Re: Fascination - Jean Rollin
Verfasst: So 17. Aug 2014, 20:28
von Salvatore Baccaro
Eine gewisse Angst begleitet mich immer, wenn ich nach einer gefühlten oder tatsächlichen Ewigkeit wieder zu einem Film greife, von dem ich bis dahin stets in den höchsten Tönen gesungen habe. Manchmal fliehen einen die Enttäuschungen. Es ist schön, sich in allem bestätigt zu sehen, was man, diese eine Sache betreffend, bislang geglaubt hat. Manchmal zerstört die Zeit nicht.
Jean Rollin ist für mich, wie Walerian Borowczyk oder Dario Argento, ein Künstler, der deswegen von der gehobenen Filmkritik noch immer geschmäht wird, weil er mit Motiven operiert, die aus dem stammen, was man gerne als Trivialliteratur bezeichnet. Seine besten Arbeiten kreisen zwischen den verfilmten Versen eines Tristan Corbiére oder Charles Baudelaire und den erfolgreichen Versuchen, dem Kino jenes naive Jungfernhäutchen wieder zurechtzuknüpfen, das es bei seinen frühsten Spielen auf den Jahrmärkten und Rummelplätzen seiner Kindheit noch wie ein Kokon umhüllt hat.
Jean Rollins Filme lassen sich, was ihre Geschichten betrifft, in zwei Kategorien unterteilen. Die einen, am extremsten vertreten wahrscheinlich von seinem Spielfilmdebut LE VIOL DU VAMPIRE, verfügen über eine Story, die derart komplex, verschachtelt und verwirrend ist, dass sie ihrer Erzählbarkeit sozusagen selbst den Todesstoß versetzt: ihre Schnörkel ergeben ein derart überladenes Gespinst, dass sie nur haarscharf an der Grenze zur Abstraktion vorbeischrammen. Die anderen, am extremsten vertreten wahrscheinlich von seinem, wie ich finde, unumstößlichen Meisterwerk LA ROSE DE FER, verfügen über eine Story, die derart minimalistisch, reduziert, konzentriert aufs Wesentliche ist, dass sie sich im Grunde in einem einzigen Satz zusammenfassen lassen: ihre Einfachheit trägt der Tatsache Rechnung, dass im Vordergrund keine Figuren, keine nennenswerten Handlungen, keine überraschenden Plotentwicklungen, sondern Stimmungen, Gefühle, Ideen stehen.
FASCINATION fällt in die zweite Kategorie. Sein Plot ist nichts, was nicht jeder kennen würde, und was man nicht jedem innerhalb einer Minute erklären könnte. Ein Held entwischt einer Gefahr A, begibt sich in eine Gefahr B, die zunächst gar keine Gefahr zu sein scheint, entledigt sich mit Hilfe von Gefahr B der Gefahr A, und fällt schließlich dann doch Gefahr B zum Opfer. Angereichert ist das Ganze mit allem, was man so findet, wenn man Schauer- oder Räuberromane früherer Jahrhunderte durchblättert. Nicht zufällig spielt der Film im Jahre 1905, als Banditen noch nach echten Goldstücken geilten, im französischen Hinterland noch halbverlassene Herrenhäuser aufgestöbert werden konnten und nackte oder halbnackte Frauen mit züngelnden Kerzen durch eben deren üppig eingerichteten Zimmer und Flure streiften.
Es ist nach wie vor faszinierend, was Jean Rollin aus solchen altbackenen Räuberpistolen macht, deren gestelzt-theatralische Dialoge, deren eindimensionale Charaktere, die sich zwischen, wie es scheint, zwei Filmschnitten unsterblich ineinander verlieben, und deren klischee- und kitschbeladene Inszenierung eigentlich jeden, der keine Lust darin findet, seine freie Zeit mit Kolportageerzeugnissen totzuschlagen, zur Flucht animieren sollten. Der Inhalt mag all die Kriterien erfüllen, die ich oben polemisch angeführt habe, die Form widerspricht diesen vollmundig bzw. stilisiert sie so sehr über sich selbst heraus, dass sie zu mehr werden als sie eigentlich sind.
