Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE
Moderator: jogiwan
Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE
Im August 1964 flüchtet Bruno Knolle aus Ost-Berlin durch einen Tunnel in den westlichen Teil der Stadt. Doch der frisch aus der Haft entlassene Ganove, unternimmt diesen gewagten Schritt nicht freiwillig. Kaum war Knolle raus aus dem Knast, landete er in den Krallen des SSD der DDR, wo man ihn mit einer streng geheimen Mission beauftragte ...
Mit "Lieb Vaterland magst ruhig sein" begibt sich der Leser in die Welt der Geheimdienste, sonstigen Behörden und all ihrer Mitarbeiter. Simmel erzählt von kleinen und großen Rädchen im Getriebe verfeindeter Staaten, von der Tristesse im geteilten Berlin. Von Hoffnungen, Enttäuschungen, Verzweiflung, Mut und dem Irrsinn der Bürokratie.
Während "Es muss nicht immer Kaviar sein" zu weiten Teilen während des Zweiten Weltkriegs spielte, bewegen wir uns nun in der Gegenwart der damaligen Zeit. "Kaviar" bewegte sich ebenfalls auf dem Terrain der Spione, war aber mit einem flotten Lebemann und einer ordentlichen Prise Humor gewürzt, während "Vaterland" dunklere Töne anschlägt, sich in grauen Welt des geteilten Berlin suhlt. Bei diesem Werk fällt auf, dass der Protagonist Bruno Knolle nicht so sehr im Mittelpunkt steht, wie man es aus vielen anderen Romanen Simmels kennt. Diese Marschrichtung passt gut ins Bild, den Knolle wird zum Spielball der Macht von Schreibtischtätern und anderen Gestalten, versucht stets irgendwie den Kopf über Wasser zu halten.
Natürlich darf man bei Simmel eine diffenzierte Betrachtung der gegeneinander agierenden Parteien erwarten. Im goldenen Westen ist längst nicht alles eitel Sonnenschein, in fahlen Osten agieren längst nicht nur fanatische Kommunisten. Menschen werden auf beiden Seiten von gnadenlosen Maschinerien drangsaliert, winden und quälen sich mit größter Mühe durch die Systeme, scheitern auf mehr oder wenige dramtische Art. Sicher kann man dieses Buch als Aufruf verstehen, diese Systeme nicht durch unangemessene Grausamkeiten noch fürchterlicher zu machen. Das Getriebe funktioniert nur durch das Zusammenspiel seiner unzähligen Zahnräder. Doch wer Sand streut, gerät in große Gefahr letzlich dennoch zerquetscht zu werden.
"Lieb Vaterland magst ruhig" sein konzentriert sich auf einen überschaubaren Zeitraum von rund drei Monaten, lässt den Sommer und Herbst 1964 vor dem geistigen Auge des Lesers entstehen, angereichert mit kleinen Rückblenden. Einmal mehr ein kuzweiliges Lesevergnügen, in dessen Zentrum ein etwas blasser Bruno Knolle und viele interessante Nebenfiguren stehen. Interessant auch, wie Simmel damals aktuelle Ansichten zum Thema Ausländer, Extremismus und Feindbilder in die Handlung einbringt. Viel scheint sich seither nicht geändert zu haben. Im Gegenteil, haben wir doch längst wieder mit einem kalten Krieg, Faschisten, Fanatikern und anderem Irrsinn zu ringen. Bei allem Zeitkolorit, dass der Roman nie vergeben kann und auch nicht verbergen will, ist die "Message" nach wie vor völlig zeitlos.
Da bleibt mir nur zu sagen, ich freue mich auf den nächsten Simmel. Mehr noch, ich giere regelrecht nach dem Lieblingsroman meiner Jugend: "Alle Menschen werden Brüder"! Ein Wiederlesen nach über vierzig Jahren, da hüpft das alte Herz. Allerdings will ich die Vorfreude noch ein wenig verlängern, daher wird zunächst ein Werk aus anderer Feder in meinen Händen landen.
Bis dahin gilt: Lieb Vaterland ... MAGST DIE FRESSE HALTEN!
