Ergänzend zum Film habe ich gerade diesen interessanten Bericht aus dem Jahr 2013 in der österreichischen Tageszeitung "Der Standard" gefunden, der nebenher auch einige Fragen zum Film klärt. (aufgrund der Länge unter Spoiler-Tags). Und "Leptirica" heißt übersetzt Schmetterlingsweibchen - auch wieder was gelernt.
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In dem serbischen Dorf Zarožje wird heute versucht, die Geschichte über den Müller Sava Savanović zu vermarkten
Fast die Hälfte der Leute aus Zarožje ist in die Schweiz gegangen. Deshalb gibt es in dem serbischen Dorf auch neue Häuser, gebaut von dem Geld der Weggegangenen. Diese Häuser stehen aber oftmals leer. Denn nach Zarožje kommen nur wenige auf Dauer zurück. Die Bauern hier machen Käse, bauen Kartoffeln an, räuchern Schweinebäuche, machen feinen Schnaps und sind die herzlichsten Menschen der Welt, die jeden sofort an ihren Tisch bitten. Im Winter sind sie zuweilen abgenabelt von der Welt. Hier in den Bergen an der bosnischen Grenze kann man manchmal sogar vom Schornstein in den Schnee springen, so viel schneit es hier. -
In Zarožje gibt es viele Geschichten von Königen und früheren Meeren und Bergen, auf denen Schlachten entschieden wurden. Und - in Zarožje wissen alle wie ein Vampir schreit, bevor er zubeißt. „Huhuwuhu", versucht es Radica Davidović, die Arabistin, die in Belgrad studiert hat und keinen Job findet, wie so viele der jungen, gut ausgebildeten Serben. "Huwuhihwu", macht auch Mama Davidović. Der Vampir-Angriffston ist in ganz Ex-Jugoslawien bekannt, wo der Film "Leptirica" aus dem Jahr 1973 ein Grusel-Kult war. "Leptirica" (Schmetterlingsweibchen) geht auf die Geschichte des Müllers Sava Savanović aus Zarožje zurück. Der Tankstellenbesitzer Mija Vujetić ist der Vampir-Experte des Dorfes. Nach seiner Version der Legende lebte im Jahr 1780 hier ein Bürgermeister namens Živan Vujić, der eine Tochter namens Radojka hatte. Radojka verliebte sich wiederum in einen jungen Mann namens Strahinja Đilas, der aus Bosnien gekommen war. Es war eine sehr schöne und tiefe Liebe. Weil aber der Bürgermeister den armen Schlucker aus Bosnien nicht zum Schwiegersohn haben wollte, heckte er einen Plan aus. Zu dieser Zeit trieb Sava Savanović, der Vampir, bereits in der Mühle unterhalb des Dorfes sein Unwesen. Einige Leute, die dort Mehl mahlen wollten, waren bereits von ihm zu Tode gebissen worden.
Also schickte der Bürgermeister den verschmähten Schwiegersohn Strahinja in die Mühle. Vorher wurde - um die böse Tat zu verschleiern - noch ein anderer Bürgermeister eingesetzt, erzählt Mija Vujetić. Doch Strahinja war nicht blöd, bastelte eine Puppe aus Holz, zog ihr seine Kleider an und als Sava Savanović kam, verbiss sich der Vampir in die Holzpuppe. Und Strahinja Đilas nahm sein Gewehr und schoss auf den Vampir, worauf dieser sagte: "Ich gehe seit hundert Jahren niemals ohne Abendessen hier weg. Aber diesmal gehe ich ohne Abendessen." Daraufhin entwich der Vampir, doch es flog ein Schmetterling - also die Seele - aus seinem Herzen. "Sava Savanović war seitdem nicht mehr hier in Zarožje. Es kann sein, dass er jetzt sogar in Amerika ist. Vampire kennen ja keine Grenzen.", mutmaßt Herr Vujetić, der in seinem Gasthaus neben der Tankstelle sitzt. Herr Vujetić hat eine Mappe mit detaillierten Plänen für die Mühle unten in der Schlucht, die er wieder aufbauen möchte. "Sie ist im Winter durch den Schnee zusammengebrochen. Und es kann sein, dass Sava Savanović jetzt sauer ist und wieder nach Zarožje zurückkommt."
Es ist wohl so, dass Herr Vujetić selbst darüber gar nicht so böse wäre. Denn er zeigt durchaus Ambitionen, den Vampir zu vermarkten: Vor seiner Tankstelle steht ein großes "Sava Savanović"-Schild mit einem Pfeil - 3 km. Vujetić verteilt auch Vampir-Schlüsselanhänger. Im nahe gelegenen Valjevo, wo die Mädels extrahohe Stöckelschuhe tragen und bis sehr spät in die Nacht feiern, kann man sogar ein "Anti-Stress-Vampir-Wochenende" buchen. Die Mühle selbst ist tatsächlich lädiert. Sie steht wackelig an einem sehr lauten Bach, an dem gerade zwei Männer Bärlauch sammeln. Hier hat sicher seit Jahrzehnten keiner mehr Mehl gemahlen. Der Mühlstein liegt am Bachbett. Er wirkt schon ziemlich alt. "Als Savanović angeblich sein Unwesen trieb, gab es diesen Volksglauben schon lange - er ist also ein Produkt jahrhundertealter Traditionen und Überlieferungen, viel älter als er selbst", erklärt der deutsche Vampir-Forscher Peter Mario Kreuter.
