Die Nackte und der Kardinal - Lucio Fulci (1969)

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Moderator: jogiwan

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DrDjangoMD
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Die Nackte und der Kardinal - Lucio Fulci (1969)

Beitrag von DrDjangoMD »

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Originaltitel: Beatrice Cenci

Land: Italien

Jahr: 1969

Regie: Lucio Fulci

Darsteller: Adrienne Larussa, Antonio Casagrande, Thomas Milian, Raymond Pellegrin, Georges Wilson, Ignazio Spalla,…

Handlung:
Das Oberhaupt der Familie Cenci ist ein brutaler Tyrann, welcher jedoch auf Grund seiner adeligen Herkunft glaubt, mit seinen Verbrechen davon kommen zu können. Nach einem Vergehen gegen seine eigene Tochter Beatrice ist das Maß entgültig voll und seine Familie beschließt das Ekel aus ihrem Leben hinauszumorden…

Kritik:
Was diesen Film am meisten auszeichnet ist wohl sein unüblicher Aufbau. Bevor ich auf diesen näher eingehe jedoch noch ein paar Worte allgemein:
Der Film ist äußerst prunkvoll ausgestattet, auch wenn das Budget wohl keine Massenszenen beinhaltet hat, bekommen wir in überschaubaren Räumen durch Kostüme und Innenarchitektur ein Zeit-authentisches Feeling. Das steigt wiederum die Wirkung der Geschichte, da sie durch die liebevolle Ausstattung nicht wie der nächstbeste Trash aus dem Hause Mattei und Co. wirkt sondern wie eine historische Begebenheit, die sich in dieser oder ähnlicher Form durchaus zugetragen hätte können.
Die Darsteller tun ihre Sache sehr gut, neben Milian, der hier eine sehr ernste Rolle, ohne seine üblichen Grimassen, verkörpert und dem wie stets witzigen Ignatio Spalla und Steffen Zacharias bekommen wir eine ganze Riege guter Schauspieler, die ich bis dato noch nicht gekannt habe, aber gerne näher kennen lernen würde.
Fulci inszeniert sauber und talentiert. Er verzichtet hier auf eine surreale Farbgebung oder untypische Einstellungen und konzentriert sich mehr darauf das Geschehen so real wie möglich rüberkommen zu lassen. Ich bin zwar ein Freund von übertriebenen Lichteinwirkungen und Kameraperspektiven aber der nüchterne Stil, der hier an den Tag gelegt wird passt hervorragend zu der tragischen Geschichte, die gezeigt wird. Nur ein paar Szenen, wie der Kampf des Mannes mit der Meute wilder Hunde oder der Mord an Papa Cenci, lassen Fulcis späteren Werdegang erahnen.
Nun aber zu dem Aufbau des Filmes, der für mich gleichzeitig seine größte Stärke und seine größte Schwäche darstellt. Fulci erzählt die Handlung nicht geradlinig, beginnt ein paar Stunden vor Schluss, zeigt in einer Rückblende den Anfang, in der ersten Hälfte kommt dann plötzlich der gefürchtete Cenci zu Tode und in der zweiten Hälfte erfahren wir in langsamen Schritten wie es dazu kam.
Dies macht den Film einerseits originell und dies ist auch gut so, denn, so sehr ich auch die Inszenierung gelobt habe, wirklich erinnerungswürdig ist sie nicht. Sie hat keine wirkliche Besonderheit und ist für heutige Verhältnisse auch nicht mehr so kontrovers, dass sie sich dadurch auszeichnen würde. Der Aufbau macht den Film aber einmalig und interessant, bringt das Publikum dazu aufmerksamer zuzusehen und sich darüber Gedanken zu machen.
Der negative Aspekt daran ist allerdings, dass Fulci mit diesem Konzept selbst ein wenig überfordert scheint. Einige Schnitte sind ziemlich seltsam, wir sehen beispielsweise den Patriarchen putzmunter, nur um eine Begräbnisszene folgen zu lassen und ich konnte erst nach einer Viertelstunde erahnen, dass der Patriarch da eingesargt wurde. Den abschließenden Höhepunkt bildet so nicht der Mord an dem Tyrannen (welcher durch seine grausame Darstellung und die Überwindung der Familie bis es soweit war einen guten Höhepunkt abgegeben hätte), sondern das Verbrechen Cencis gegen Beatrice, welches wir ohnehin sofort erraten hätten, sofern es nicht der DVD-Text schon längst in allen Details gespoilert hätte.
Fazit: Verwirrend aber immerhin einmalig aufgebautes Historiendrama mit guten Darstellern und netten Kostümen. 7/10
dr. freudstein
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Re: Die Nackte und der Kardinal - Lucio Fulci