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE
Aline Thomas eine attraktive Frau. Gerade Anfang 40, scheint es ihr an nichts zu mangeln. Der Mann ist mit seiner Firma erfolgreich, man lebt in einem schicken Haus in Hamburg, die beiden Kinder sind bereits erwachsen und gut geraten. Doch die Ehe von Aline und Eberhard kriselt. Schon immer hatte Eberhard Affären, doch diesmal scheint er sich wirklich in eine andere Frau verliebt zu haben. Mehr und mehr beginnt Aline ihr Leben zu hinterfragen ...
Oha! Ein dünner Roman über eine Frau in einer Lebenskrise. Hört sich wie Literatur für Hausfrauen an? Ein Büchlein für den kleinen Hunger am Nachmittag? Ja, genau in diese Schublade passt "Frau am Scheideweg"! Könnte verfilmt gut am Sonntag zu Kaffee & Kuchen im TV serviert werden.
Erstaunlich ist die Tatsache, dass dieses kleine Werk recht zeitlos anmutet, vielleicht von ein paar Kleinigkeiten abgesehen. So könnte der Roman auch in der heutigen Zeit spielen, obwohl bereits vor rund sechzig Jahren entstanden. Die Autorin konzentriert sich sehr auf ihre Protagonistin Aline, bleibt bei der Beschreibung von Schauplätzen eher zurückhaltend, erschafft nur wenig Milieu rund um Aline. So wird der Leser zum Zeugen, wie Aline recht sanft in einen neuen Lebensabschnitt gleitet, allzu hoch schlagen die Wellen nie.
Wer nach Krawall, Spannung, Ecken und Kanten sucht, wird in diesem Roman nichts davon finden. Ja, selbst die ganz großen Gefühle, die man in einem Liebesroman erwarten würde, weichen hier milden Anwandlungen und kleinen Konfrontationen.
Seichte Unterhaltung für Hausfrauen in den besten Jahren. Also genau der richtige Stoff für mich. Liest sich an einem oder zwei Nachmittagen entspannt weg. Packt nie richtig zu, aber letztlich ist Aline Thomas sympathisch genug gezeichnet um am Ball zu bleiben. Meine Woche war aufwühlend, ergo stellte dieser Roman einen brauchbaren Gegenpol dar.
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- karlAbundzu
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE
Christian Keßler: Das wildeste Auge
Der lila Band. Keßlers Ritt durch Horror -, Sci Fi - und Barbarenfilme bis Mitte 90er, Dellamore Dellamorte.
Wie immer sehr vergnüglich, wenn man seinen Stil mag.
Auch immer schlecht, weil sich Listen verlängern.
Das Regal wird recht bunt, ich freue mich auf den spanischen Band, und hoffe auf eine Bearbeitung seines Westernbandes.
Und richtig schön wird es am 7.9., wenn er in der Helga Bremen diesen Band vorstellt.
Der lila Band. Keßlers Ritt durch Horror -, Sci Fi - und Barbarenfilme bis Mitte 90er, Dellamore Dellamorte.
Wie immer sehr vergnüglich, wenn man seinen Stil mag.
Auch immer schlecht, weil sich Listen verlängern.
Das Regal wird recht bunt, ich freue mich auf den spanischen Band, und hoffe auf eine Bearbeitung seines Westernbandes.
Und richtig schön wird es am 7.9., wenn er in der Helga Bremen diesen Band vorstellt.
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

Stephen King als Richard Bachman QUAL (Blaze)
Diesen Roman von King hatte ich gar nicht auf dem Schirm & lief auch lange Zeit unter dem Radar.Die Kindheit des jungen Blaze ist schrecklich: Die Mutter ist gestorben, und sein Vater, ein Trinker, verprügelt ihn ständig und wirft ihn so oft die Treppe hinunter, bis das Kind einen bleibenden Schaden davonträgt. Der leicht behinderte Junge kommt in ein Kinderheim, wo sich die kommenden Jahre jedoch erst recht qualvoll gestalten. Als Jugendlicher begeht er mit seinem Kumpel George harmlose Straftaten, bis dieser ums leben kommt. Aber George meldet sich aus dem Totenreich und flüstert Blaze ein, einen größeren Coup zu starten. Um an wirklich viel Geld zu kommen, entführt Blaze schließlich das Baby einer reichen Familie. Allein mit dem kleinen Bündel Leben, erwacht in ihm eine ungeahnte Fürsorge. Die Flucht vor dem gigantischen Polizeiaufgebot führt in eine Katastrophe ...
es dauert auch etwas bis man rein kommt, dann packt er aber ohne aufzuhalten.
