By Giulio Questi (2002-2006)

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Salvatore Baccaro
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By Giulio Questi (2002-2006)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Doctor Shizo e Mister Phrenic / Lettera da Salamanca / Tatatatango / Mysterium Noctis / Repressione in citta' / Vacanze con Alice / Visitors

Produktionsland: Italien 2002-2006

Regie: Giulio Questi

Darsteller: Giulio Questi

Noch eine Woche bis zum Forentreffen und da dachte ich: Ich schreibe zur Abwechslung mal etwas über einige etwas obskurere Filme, die die meisten hier interessieren dürften... ;-)
Angeblich haben ihn Masken dazu inspiriert, die ihn eines Tages aus einem Schaufenster ansprachen. Was er mit ihnen anfangen solle, habe er nicht gewusst, sie aber trotzdem erstmal gekauft. Letztendlich führt dieser Spontankauf zu einem der großartigsten Alterswerke der Filmgeschichte. Der Mann nämlich, der auf die Kommunikationsversuche der Gummifratzen reagiert hat, ist Giulio Questi, Anfang der 2000er Jahre schon weit über Siebzig, und seit einer Weile nicht mehr im Filmgeschäft tätig, nachdem er in den späten 60ern, frühen 70ern eine Trilogie aus drei Spielfilmen auf die Leinwand brachte, und nach dem finanziellen Desaster seines magnum opus ARCANA ausschließlich fürs italienische Fernsehen arbeitete. Seine drei Kinofilme – SE SEI VIVO SPARA, LA MORTE HA FATTO L’UOVO und eben ARCANA – gehören für mich mit zum Entzückendsten, was die an Wundern nicht arme italienische Filmindustrie jemals hervorgebracht hat – und die Filme, die Questi ab 2002 bis zu seinem Tod 2014 (nahezu) ausschließlich mit sich selbst als einzigem Schauspieler, nahezu (ausschließlich) in den vier Wänden seiner eigenen Wohnung, und ausschließlich mit einer handelsüblichen Digitalkamera inszeniert, reihen sich nahtlos in sein überschaubares, aber Augen öffnendes Oeuvre ein. Auf DVD erschienen sind die ersten sieben seiner Videofilme. Titel der Sammlung: BY GIULIO QUESTI.

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Questis Konzept ist das eines absoluten Minimalismus. Zugleich aber auch das einer absoluten Freiheit. Questi hat sich, zumindest in seinen Kinofilmen, nie um Konventionen geschert. Wenn er einen Italowestern dreht, dann nur vordergründig – in Wirklichkeit geht es um eine Kulturgeschichte von Gier und Habsucht im Westerngewand. Wenn er einen Giallo dreht, dann nur vordergründig – in Wirklichkeit geht es um eine schmerzhafte Analyse des westlichen Turbokapitalismus. Wenn er einen Horrorfilm dreht, dann auch das nur vordergründig, um wie der Großmeister eines Arkan-Ordens Bewusstseinspforten zu öffnen, von denen wir nicht mal wussten, dass es sie gibt. Genauso ist es, wenn Questi zur Digi-Cam greift, und sich als Videokünstler neu erfindet. Es sind home videos, sicherlich. Man sieht ihnen ihre Produktionsbedingungen an. Das soll man aber auch. Das muss man aber auch. Questi improvisiert. Er setzt seine Kamera auf das Bodenputztuch seines Wischmobs, wenn er eine Fahrt auf Fußhöhe braucht. Er setzt seine Kamera auf einen Stuhl und den wiederum auf das Bodenputztuch seines Wischmobs, wenn er eine Fahrt auf Rumpfhöhe braucht. Er zieht sich verschiedene Masken auf. Längst bleibt es nicht mehr bei denen, die er sich zu Beginn gekauft hat. Er erzählt Geschichten. Geschichten, die abwechselnd absurd sind, oder tragisch, oftmals beides. Seine Psyche öffnet sich wie von selbst. Ein Mann am Ende seines Lebens macht dieses Leben rückblickend zum Kunstwerk.