Beitrag von dr. freudstein »

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Entfernt, da beim Bildhoster TinyPic leider nicht mehr verfügbar.
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Arkadin
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Re: Die Nackte und der Kardinal - Lucio Fulci

Beitrag von Arkadin »

Reviews 1998-2002

Nach dem Tod des reichen und mächtigen Cenci wird seine Familie, unter dem Verdacht ihn umgebracht zu haben, festgenommen. Nach langen Verhören und Folter kommt die Wahrheit ans Licht: Cenci war ein tyrannisches Scheusal, der auch nicht davor zurück schreckte seine eigene Tochter Beatrice zu mißbrauchen...

Fulci at his best. Von der Bildkomposition und Kameraführung her ist Fulci hier auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Jede Einstellung sitzt. Ich wage einfach mal die These, dass Fulci hier besser war, als Argento bei seinen ersten Filmen. Dabei trennen die beiden Welten. Fulcis Film hat etwas rauhes, hat Ecken und Kanten. Die Eleganz der traumhaften Kamerafahrten, die Argento berühmt gemacht haben, geht ihm völlig ab. Dafür versteht er es, eine Einstellung wirklich zu komponieren und sie sehen eher wie Gemälde aus. Was Argento mit Bewegung erreicht, dass setzt Fulci mit der Bildanordnung um. Grade „Beartice Cenci“ ist hierfür ein perfektes Beispiel. Doch kommen wir zu dem Film selber, den Fulci als seinen gelungensten bezeichnet. Obwohl der Film oftmals in Richtung „Hexenjägerfilm“ gedrängt wird, hat er mit dieser Gattung so gut wie gar nichts zu tun. Auch wenn Folterkammern und eine gehörige Portion Kirchenkritik darin vorkommen. Die Darsteller sind durch die Bank weg fantastisch und auch die Struktur des Filmes in dem sich die ganze, grausige Wahrheit erst Stück für Stück offenbart, sorgt dafür, dass der Zuschauer ständig gespannt bei der Sache bleibt. Ich würde „Beatrice Cenci“ als Familientragödie oder eher noch als „Krimi“ bezeichnen, aber garantiert nicht als „Hexenjägerfilm“. Aber die Leute, die den Film in diese Ecke stellen, haben ihn wahrscheinlich noch nicht einmal gesehen, sondern kennen ihn nur vom Hören und Sagen. Sehr schade, denn hier haben wir es mit einem echten Klassiker zu tun, den man gesehen haben sollte.
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McBrewer
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Re: Die Nackte und der Kardinal - Lucio Fulci

Beitrag von McBrewer »

Ich kann meinen Vorrednern nur beipflichten: "Die Nackte und der Kardinal" ist Onkel Fulcis handwerklich bester Film (von denen, die mir bisher bekannt sind). Aber hier passt wirklich jede Einstellung. Die Kamera schwebt förmlich um die Darsteller. Es gibt etliche tolle Zooms, die Farben sind prächtig, die Kostüme, man leidet mit Larussa & Milian.
Ich denke mal, wenn die "Italos" historische Filme realisieren wollten, hatten die Produzenten kein Problem damit, ein ordentliches Budget zusammen zu treiben, oder?
Und wie Arkadin schon schrieb, keine Hexenverbrennung, sondern eher ein "Kriminalistisches Drama", nur leider wird auf der Rückseite der NEW-Scheibe ganz schön gespoilert :|
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buxtebrawler
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Re: Die Nackte und der Kardinal - Lucio Fulci (1969)

Beitrag von buxtebrawler »

Erscheint voraussichtlich am 05.07.2023 bei VZM noch einmal auf DVD:

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Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
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Re: Die Nackte und der Kardinal - Lucio Fulci (1969)

Beitrag von Captain Blitz »

Eine DVD, genau das, was man heutzutage braucht. :opa: Wo bleibt eine vernünftige HD-VÖ?
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Il Grande Racket
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Re: Die Nackte und der Kardinal - Lucio Fulci (1969)

Beitrag von Il Grande Racket »

Captain Blitz hat geschrieben: Di 4. Jul 2023, 16:56 Eine DVD, genau das, was man heutzutage braucht. :opa: Wo bleibt eine vernünftige HD-VÖ?
Gibt es längst aus England. :wink:
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Salvatore Baccaro
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Re: Die Nackte und der Kardinal - Lucio Fulci (1969)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Welch Meisterwerk ist denn bitteschön Fulcis BEATRICE CENCI, sowohl inszenatorisch, soundtechnisch wie bezüglich seines kultur- und kunstgeschichtlichen Referenzrahmens!