Sehr schön auch, wie die Handlung immer gut dosiert zwischen Gegenwart & Vergangenheit springt und ich könnte mir das auch gut als Verfilmung vorstellen. Hatte mir ganz gut gefallen.

- karlAbundzu
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE
Walter Moers: Die Insel der tausend Leuchttürme
Der 10. Roman im fiktiven Zamonien, Walter Moers' Fantasy-Welt. Mag ich ja gerne. Dieser hier wieder ein Briefroman, geschrieben von Hildegunst von Mythenmetz, Briefe an seinen Eydeten-Freund . Mythenmetz fährt zur Kur nach Eydernorn (ob Moers Norderneyfreund ist?), und will neben seiner Heilungsanwendungen die Sehenswürdigkeiten der Insel besuchen, hauptsächlich Leuchttürme. Es gibt genaue Beschreibungen der Bewohner, ihrer Kultur, der Fauna. Wie immer sehr genau und sehr phantasieriech, manchmal nah an unserer Wirklichkeit, manches weit davon weg.
Das ist sehr lange wirklich eine Reisebeschreibung und ich begann mich wirkllich irgendwann zu fragen, ob auch noch irgendeine Geschichte passiert, oder ob wir uns einfach nur mit Hildegunst zu den Leuchttürmen und so begeben. Immer wieder wird etwas anderes angedeutet, aber bis es dann richtig losgeht, dauert es ein paar hundert Seiten. Dann aber ordentlich, dann wird es zu einer apokalyptischen Action-Horror-Story, die sich gewaschen hat. Zwar ist mir eine Sache in der Geschichte wirklich unklar, gerade über Mythenmetz' Rolle in dem ganzen, aber gut. Es reißt dann mit.
Hat mir wieder gefallen, obwohl ich insgesamt seine Meta-Romane mit träumenden Büchern noch mehr zusagen.
Edit: Ich sollte nicht vergessen, dass das alles wunderbar bebildert ist.
Der 10. Roman im fiktiven Zamonien, Walter Moers' Fantasy-Welt. Mag ich ja gerne. Dieser hier wieder ein Briefroman, geschrieben von Hildegunst von Mythenmetz, Briefe an seinen Eydeten-Freund . Mythenmetz fährt zur Kur nach Eydernorn (ob Moers Norderneyfreund ist?), und will neben seiner Heilungsanwendungen die Sehenswürdigkeiten der Insel besuchen, hauptsächlich Leuchttürme. Es gibt genaue Beschreibungen der Bewohner, ihrer Kultur, der Fauna. Wie immer sehr genau und sehr phantasieriech, manchmal nah an unserer Wirklichkeit, manches weit davon weg.
Das ist sehr lange wirklich eine Reisebeschreibung und ich begann mich wirkllich irgendwann zu fragen, ob auch noch irgendeine Geschichte passiert, oder ob wir uns einfach nur mit Hildegunst zu den Leuchttürmen und so begeben. Immer wieder wird etwas anderes angedeutet, aber bis es dann richtig losgeht, dauert es ein paar hundert Seiten. Dann aber ordentlich, dann wird es zu einer apokalyptischen Action-Horror-Story, die sich gewaschen hat. Zwar ist mir eine Sache in der Geschichte wirklich unklar, gerade über Mythenmetz' Rolle in dem ganzen, aber gut. Es reißt dann mit.
Hat mir wieder gefallen, obwohl ich insgesamt seine Meta-Romane mit träumenden Büchern noch mehr zusagen.
Edit: Ich sollte nicht vergessen, dass das alles wunderbar bebildert ist.