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Die einzelnen Filme ähneln sich thematisch, strukturell. In seinem viertelstündigen home-video-Debut DOCTOR SHIZO E MISTER PHRENIC vom Juni 2002 ist eigentlich bereits alles angelegt, was Questi in späteren Arbeiten ausfeilen wird. Wir sehen ihn lesend, scheinbar den ganzen Tag, Gedichtbände, die sich in Regalen bis zur Decke stapeln. Borges liegt herum, Platon, was von Henry James. Frische Tomaten in einem Korb, seine Pfeife, eine VHS-Kassette von Max Ophüls LE PLAISIR. Zugleich: Ein Giallo-Killer dringt in sein Appartement ein. Schwarze Handschuhe hebeln das Türschloss auf. Wir begleiten den Gesichtslosen, während er Questis Privatsphäre erkundet. Natürlich POV, und natürlich mit den Handschuhen in Großaufnahme, wie sie tasten, zugreifen, Türen öffnen. Am Ende finden sie ein Messer. Questi ist gerade dabei, lautstark Gedichte zu deklamieren, wie im Rausch. Dann spritzt die Nudeltomatensauce in hohen Bögen bis zur Decke. Doktor Shizo tötet Mister Phrenic. Es ist Questi selbst, unter der Strumpfhosenmaske. Er habe den Typen, sich selbst, einfach nicht mehr ertragen können, regt sich furchtbar auf: Wie könne man Walter Whitman mit Sappho und Anacreon mixen! Das sei wie Äpfel und Orangen! Die Leiche bekommt einen Abschiedstritt von ihm. Am Ende ruft er die Polizei an. Sie sollen kommen, ihn zu holen. Der Abspann besteht lediglich aus zwei Informationen. Die Musik stammt von Orff und Mozart. Außerdem ist der Film made by Giulio Questi. Im Interview erklärt Questi, seine Videoarbeiten hätten mehr mit Handwerkskunst zu tun. Er sieht sich nicht mehr als Regisseur. Ein Regisseur, der muss viele lose Fäden zusammenhalten, koordinieren, dirigieren. Wie aber dirigiert man sich selbst? Trotzdem: Er hat eine Produktionsfirma gegründet, bestehend aus ihm selbst, und sonst niemandem. Er nennt sie La Solipso Film.

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Questis Filme sind Konfrontationen mit sich selbst, mit dem eigenen (Selbst-)Bild, mit der eigenen Vergangenheit, mit dem, was man sein wird, wenn man nicht mehr ist. Questis Filme sprühen so nur vor kreativen Ideen und einem Humor, der geschult ist am Absurden Theater wie am Surrealismus gleichermaßen. Es ist sein Privatuniversum, in das er uns entführt. Er erklärt uns die Regeln nicht, nach denen seine Welt funktioniert. Das müssen wir selbst herausfinden. In LETTERA DA SALAMANCA vom Dezember 2002, zwanzig Minuten lang, unterlegt von Beethoven, bekommt Questi Besuch von einer Art außerirdischem Wesen, das in monotoner elektronisch verzerrter Stimme spricht. Zeit und Raum geraten aus den Fugen: Am Ende betrachtet das Alien, das freilich niemand anderes ist als Questi selbst, dessen im Schlafzimmer aufgebahrte Leiche im Kerzenschein einer Totenwache. In MYSTERIUM NOCTIS vom April 2004, fünfunddreißig Minuten lang, unterlegt mit Berg und Schönberg, gerät die Ordnung der Dinge noch heftiger aus den Fugen. Es herrscht Stromausfall, seit geraumer Zeit schon. Im Kerzenschein wandert Questi in seiner Wohnung umher. Er kann nicht mehr essen, nicht mehr schlafen. Der Fernsehapparat spielt verrückt. Irgendwer oder irgendwas ist bei ihm. Die letzte Szene dürfte eine der surrealsten und aberwitzigsten sein, die Questi jemals gedreht hat. In drolligem Schlafanzug und Zeitlupe trägt er einen Stuhl auf seinem Kopf spazieren, auf dem wiederum eine Uhr sitzt. REPRESSIONE IN CITTÀ vom Februar 2005, fünfundvierzig Minuten lang, unterlegt mit Mozart und Bartók, könnte ein waschechter home-invasion-Thriller sein, wäre er nicht so bizarr. Zwei Typen, angeblich vom Stromwerk, tauchen bei Questi auf, machen ihn zum Gefangenen in seiner eigenen Wohnung, schneiden ihm schließlich ein Auge aus dem Kopf, worauf er den Verstand verliert. Ich muss vielleicht an dieser Stelle betonen: Questi leuchtet seine Filme superb aus. Er montiert sie wie ein Gott. Obwohl einzig er selbst zu sehen ist, wird spielerisch die Illusion erweckt, wir hätten es tatsächlich mit mehreren Darstellern zu tun. Allein deshalb sind Questis Filme pure Kinematographie. Ihre technische Seite ist makellos. Von ihrem Inhalt ganz zu schweigen. Ich lache über Questis kauzige Scherze, ich weine mit ihm, wenn er wunde Stellen seiner Seele entblößt, ich staune darüber, mit welcher Ehrlichkeit er sich in Szene setzt.

