Nach seinen beiden Ausflügen in das Horror-Genre, wendete sich Argento wieder dem Giallo zu. Während des Drehs zum daraus resultierenden „Tenebrae“ schien er aber, wie ich fand, im Herzen noch immer am Horror zu hängen. Ein Einfluss, durch den „Tenebrae“ einige Vor- aber auch ein paar Nachteile bekommt.
Betrachten wir das Wichtigste zuerst, nämlich die Regie, die uns nicht weniger gibt, als wir von Argento erwarten, nämlich absolute stilistische Perfektion. Diesmal zeigt der Meister einen Hang zu Kamerafahrten, die durch ihre Länge, ihr Tempo und ihre teils verwinkelten Bewegungen beim Zuseher ein mitreißendes Schwindelgefühl erregen, ihn entsetzen und dadurch direkt in das Geschehen voll Mord und Totschlag hineinziehen. Dies geht so weit, dass uns Argento durch solche Fahrten und einen hastigen Schnitt, wenn er gerade von Nöten ist, die grausigen Mordszenen nicht nur sehen, sondern auch fühlen lässt.
Hier zeigt sich der Horroreinfluss am Deutlichsten. Die Morde sind nicht mehr Mittel zum Zweck die Geschichte voranzutreiben, sondern bis ins letzte zelebrierte Tötungsakte, die durch den richtigen Einsatz von Schnitt, Licht und Effekten zu den Highlights des Filmes werden. Nicht, dass Argento in seinen früheren Gialli keine künstlerisch inszenierten Morde gehabt hätte, aber in „Tenebrae“ sind sie doch um einiges drastischer und gehen mehr unter die Haut.
Leider sind sie aber auch zahlreicher. Und hier kommen wir zu meinem größten und einzigen Kritikpunkt, dem Drehbuch, welches daran scheitert gleichzeitig einen Thriller/ Krimi und einen Horrorfilm zu inszenieren. Der Giallo hatte zwar immer schon einiges von Horror an sich, doch „Tenebrae“ treibt es an die Spitze, wenn man mich fragt, sogar über die Spitze hinaus.
Wir bekommen es mit elf Toten zu tun, das ist nicht der Bodycount von einem Thriller, sondern von „Freitag 13.“! Wie viele Charaktere von den zwölf die wir bekommen überleben kann man sich ja selbst ausrechnen. Dies führt mich auch gleich zum größten Nachteil „Tenebraes“, nämlich, dass er keinen eindeutigen Hauptcharakter hat. Sicherlich, Anthony Franciosa bekommt am meisten Screentime und Daria Nicolodi und Giuliano Gemma verhalten sich auch wie potentielle Helden, aber sie sind weder so liebenswert gedenkwürdige Figuren wie Nicolodi in „Profondo Rosso“, noch stehen sie so eindeutig im Mittelpunkt wie Hemmings in selbigen oder Musante in „Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe“. Im Mittelpunkt stehen die Morde, was sich ein typischer Horrorfilm erlauben dürfte, aber bei einem Giallo halte ich dann doch nach einem Sympathieträger Ausschau, der mich durch den ganzen Film geleitet und um dessen Leben ich in höchster Spannung zittern darf.
Noch dazu scheinen mir einige Szenen recht willkürlich und teilweise sogar unnötig eingefügt worden zu sein. Es ist kein langsames Herantasten an die Identität des Killers mehr, Entwicklungen lassen sich nur schwerlich erkennen, es ist einfach wenig Einleitung, dann massenhaft Morde, dann die Auflösung und dann noch ein paar Morde. Wie gesagt, in einem Horrorfilm funktioniert das so, aber nicht in einem Thriller.
Da mein einziger Kritikpunkt sichtlich die Tatsache ist, dass mich „Tenebrae“ zu sehr an Horror gemahnt, könnte man dann eigentlich nicht sagen, vergessen wir, dass auf dem Cover „Giallo“ steht und betrachten ihn einfach als normalen Horrorfilm? Leider nein, denn er enthält sehr wohl viele Thrilleraspekte, allein die Tatsache wie mit den Morden umgegangen wird und die polizeilichen Ermittlungen, die wieder negativ in einem normalen Horrorfilm wirken würden. Gegen Genrekreuzungen habe ich prinzipiell nichts, Filme wie Soavis „Aquarius“ oder Argentos „Profondo Rosso“ gehören zu meinen Lieblingen, aber dies nur, weil die Drehbücher die Akzente besser setzen und entweder Horror ODER Thriller in den Vordergrund rücken, wobei die Mischung in „Tenebrae“ für mich einfach nicht abgestimmt rüberkam.
Nicht nur die Leichenberge machen den Film düsterer als Argentos frühere Gialli, wir vermissen auch ein wenig den Humor, der in diesen Filmen noch präsent war. Ein bisschen witzig kommen zwar John Saxon und Giuliano Gemma rüber, aber bei erstem sei das „bisschen“ betont und bei zweitem ist es mehr Sympathie als Witz. Prinzipiell nicht verwerflich, aber rückblickend auf Argentos frühere Werke habe ich den Spaß dann doch vermisst.
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Apropos Gemma und Saxon, hier ein kleiner Tipp an Senor Dario Argento: Alle Sympathieträger umzubringen stimmt mich nicht gnädig!!! Sie hätten wenigstens einen leben lassen können, wenn nicht gleich Gemma oder Saxon, dann wenigstens diesen einen jungen Assistenten von Franciosa. Und überhaupt und außerdem, wer besetzt eine Rolle, die den Film nicht überlebt, mit Giuliano Gemma??? Was kommt als nächstes, lassen sie Mario Girotti bei lebendigen Leibe verbrennen oder zeigen sie die Enthauptung des Adriano Celentano, Sie sadistischer Bastard. Entschuldigen Sie bitte vielmals den Kraftausdruck, Herr Argento, ich achte und verehre Sie für Ihre übermenschlichen Leistungen als Regisseur, aber Gemma, ernsthaft?
Bei all dieser Kritik wollen wir aber nicht vergessen, dass durch die Regie noch immer jede einzelne Szene über eine unglaubliche Spannung verfügt. Die Szenen an sich sind perfekt inszeniert, mitreißend, bewegend, einfach atemberaubend. Im Zusammenhang verstört mich der Film halt ein wenig, aber in seine Einzelteile zerlegt ist er göttlich. Dazu kommt die Riege der Darsteller. Anthony Franciosa stellt alle verschiedenen Facetten seiner Rolle glaubhaft da, Daria Nicolodi beweist erneut, dass sie eine hervorragende Schauspielerin ist und Gemma und Saxon machen ihren großen Namen alle Ehre. Kleines Lob auch an den Typen, der sämtliche weiblichen Nebencharaktere offenbar mit den Covermodeln des Playboys besetzt hat. Und last but not least nach einer göttlichen Regie und traumhaften Schauspielern darf der schrille und temporeiche Goblinsoundtrack diesmal natürlich nicht unerwähnt bleiben.
Fazit: Perfekt inszeniert, so dass Argento als Regisseur seinem Gottstatus hier mehr als gerecht wird, und wunderbar dargestellt. Nur das Drehbuch konnte sich meiner Meinung nach nicht zwischen eindeutig Horror und eindeutig Giallo entscheiden. 8/10