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
- karlAbundzu
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE
Edward Gorey - Großmeister des Kuriosen
Vorgestellt von Walter Moers
Manchmal ist es seltsam, da läuft man mit recht offenem Blick durchs Leben und trotzdem entgeht einem etwas. Und das gegen jede Wahrscheinlichkeit: sowohl die Menschen, die Gorey beeinflusste als auch seine Inspirationsquellen gehören zu meinem Wohlfühlkosmos.
Gorey ist vieles: Zeichner, Illustrator, nonsense- Dichter, Gothic-Horror-Autor, Herausgeber von Kinderbüchern, Surrealist, Humorist, Stoffpuppen- Näher, und in allem anders als üblich.
Tatsächlich kannte ich zumindest ein Werk von ihm: er brachte ein paar ABCDarien heraus, da gab es viele Vorläufer, doch er machte es zuerst mit sterbenden Kindern: A is for Amy who fell down the stairs. B is for Basil assaulted by bears....
In dieser dicken Ausgabe in der Reihe Die andere Bibliothek vom Aufbau Verlag gibt es sozusagen eine Einführung in Werk und Leben. Vor- und zusammengestellt, übersetzt von Walter Moers, und da merkt man gleich eine große Schnittmenge zwischen den beiden. Das fängt bei den eigenen Schriftarten an, über die phantastischen Tiere und dem Hang zum Nonsense.
Es gibt eine kurz-bio, Ausschnitte aus Werken, Interviews, Schlaglichter auf wichtige Themen und wiederkehrende Themen und Bilder.
Dazu auch ganze Werke, übersetzt und original.
Das ist alles wunderbar editiert und hat mich gleich zum Fanboy gemacht. Wahrscheinlich das wichtigste Buch für mich 2025, jedenfalls bis jetzt.
Vorgestellt von Walter Moers
Manchmal ist es seltsam, da läuft man mit recht offenem Blick durchs Leben und trotzdem entgeht einem etwas. Und das gegen jede Wahrscheinlichkeit: sowohl die Menschen, die Gorey beeinflusste als auch seine Inspirationsquellen gehören zu meinem Wohlfühlkosmos.
Gorey ist vieles: Zeichner, Illustrator, nonsense- Dichter, Gothic-Horror-Autor, Herausgeber von Kinderbüchern, Surrealist, Humorist, Stoffpuppen- Näher, und in allem anders als üblich.
Tatsächlich kannte ich zumindest ein Werk von ihm: er brachte ein paar ABCDarien heraus, da gab es viele Vorläufer, doch er machte es zuerst mit sterbenden Kindern: A is for Amy who fell down the stairs. B is for Basil assaulted by bears....
In dieser dicken Ausgabe in der Reihe Die andere Bibliothek vom Aufbau Verlag gibt es sozusagen eine Einführung in Werk und Leben. Vor- und zusammengestellt, übersetzt von Walter Moers, und da merkt man gleich eine große Schnittmenge zwischen den beiden. Das fängt bei den eigenen Schriftarten an, über die phantastischen Tiere und dem Hang zum Nonsense.
Es gibt eine kurz-bio, Ausschnitte aus Werken, Interviews, Schlaglichter auf wichtige Themen und wiederkehrende Themen und Bilder.
Dazu auch ganze Werke, übersetzt und original.
Das ist alles wunderbar editiert und hat mich gleich zum Fanboy gemacht. Wahrscheinlich das wichtigste Buch für mich 2025, jedenfalls bis jetzt.
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
- buxtebrawler
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

Kevin Richard Russell – Circvs Maximvs
Da saßt du also, „Stimme aus der Gosse“, Sänger der vermutlich erfolgreichsten deutschsprachigen Rockband, Identifikationsfigur, Seelentröster und Vorbild für so viele, Beweis dafür, dass man’s auch nach oben schaffen kann, wenn man von ganz unten kommt, Mutmacher, dazu Zeichen- und Tattoo-Künstler. Da saßt du also, ehemaliger Schläger, polytoxikomaner Hardcore-Junkie und Alki, wegen dem sich jene Band einst auflöste, der du die Verantwortung für sein eigenes Lebens einst komplett aufgegeben und sogar beinahe zwei andere Menschen das Leben gekostet hattest, als du knüppelvoll mit Drogen als rasende Apotheke einen Unfall auf der Autobahn verursachtest, du, Ex-Knacki und Ex-Klapskalli. Da saßt du, Kevin Russell, seit etlichen Jahren clean, wie es wohl kaum noch jemand für möglich gehalten hatte, und wieder mit deiner Band aktiv, also, um deine Autobiographie niederzuschreiben. Eine Art Selbsttherapie: von der Seele schreiben, veröffentlichen, abgeben. In Form dieses Buchs aber auch anbieten: Hier, das bin ich, take it or leave it.