Die Eröffnungsszene von FASCINATION bringt, als habe Rollin sie als ein poetologisches Vorwort verstanden wissen wollen, auf den Punkt, wo, neben dem ergiebigen Plündern der sogenannten Unterhaltungskunst, seine zweite Bezugsquelle liegt. Wir sehen ein Gemälde, das ich einmal auf das siebzehnte, achtzehnte Jahrhundert datieren würde. Es zeigt einen vollbärtigen Mann, einen Adligen, einen Fürst vielleicht. Die Kamera sinkt langsam herab, zu einem offenen Buch, in dem Frauenhände blättern. Es ist die Bibel, die Schrift, die heilig ist, und die von den Frauenhänden auf eine derart zärtliche, nahezu erotische Weise betastet wird, als handle es sich um einen geliebten Körper. Seite für Seite schlagen die Hände um, dabei rollt der Vorspann über die Bilder, der eine Text schiebt sich über den anderen. Malerei, und zwar die klassische, die heute ins Museum Verbannte, die Schulklassen ein kollektives Gähnen Entlockende, steht Pate für Rollins Ästhetik: jede der Szenen in FASCINATION könnte gut und gerne gerahmt in meiner Wohnung hängen. Literatur, und zwar ironischerweise eben nicht die heilige, die kanonisierte, die Religionen stiftende, steht Pate für Rollins Drehbücher: jedes der Motiv in FASCINATION kann man zurückverfolgen zu Lagerfeuern, an denen alte Männer aus purer Fabulierlust eine rätselhafte Geschichte nach der anderen erzählt haben, um ihren Zuhörern den Schlaf zu versüßen.
So wie beispielweise die Romantiker in alten Märchen und Gedichten die wahren Weltgeschichten suchten, verfährt Rollin mit dem, was ihm aus Groschenheftchen, Comics oder, den Surrealisten ähnlich, Serials wie denen Louis Feuillades in die Hände fällt: er nutzt den kindlichen Charme seiner Quellen, um sie in einen reißenden Fluss zu verwandeln, dessen Ästhetik einen, sofern man sich auf ihn einlässt, unweigerlich mit sich zieht. Da sind diese archetypisch-ikonischen Bilder, Brigitte Lahaie mit Sense und entblößter Brust in wallendem Mantel, eine negative Heldin wie aus LADY SNOWBLOOD oder THRILLER – EN GRYM FILM entstiegen. Da sind die endlos langen Einstellungen und Dialogszenen in den Gemächern des Schlosses, bei denen die Protagonisten wie auf einer Bühne agieren, deren Staffagenhaftigkeit gar nicht verschleiert werden soll. Da sind die großen Emotionen in schlichten Sätzen, das Liebesgeständnis Elisabeths, der Wahnsinn, der ihr am Ende aus den Augen springt. Da sind die unbeholfen wirkenden Schnitte, mit denen Rollin, wie zum Beispiel in der Verfolgungsszene zu Beginn, als Marc von seinen Banditenkollegen gehetzt wird, scheinbar unbekümmert offenlegt, wie wenig es ihm angeblich um Illusionserzeugung geht.
Es ist nach wie vor faszinierend, wie die Illusionen dennoch, auf einen simplen Wink hin, zu gefügigen Marionetten in den Händen des Meisters werden. Wir wissen das doch alles: nein, das ist kein echtes Blut, das ist nicht mal sonderlich überzeugend ausschauendes Kunstblut, und ja, einigen Szenen sieht man einfach an, dass sie eher schlecht als recht nachträglich synchronisiert worden sind, und überhaupt, die ausgiebige Lesbeneinlage zwischen Eva und Elisabeth, hat das nun wirklich sein müssen? Aber es funktioniert. Rollin ist jener Taschenspieler, der seine Tricks freimütig ankündigt, und es dann, bei ihrer Ausführung, schafft, unsere Vernunft einfach so umzupusten, sodass wir ihm alles glauben, was er unter seinem Hut hervorzaubert. Er jongliert mit Genre-Versatzstücken, mit Vaudeville-Elementen, mit dem Erbe Méliès. Hypnose ist das Ergebnis.
