Produktionsland: Italien 1964
Regie: Tinto Brass
Kennt jemand nur seinen SALON KITTY oder CALIGULA oder gar die zahllosen Erotikfilme mit dickärschigen und dickbusigen Damen, denen er sich ab den 80ern gänzlich verschreibt, wird es diesen Jemanden, mag er genannte Filme nun mögen oder ablehnen, wahrscheinlich nicht wenig wundern zu hören, dass Tinto Brass nach seinem Studium an der Cinémathèque francaise und seiner Beschäftigung als Kameramann für Alberto Cavalcanti oder Roberto Rossellini in den frühen 60ern zur Speerspitze der italienischen Filmavantgarde gehört hat. Ein Beweis hierfür ist Umberto Ecos Einladung an das junge Talent, doch einen künstlerischen Beitrag zur Triennale in Mailand zu leisten. Das Ergebnis besteht aus zwei jeweils knapp zehn Minuten langen Filmen namens TEMPO LIBERO und TEMPO LAVORATIVO, die den Besuchern beide parallel in einer Art Glaspyramide gezeigt worden sind, und dabei wohl nicht wenigen die Sinne haben vergehen lassen. Obgleich sich TEMPO LIBERO der Freizeitgestaltung des modernen Menschen widmet und TEMPO LAVORATIVO demgegenüber sich dessen Arbeitsalltag, sind die Filme strukturell und ästhetisch zwei Eier aus der gleichen Schale: Verwendung fanden einzig und allein Archivaufnahmen, die Brass auf eine Weise zusammenmontiert hat, die mit das menschliche Auge überfordernd wohl noch schmeichlerisch umschrieben ist. Jedes Bild dauert nur Bruchteile von Sekunden. Die Montage feuert sie derart rapide hintereinander ab, dass sie regelrecht ineinander überzugehen scheinen: Mein Auge kommt aufgrund seiner anatomischen Beschaffenheit schlicht nicht mehr mit. Dazu ertönt ein Soundtrack aus hochgepitchtem Gesang und beschleunigten Versatzstücken klassischer Musik z.B. von Strawinksy, deren Tempo – wie das der visuellen Ebene – dazu führt, dass er permanent an der Grenze zum reinen Noise entlangschrammt. Ich kann mir gut vorstellen, dass nicht wenige Triennale-Gäste Brass‘ Glaspyramide angesichts eines solchen Frontalangriffs auf alle Sinnesorgane fluchtartig verlassen haben mögen.
Ich liege am Strand, die Füße im Sand, ein leider nur noch halbkaltes Weizenbier in der Hand, und in der andern noch immer CRITIQUE DE LA VIE QUOTIDIENNE aus dem Jahre 1958, wo, zwei Jahre vor Tinto Brass‘ Triennale-Offensive, Henri Lefebvre noch immer schreibt: „Die bürgerliche Gesellschaft hat der Arbeit eine neue Wertschätzung zuteilwerden lassen, vor allem in der Periode ihres Aufstiegs; in dem geschichtlichen Augenblick aber, in dem sich der Bezug zwischen der Arbeit und der konkreten Entwicklung der Individualität zu realisieren begann, nahm diese Arbeit immer mehr den Charakter vereinzelter Tätigkeit an. Auch ist die Freizeit von passivem Verhalten geprägt. Der Zuschauer vor der Leinwand des Kinos ist ein Beispiel und ein gängiges Bild dieser Passivität, deren virtuell ,entfremdeter‘ Charakter unmittelbar erscheint. Die moderne Zivilisation der Industriegesellschaft erzeugt durch die parzellierte Arbeit zunächst ein allgemeines Bedürfnis nach Freizeit, und dann im Rahmen dieses Bedürfnisses konkrete Bedürfnisse. Wir haben hier ein Beispiel eines neuen gesellschaftlichen Bedürfnisses spontanen Charakters vor uns, das die soziale Organisation entsprechend den von ihr angebotenen Befriedigungsmöglichkeiten lenkt, ausbildet, beeinflusst und modifiziert. Diese Zivilisation produziert Techniken, die auf die neuen Bedürfnisse reagieren, deren Sinn und Charakter indes außerhalb der Techniken liegen. Das erstaunlichste Verlangen, das in der Freizeitgestaltung der Massen heute auftritt, ist das Verlangen nach einem Bruch. Die Freizeit soll (wenigstens scheinbar) mit der Alltäglichkeit brechen; nicht mit der Arbeit allein, sondern mit dem Alltag in der Familie. Aus der Freizeitbeschäftigung dürfen keine neuen Sorgen, Verpflichtungen, Notwendigkeiten erwachsen, sondern sie soll von Sorgen und Pflichten befreien. Die Kunst, diesen Bruch zu erhalten, wird zur angewandten kommerziellen Technik, die sorgfältig eingesetzt wird. Geschickte Lieferanten produzieren Tag für Tag Bilder des Alltäglichen, in denen das Abstoßende schön, das Leere erfüllt, das Gemeine großartig wird. Und das Schreckliche ,faszinierend‘. Die Ausbeutung der Bedürfnisse und der Unzufriedenheit des heutigen Menschen geschieht so geschickt und überzeugend, dass sich kaum jemand der Verführungskraft und Faszination dieser Bilder verschließen kann. Es sei denn, er hielte stur am Puritanismus fest, indem er mit allem ,Sensationellen‘ das Leben selbst und die Gegenwart ablehnt.“
