche Synthesen, wenn sie mich auf dem richtigen Fuß erwischen, zutiefst befriedigen, denn: Was für ein wilder Ritt, was für eine halsbrecherische Geisterbahnfahrt, was für eine schöne Huldigung an das mythische Potential des Kinos ist dieses halluzinierende Update des Venus-Mythos bloß geworden!
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Blap
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Re: Venus - Jaume Balagueró (2022)

Beitrag von Blap »

Danke. Wird auf die Liste gesetzt. Jaume Balagueró verdanken wir den herrlich fiesen "Mientras duermes" aka "Sleep Tight".
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Salvatore Baccaro
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Re: Venus - Jaume Balagueró (2022)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Blap hat geschrieben: Mo 13. Mär 2023, 08:41 Danke. Wird auf die Liste gesetzt. Jaume Balagueró verdanken wir den herrlich fiesen "Mientras duermes" aka "Sleep Tight".
Oha. Den kenne ich überhaupt nicht. Nur den ersten [REC] hab ich seinerzeit gesehen und in meiner Erinnerung ist dieser eine wahre Nervensäge gewesen...
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buxtebrawler
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Re: Venus - Jaume Balagueró (2022)

Beitrag von buxtebrawler »

Salvatore Baccaro hat geschrieben: Mo 13. Mär 2023, 14:11 Oha. Den kenne ich überhaupt nicht. Nur den ersten [REC] hab ich seinerzeit gesehen und in meiner Erinnerung ist dieser eine wahre Nervensäge gewesen...
Ein spannungsgeladener Horrorfilm, dessen Aufgabe es ja gerade ist, an den Nerven der Rezipierenden zu zerren...
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Blap
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Re: Venus - Jaume Balagueró (2022)

Beitrag von Blap »

Salvatore Baccaro hat geschrieben: Mo 13. Mär 2023, 14:11
Blap hat geschrieben: Mo 13. Mär 2023, 08:41 Danke. Wird auf die Liste gesetzt. Jaume Balagueró verdanken wir den herrlich fiesen "Mientras duermes" aka "Sleep Tight".
Oha. Den kenne ich überhaupt nicht. Nur den ersten [REC] hab ich seinerzeit gesehen und in meiner Erinnerung ist dieser eine wahre Nervensäge gewesen...
[REC] mochte ich damals recht gern, obwohl ich Found Footage Filmen sonst nicht besonders zugeneigt bin. Die Reihe wurde mir an anderer Stelle empfohlen, Teil 2 & 3 liegen hier seit Jahren ungesehen umher ... :palm:
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karlAbundzu
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Re: Venus - Jaume Balagueró (2022)

Beitrag von karlAbundzu »

Rec hat mir im Kino gefallen, aber Sleep tight ist ein echter Kracher.
Venus kommt auf die Liste.
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
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