Meine liebste Szene: nachdem Elisabeth und Marc sämtliche spektakulären Abenteuer gemeistert haben, finden sie in einem verlassenen Taubenschlag zur Ruhe. Die Kamera kreist durch die oberen Sphären des merkwürdigen Dachstuhls, in dem leere Löcher klaffen, wo eigentlich die Vögel sein sollten. Aber wir hören sie. Nein, doch nicht. Das sind keine Tauben, es ist ein verzerrtes Krähenkrächzen, das nicht von den Bildern legitimiert ist. Die Tonspur scheint unabhängig, ein Eigenleben zu führen. So wie in LA ROSE DE FER. Der verlassene Bahnhof, auf dem sich nachweislich nichts regt, und trotzdem tönt es, als befinde er sich im Hochbetrieb. Die Kamera sinkt und singt. Da sind unsere Liebenden. Alles wird in Blut, Tragik, Melodrama denken. So muss das sein.
In seinen besten Arbeiten, und FASCINATION, in den ich mich nun neuverliebt habe, zähle ich noch immer ganz vorne zu diesen, lässt sich Rollins Werk vielleicht so umschreiben: Man stelle sich vor, dass Dichter wie, um nur einige zu nennen, Tristan Corbière, Charles Baudelaire, Joris-Karl Huysmans. Lautréamont, Alfred Jarry, Gerard de Nerval, Alfred de Musset oder Charles Nodier gemeinschaftlich einen Heftchenroman verfassen. Wo die Moderne steht, das interessiert Rollin so wenig, dass er ihr demonstrativ den Rücken zukehrt. Wir bleiben vor einem Gemälde stehen, nach und nach leert sich die Galerie, wir brauchen nichts weiter zu tun als zu starren und, dem Stendhal-Syndrom sei Dank, öffnen sich die Pforten des Bewusstseins, um uns an einen Tisch mitten in einem Schlachthaus zu bitten, wo grazile Gazellen uns Kelche voller Ochsenblut kredenzen: gegen unsere Blutarmt, sagen sie, und gegen die Blutarmut des Kinos, des Lebens. In Großaufnahme: ein Frauenfinger, der in das Blut taucht und es auf Lippen verreibt, unter denen gefletschte Zähne sichtbar sind.
Re: Fascination - Jean Rollin (1979)
Verfasst: Di 8. Jan 2019, 13:30
von buxtebrawler
Erscheint voraussichtlich am 31.01.2019 bei Wicked Vision auf Blu-ray in verschiedenen Mediabooks:

Cover A, limitiert auf 500 Exemplare

Cover B, limitiert auf 300 Exemplare

Cover C, limitiert auf 300 Exemplare
Extras:
* 24-seitiges Booklet von Pelle Felsch („Blut an der Sense – Vampirische Kulte und Todesgöttinnen bei Jean
Rollin“) und David Renske
* Vorwort von Jean Rollin
* Gruß von Brigitte Lahaie
* Die Musik von „Fascination“ mit Philippe d’Aram
* In Erinnerung an Natalie Perrey Interview mit Jean Rollin
* Eurotika #1: Virgins and Vampires
* Geschnittene Sexszenen
* Deutscher Trailer
* Originaltrailer
* Bildergalerie
Quelle: OFDb-Shop
Re: Fascination - Jean Rollin (1979)
Verfasst: Do 2. Mai 2019, 17:58
von Arkadin
Kurzreview: Einer von Rollins zugänglichsten Filmen. Trotzdem behält er die entrückte Poesie seiner früheren Filme bei und findet sehr starke, ikonische Bilder. Ein Film, wie ein Traum. Dem Traum von einem wilden Pulp-Abenteuer, mitternächtlichen Riten und ebenso schönen, wie tödlichen Frauen. Und Brigitte Lahaie ist wieder einmal.. hach…