Zuerst hat mich Tinto Brass‘ unfassbares Diptychon, das wohl selbst Montagemeister wie Eisenstein oder Vertov die Cutter-Schere aus den Händen geschleudert hätte, ungemein elektrisiert und amüsiert. Da gibt es vollkommen unerwartete Bildabfolgen, die gerade aufgrund der Schnelle, mit der sie ineinander übergehen, einer grotesken Komik nicht entbehren. Ein Priester küsst nach einer Heilige Handlung den Boden – und wechselt dabei immer wieder mit Aufnahmen eines knutschenden Liebespaares, sodass es meinem Auge scheint, als wäre das in Wirklichkeit eine méange à trois. Schön arbeitet Brass auch den Massenproduktionscharakter der westlichen Industriegesellschaft heraus bzw. er zeigt ihn einfach unverblümt: Endlose Automobile, die vom Fließband rollen, und endlose Arbeitermassen, die in die Fabriken strömen. Dabei ist der eigentliche Punkt von Brass‘ Filmen: Beides, Arbeit und Freizeit, läuft nach dem gleichen Rhythmus ab. So wie sich die Menschen in TEMPO LIBERO im Jahrmarktsrummel, auf Militärkapellenkonzerten, bei Stierkämpfen und Straußenrennen (wo hat Tinto nur dieses footage her?!) im wahrsten Sinne exzessiv auflösen, so tun sie das in TEMPO LAVORATIVO in den Industrien, den Büros, dem Haushaltsputz, Klamottenwaschungen im ländlichen Flusslauf. Am Ende beider Filme steht das manische Lachen Verrücktgewordener. Noch einmal legt da das Tempo zu, so sehr, dass TEMPO LIBERO und TEMPO LAVORIATIVO einen Zenit erreichen, von dem aus die Nerven nicht noch angespannter werden könnten: Sie kollabieren, tot vor Erschöpfung. Freizeit und Arbeitswelt wirken bei Tinto Brass wie zwei gleich kalibrierte Matrizen, deren Parametern wir uns beugen, um schließlich von ihnen zermalmt zu werden. Das eine existiert nicht ohne das andere, sondern viel eher allein durch das andere. Das eine ist aber auch kein wirklicher Ausgleich zum anderen. Beide, Arbeit und Freizeit, haben rituellen, absolut konventionellen Charakter. Dadurch bekommt Brass‘ Diptychon, das ich zu gerne in der oben erwähnten Glaspyramide gesehen hätte, etwas von einem schematischen Tanz, den man, einmal in die einzelnen Schritte eingeübt, bis zum bitteren Ende tanzen muss. Das ist eine traurige Erkenntnis, vielleicht, möglicherweise aber auch eine heilsame. Nach meinem irren Gelächter folgt die Reflexion, und ich denke an all die Unabhängigen, von Natur aus Verrückten, an all die wirklich Glücklichen, vorausgesetzt das gibt es, wirkliches Glück, die in Brass‘ Filmen natürlich nicht auftauchen, weil sie außerhalb der Maschine zu stehen – zu unbedarft, zu unschuldig, zu arm dafür, was auch immer.
Ich sitze im Kino, nachdem TEMPO LIBERO und TEMPO LAVORATIVO hübsch nacheinander und nicht, wie es Brass‘ Intention gewesen ist, hübsch synchron gelaufen sind – doch welches Kino kann sich heutzutage schon noch gleich zwei 8mm-Projektoren leisten?! -, und erinnere mich daran, wie Henri Lefebvre schreibt: „Georges Friedmann identifiziert in seinem Buch (OÙ VA LE TRAVAIL HUMAIN?) Freizeit wesentlich mit Freiheit und Arbeit mit Notwendigkeit. Für ihn ist das soziale Problem daher ein doppeltes: Einerseits geht es um rationelle Arbeitsorganisation – auf der anderen Seite um rationelle Organisation der Freizeitbeschäftigung, vor allem der ,kompensierenden Beschäftigung‘, in der die Arbeiter ihre ,Persönlichkeit‘ ausdrücken sollen. Nur die Freizeit entrinnt dem technischen Milieu, also der Notwendigkeit, die zugleich Entpersönlichung ist. In der Freizeit sind wir schon jenseits der Technik. Wir springen von der Notwendigkeit in die Freiheit, von dem Bereich, der das Individuum versklavt, in jenen, der ihm seine Entfaltung gestattet.“ Oder auch nicht, höre ich mich mit der Stimme von Tinto Brass‘ Filmen sagen, als ich am nächsten Morgen in einer U-Bahn voller mürrischer Gesichter ins Büro fahre. TEMPO LIBERO oder TEMPO LAVORATIVO, im Grunde ist beides austauschbar. Alles, was die beiden Flügel des Altars voneinander unterscheidet, sind die jeweiligen Bilder, die Brass‘ ausgewählt hat. Und selbst die sind relativ: Für den Blasmusiker auf dem Dorffest, ist das nicht Arbeit, seine Flöte zum Klingen zu bringen, während der betrunkene Proletarier vor ihm fern der Fabrik zu Schunkeln anfängt? Meine Gedanken ziehen Schlieren wie die Bahn in den stockfinsteren Tunneln: Bin ich frei, wenn ich nichts tue, d.h. mich zum Stillstand zwinge? Bin ich frei, wenn etwas tue, d.h. mich arbeitend selbst verwirkliche? Ist das überhaupt ein Begriff, über den es sich nachzudenken lohnt: Freiheit? Schon lange jedenfalls hat mich kein Film so erheitert, erstaunt und zum Nachdenken gebracht wie TEMPO LIBERO / TEMPO LAVORATIVO. Noch immer grinse ich in Erinnerung daran, wie sich da die Bilder, die Ideen jagen, während ich die Strauße füttere, und, wenn sie durch das Futter abgelenkt ist, ihre Waden kontrolliere, ob sie schon bereit genug sind, für ihr erstes Rennen anzutreten.