Und so saß ich, in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre vom Metal kommend in der Pubertät bei den Onkelz und Nirvana gelandet und von dort aus zum Punk weitergetorkelt, da also mit diesem im Oktober 2023 erschienenen Klopper von Buch, 33,5 x 25 x 5 cm groß, fast vier Kilo schwer, rund 500 Seiten stark mit eingewobenem Lesezeichen, Goldkante und Pappschuber im Eigenverlag veröffentlicht. Drunter machst du’s nicht. Zum Nebenherlesen in Bus und Bahn gänzlich ungeeignet, die Klolektüre verbietet sich ohnehin. Für diesen Wälzer muss man sich bewusst Zeit nehmen, zu Hause, im Lesezimmer. Und die nahm ich mir. Praktischerweise ist das Buch in viele einzelne Kapitel unterteilt, die ihm Struktur verleihen und der abschnittsweisen Lesbarkeit entgegenkommen. Der Lesbarkeit zuträglich ist ferner die große Schrift, die die Ausmaße dieses Schinkens etwas relativiert. Zahlreiche zuvor unveröffentlichte Fotos aus deinem Privatarchiv wurden großzügig eingearbeitet, darunter sehr intime. Vielleicht würde ich durch diese Lektüre ja erfahren, wer du, Sohn eines Briten und einer Hamburgerin, den ich nur als Sänger der Böhsen Onkelz (ok, und von Veritas Maximvs) kenne und um den sich die wildesten Gerüchte und Geschichten ranken, wirklich bist. An meinen gewonnenen Eindrücken lasse ich die Leserschaft meines kleinen Blogs gern teilhaben:
Einleitend beschreibt Kevin seine Faszination fürs Römische Reich und vermittelt einen Eindruck seiner Belesenheit zu diesem Thema, das fortan vor allem in Form von Metaphern immer wieder aufblitzen wird. Von diesem seinem Interesse und seinem Faible für antike Bücher wusste ich tatsächlich schon aus irgendeinem alten Interview, woraufhin sich damals in meinem Kopf ein Bild geformt hatte, wie er in seinem Haus in Irland im Sessel vorm Kamin mit so’ner alten Schwarte auf dem Schoß sitzt. Dass sein Leben seit besagtem Interview dann doch etwas anders verlaufen sollte, auch davon wird dieses Buch künden. Später. Zunächst einmal gibt es einen Abriss zu seinen Ahnen; ins Thema Onkelz steigt er direkt mit dem Gig im Vorprogramm der Rolling Stones ein, nach dem beschlossen worden war, die Band aufzulösen. Auch dazu später mehr, denn von nun an geht er, ausgehend von seiner Kindheit, grob chronologisch vor: das erste Telefon in der Familie, wie der kleine Kevin fasziniert die Mondlandung in der neuen Schwarzweiß-Glotze verfolgt, wie er auf dem Bolzplatz fußibufft. Diese Zeilen muten wie ein Zeitporträt an und sind anheimelnd geschrieben – zunächst. Schon bald geht’s ans Eingemachte und man muss kein Psychologe sein, um zu erahnen, wie sehr dies ihn geprägt hat: Von seinen auf die Leserinnen und Leser sadistisch anmuten müssenden Eltern wird er regelmäßig misshandelt, in der Schule ebenso, mit sechs Jahren wäre er wegen einer falsch behandelten Salmonellenvergiftung fast abgenippelt. Dies hat ihn doppelt traumatisiert, psychisch wie physisch. Von da an war er kränklich und hatte entsprechend viele Schulfehlzeiten, in denen er aber seine Lesesucht entwickelte. Ja, die erste Sucht war eine positive. Mit zehn, elf Jahren aber fängt er im Partykeller seiner Eltern zu saufen an. Seine Mutter entwickelt ein Alkoholproblem und beginnt, die Kinder zu vernachlässigen. Bald müssen sich die Kinder um sie kümmern statt umgekehrt.