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In dem Ehebruchdrama TATATATANGO vom August 2003, vierzehn Minuten lang, unterlegt mit Musik von Carlos Gardel, beispielweise scheut Questi sich nicht, seinen nackten Körper in denkbar verblüffendster Weise zu zeigen. Inszeniert wird ein Techtelmechtel zwischen einer Blondine(n-Maske) und einem(/r) Macho(-Maske). Der Ehegatte ertappt die Treulose in flagranti, zückt seine Knarre. Am Ende ist Questis Wohnung einmal mehr ein Blutbad. Ein Inspektor und sein sidekick erscheinen, stellen fest: Unter jeder Maske ist das gleiche Gesicht, nämlich das Questis. Der Inspektor kratzt sich am Kopf: Offenbar hat der Mörder sich selbst gleich dreimal um die Ecke gebracht. Um zu illustrieren, was Blondine und Macho miteinander treiben, fasst Questi sich selbst am Hintern, am Oberschenkel an. Im fertigen Film sieht das dann so aus, als sei das eine fremde Hand die einen Frauenkörper tätschelt. Mehr noch: Questi klemmt sich den Penis zwischen die Beine, fährt mit dem Finger durch seine grauen Schamhaare, als stimuliere er eine Klitoris. Das wirkt nicht peinlich, nicht provokant. Es ist Teil einer Erzählung, der man anmerkt, dass sie darauf drängt, erzählt zu werden. Mit bescheidenen Mitteln, klar, oder womöglich nur wegen dieser bescheidenen Mitteln, weil sie anders gar nicht funktionieren würde. Einzig VACANZA CON ALICE vom September 2005, siebzehn Minuten lang, unterlegt mit Ravel, wirft das etablierte Konzept über Bord. Questi ist draußen, unter freiem Himmel. Er ist nicht allein. Pauline Mancini heißt das kleine Mädchen, dem er hinterherläuft wie Lewis Carrolls Alice ihrem Kaninchen. Caroll ist der Film dann auch gewidmet. Für Questi typisch endet er mit Mord und Totschlag. Das kleine Mädchen tötet diesmal den alten Mann. Woher kommt Questis Obesession, sich selbst sterben zu lassen?

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Ein Schlüsselwerk ist VISITORS vom März 2006, einundzwanzig Minuten lang, unterlegt mit Bartók. Als junger Mann hat Questi als Partisane im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Er war Zeuge und Partizipant der schlimmsten Massaker. Der Verdacht liegt nahe, dass manche Szene in seinem Western SE SEI VIVO SPARA von dieser Zeit inspiriert ist. VISITORS widmet er seiner Generation. Einer Generation, die konfrontiert war mit dem sinnlosen Blutvergießen und dem erbitterten Hass des Krieges. VISITORS ist möglicherweise das persönlichste Werk, das Questi jemals gedreht hat. Für mich ist es auf jeden Fall zusammen mit ARCANA sein ergreifendstes. Auch diesmal erhält Questi Besuch, nur ist alles weniger verklausuliert, weniger abstrahiert. Seine Besucher, das ist eine Gruppe Faschisten, die er damals erschossen hat. Ihre Gesichter sind Schwarzweißphotographien, darüber Hüte. Sie erscheinen erst nachts. Bald fühlen sie sich sicherer, laufen auch bei Tag in seiner Stube herum. Questi flüchtet sich in den Alkohol. Es nutzt nichts: Die Vergangenheit zwingt ihn, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Er blättert in alten Heften, Zeitungen. Er weiß noch genau, wie jeder einzelne der Männer hieß, die durch seine Kugel starben. Was wollt ihr von mir? Sie erklären, sie hätten die Chance die Erde für immer zu verlassen. Ein Raumschiff warte auf sie. Das wäre die Erlösung. Nur: Besteigen können sie es erst, wenn es keinen Mensch auf Erden mehr gibt, der sich an sie erinnere. Questi sei der letzte dieser Menschen. Außerdem der, der sie getötet habe. Sie unterbreiten ihm ein Angebot, die ruhelosen Gespenster: Wieso tötet er sich nicht selbst, und kommt mit ihnen mit, hinauf ins Weltall? Questi sitzt allein an seinem Küchentisch, die geladene Waffe vor sich. Es hat mich zu Tränen gerührt, wie dieser Achtzigjährige sich auf zugleich verquere, vor allem aber unheimlich ehrliche und innovative Art und Weise mit seinen eigenen Dämonen, seinen Traumata, seinem schlechten Gewissen auseinandersetzt. Auf einmal wirkt es, als seien all diese home videos Teil eines großangelegten Exorzismus. Es hat Questi viele Umwege gekostet, doch am Ende ist er dort, wo er hatte hinwollen. Es ist, als seien all diese home videos Teil einer Therapie, die in Bilder packen und damit fixieren soll, was man sonst nicht mehr aushält. Es hat Questi viele Umwege gekostet, doch am Ende erzählt er mir das, was ihm am wichtigsten ist: Wie er an seinem Lebensabend auf das blickt, was nun hinter ihm liegt.
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Salvatore Baccaro
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Re: By Giulio Questi (2002-2006)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Noch ausführlicher, inhaltlich aber teilweise identisch, geht's, wie ich eben feststellte, hier zur Sache:
http://whoknowspresents.blogspot.de/201 ... uesti.html
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