Inszenatorisch, weil seine montagetechnisch temporal-spartial völlig durcheinandergewürfelte Struktur eine halluzinogene Qualität besitzt, die mich gleichsam traumgleich in die schlimme Geschichte hineinzieht, und kaum Nischen zum Entkommen lässt: Wie ich erst eine Weile brauchte, um zu kapieren, dass hier verschiedene Zeit- und Deutungsebenen nebeneinander existeren, was es mir, als externem Zuschauer, mit einem finalen Urteil ungleich schwerer fallen lässt als denen, die im Film das finale Urteil über Beatrice fällen.

Soundtechnisch, weil beispielweise Folklore-Gesänge, hymnische Chöre oder sonstige Geräusche stets nahe genug an meinem Ohr eingespielt werden, dass ich glauben muss, sie seien Teil der intradiegetischen Welt, dann aber nirgendwo im Bildkader selbst ihre Quellen zu entdecken sind, was sie dann wiederum als eindeutig extradiegetisch markiert: Ein genuin surrealer Effekt, der hier sozusagen beiläufig, wie unter der Hand, ausgespielt wird, dass ich nur staunen kann.

Kulturell und künstlerisch referentiell natürlich, weil die Geschichte der Familie Cenci quasi zum Kanon verfemter europäischer Kulturgeschichte zählt: Shelley schrieb eine Trägodie; Stendhal eine Novelle; in Italien nahm sich Francesco Domenico Guerrazzi des Stoffs an - und im Jahre 1935 müht sich ein eher marginalisierter Schriftsteller und Künstler namens Antonin Artaud in Paris, mit seiner Adaption "Le Cenci" das Theater zu revolutionieren.

Fünfzehn Seeteufel würde ich fressen, wenn Fulci nicht durchaus bewusst gewesen ist, dass ausgerechnet Artaud die Cenci als Möglichkeit entdeckte, seine Vision eines "Theater der Grausamkeit" auf Bühnenbeine zu stellen. Artaud interessiert sich für Exzess, Gewalt, für alles Abjekte und Transgressive; Artaud experimentiert in seiner "Cenci"-Aufführung Anno 1935 hochgradig mit Sounds, entdeckt förmlich Dolby-Surround, wenn er das Theaterpublikum aus allen Ecken und Enden mit ohrenbetäubenden Geräuschen und experimentell-elektronischen Musiken beschießt; Artaud imaginiert sich einen (künstlerischen) Raum, der jedwedes Gesetz mit Füßen tritt, mit Religion, Familie, Staat aufäumt, der all seine Aspekte wie Schauspielführung, Beleuchtung, Bühnenbild unter das Diktat einer radikalen Entgrenzung stellt.

BEATRICE CENCI mag zwar inszenatorisch nun nicht wirklich an der klassischen Avantgarde kratzen, - gerade aber seine Folter- und Gewaltszenen zählen, puh, zum Schlimmsten, was ich seit langem gesehen habe: Tomas Millan auf dem Rad; ein Mann, der von Hunden zerfleischt wird; Beatrice, aufgehängt an den Haaren. Wobei der Film aber freilich nicht dabei stehenbleibt, Artauds Konzeption rein oberflächlich zu nehmen. Artaud geht es ja um mehr als der bloßen Darstellung von Sex & Violence um ihrer selbst willen auf der Bühne: Er möchte die westliche Welt von dem ihr immanenten Logozentrismus befreien, sie zurückführen auf eine primitive, nachgerade magische Ebene, solche Dinge wie Logik, Sinn, Semantik entthronen - der pure Körper, der pure Schrei sollen regieren: Eine Theateraufführung endet nicht mit Fall des Vorhangs, sondern setzt sich fort in den physischen Leibern der Zuschauer, die durch diese aus ihrer allumfassenden Lethargie gerüttelt und zu einer möglichst gewaltsamen Revolution gegen Vernunft, Ökonomie, Gottvertrauen angestachelt werden.

Auch das erreicht Fulcis CENCI als Produkt eines kommerziell operierenden Kinos natürlich nie ganz, (wenn auch, immerhin, in Stücken: der Nagel in Cencis Auge; manche Großaufnahem der aufgerissenen Beatrice-Augen; ein besonders schöner Moment, in dem die Kamera um die Figuren wie ein Raubtier kreist), aber, hey, der Teufel soll mich jagen, wenn ich nach Sichtung dieses Films nicht in meinen Tiefsten erschüttert gewesen bin. Welch Hohn der deutsche Kinotitel doch ist: DIE NACKTE UND DER KARDINAL?!
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