Tatsächlich dürfte der älteste Beleg für Vampire ein Passus im Gesetzbuch des serbischen Zaren Stefan Uroš IV. Dušan (1331-1355) von 1349 sein, erklärt der Wissenschaftler von der Universität Regensburg. Darin wird verboten, Tote aus den Gräbern zu nehmen und sie zu verbrennen, bei Geldstrafe für das Dorf und dem Verlust der Würde im Falle von Popen, so Kreuter. "Der älteste namentlich bekannte Vampir ist Jure Grando aus Kringa in Istrien. Dieser war 1656 gestorben und suchte danach angeblich sein Dorf als "strigon" heim", so der Experte. Mit den sogenannten "Vampirakten", die sich in Wien im Haus-, Hof- und Staatsarchiv bzw. im Hofkammerarchiv befinden, hob ab 1725 dann eine dichte Überlieferung von Vampirfällen an, beginnend mit Nordbosnien und Serbien, die dank dem Sammeleifer der österreichischen Verwaltung noch heute existieren und in denen österreichische Feldscherer (also Militärärzte) detailreich die Exhumierung verdächtiger Leichen und die Verbrennung von solchen in gutem Zustand schildern, erzählt Kreuter. Ein berühmtes Beispiel dafür sei etwa der 1756 angefertigte Bericht von Georg Tallar, der 1784 in Wien unter dem Titel "Visum Repertum Anatomico-chirurgicum oder gründlicher Bericht von den sogenannten Blutsäugern, Vampier, oder in der wallachischen Sprache Moroi, in der Wallachey, Siebenbürgen, und Banat" gedruckt wurde.
Kreuter erläutert, dass Legenden von Vampiren die Jenseitsvorstellung im Volksglauben prägten. Und sie dienten auch zur Erläuterung des Schicksals von Andersartigen. So wurden etwa solche Menschen in Dorfgemeinschaften als Vampire verdächtigt, die unter besonderen Umständen geboren wurden, während eines schweren Unwetters oder jene, die dicht beharrt waren. „Aber auch jedwede Form von Abweichung von gültigen sozialen oder ethischen Normen führt zum Vampirdasein, so dass Mörder, Huren, Räuber oder Konvertiten, aber auch solche, die sehr jung, sehr alt oder bei einem ungewöhnlichen Unfall starben, verdächtigt werden, im Grab zum Vampir zu werden. Anders gesagt: Jede Form von 'Anomalität' ist suspekt", so Kreuter. Der Vampir komme jedenfalls stets aus dem Umfeld des Dorfes. "Er ist ein ingroup enemy." Vampire gibt es auch in anderen Kulturen, etwa in Asien und in Afrika. Sie sind eine Variation der Figur des Widergängers, wie dies auch Gespenster sind.
Sava Savanović wurde laut der Vorstellung der Menschen in Zarožje zur Strecke gebracht, nachdem die älteste Großmutter das Grab des Vampirs ausgemacht hatte: Dort wo ein schwarzes Pferd mit den Füssen aufstampfe, werde man ihn finden, soll sie gesagt haben. Man müsse dann einen Weißdorn-Pfahl in das Herz des Vampirs stoßen, um ihn unschädlich zu machen, lautete ihr Rat. Tatsächlich bringt Herr Vujetić einen Weißdorn-Zweig, auf dem eine Knoblauchzehe aufgespießt ist. "Das hängen wir hier über unsere Türen, um das Böse abzuwehren", erklärt er. In Zarožje werden bis heute merkwürdige Ereignisse dem Vampir untergeschoben. Etwa als vor fünf Jahren zwei Brüder, die ihr verloren gegangenes Schaf suchen wollten, vom Felsen stürzten und starben. Und so war es auch, als vor acht Jahren ein Polizist ganz in der Nähe der Mühle einem Herzinfarkt erlag. Erstmals aufgeschrieben hat die Legende von Savanović der Schriftsteller Milovan Đ. Glišić im 19. Jahrhundert.
Einen besseren Ort für Märchen gibt es tatsächlich kaum. Kurz bevor man auf die Hügelkette gelangt, von der aus der Blick auf die Drina freigegeben ist, liegt Zarožje: Ein paar Häuser auf dem einen Hügel, ein paar auf dem nächsten, dazwischen ein Gasthaus "Zu den drei Winden", in dem man auch schlafen kann. Die Drina ist so türkis hier, das sie sich farblich beinahe mit dem Grasgrün der Wiesen schlägt, auf denen hell blühende Obstbäume herumstehen. Nur Schafe und Kühe sind zu hören. Man möchte wünschen, dass die Weggegangenen aus der Schweiz zurückkommen und hier den Widergänger Savanović vermarkten, damit auch andere Menschen diese Landschaft sehen. Einer, der sieben Besitzer der Mühle, Herr Vladimir D. Jagodić, geboren 1933, sitzt ebenfalls in dem Wirtshaus an der Tankstelle und trägt eine grüne Mütze. Er möchte nur über Sachen sprechen, die wirklich mit Fakten zu beweisen sind. "Ich habe 1946 etwa zwanzig Mal in der Mühle geschlafen, um Mehl zu mahlen. Aber es ist mir nichts passiert", erzählt der Mann. "Nur einmal ist die Mühle mitten in der Nacht stehen geblieben. Aber Sava Savanović hat mich wohl deshalb nicht geholt, weil ich einer der Besitzer bin", sagt Jagodić. Ansonsten möchte er nichts über Sava Savanović sagen, weil man eben sonst auch nichts beweisen könne. "Nur eines ist sicher: Sava Savanović hat existiert", sagt er, steht auf und verlässt den Raum. (Adelheid Wölfl, DER STANDARD, 2.5.2013)