Als horizonterweiternd erweist sich ein Urlaub in Kenia. Auf weitere traumatische Erlebnisse (es kam aber auch immer dicke…) folgt der Umzug nach Hösbach, wo er Stephan und Pe kennenlernt, mit denen er kurz darauf die Band gründet. Er beschreibt, wie er sich gewalttätig gegenüber seinem größeren Bruder behauptete, ohne jedoch zuvor erwähnt zu haben, dass dieser ihn tyrannisiert hatte – hätte den Kohl wohl auch nicht mehr fettgemacht. Traurigerweise sei Kevins erste wirkliche Liebe auch seine letzte gewesen. Das in einem Song seiner Band besungene Terpentin habe er tatsächlich gesoffen.
„Wenn ich mich heute erinnere, grenzt es schier an ein Wunder nicht schon in dieser frühen Phase meines Lebens ins Irrenhaus eingeliefert worden zu sein, oder ein Bad im Jordan genommen zu haben.“
Auch die Ausbildung zum Schiffsmechaniker war, ähnlich wie während Onkelz-Gitarrist Gonzos Seefahrerzeit (vgl. dessen Biographie), von heftiger körperlicher Gewalt auf See geprägt. Ins Schwärmen gerät Kevin, wenn er an die Natur und die Wunder, die er als Matrose erlebte, zurückdenkt. Sehr anschaulich schildert er die Episode, wie er auf einer Überfahrt in Lebensgefahr geriet und wohl mehr als nur Glück hatte. Interessanterweise schien er in seiner provisorischen, temporären Rolle als Smutje voll aufzugehen. Er wurde dann aber doch lieber Tätowierer, nachdem er sein zeichnerisches Talent wiederentdeckt hatte. Er zieht in die berüchtigte Weberstraße 28 in Frankfurt, wo er sich kräftig Alk und verschiedene Drogen reinpfeift, und schlägt im wahrsten Wortsinn eine Karriere als Straßenschläger ein. Eigene Gewaltexzesse schildert er in aller Drastik, woraufhin er sich bei seinen Opfern entschuldigt. Angesichts seiner Schilderungen völlig entfesselter, ekelhafter Gewaltorgien musste ich schlucken und das Buch erst einmal beiseitelegen.
Einerseits ist es das miese alte Spiel, wie man es von Menschen, die auf die schiefe Bahn gerieten, in Variationen und mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt immer wieder zu hören bekommt: Eine elterliche Bezugsperson geht quasi flöten und kehrt das Verhältnis um: Noch als Kind muss er beginnen, sich um seine Mutter zu kümmern. Zu allem Überfluss war der Vater damals ein gewalttätiger Tyrann, was Kevin dann gewissermaßen reproduziert. Andererseits fällt es schwer, nachzuvollziehen, dass er aus den Erfolgen, die er feiert – Durchsetzen auf Frankfurts harten Straßen, bemerkenswerte Band am Start, ausgeprägtes Gesangstalent für diese Musik, talentierter Zeichner, als Matrose die Welt kennengelernt, krasse Sachen er- und überlebt, sein Kochtalent entdeckt, nun gutes Geld mit Tattoos verdienend, mit der Liebsten 'ne tolle Wohnung mit zudem offenbar sehr leidensfähigen Nachbarn bezogen usw. – nicht genug Selbstvertrauen und Selbstachtung zieht, um zum einen etwas demütiger mit den Drogen umzugehen und zum anderen über prolligen Gewaltexzessen irgendwann drüberzustehen, sich nicht mehr ständig beweisen zu müssen, den Adrenalinkick anderweitig zu erhalten. Sicherlich hat es oftmals die Richtigen getroffen, aber eben längst nicht immer. Und er kann von Glück sagen, dass er niemanden unbeabsichtigt, aber gröbst fahrlässig Schlimmstes inkaufnehmend tot- oder zum Pflegefall geschlagen hat. Das war völlig drüber und daran hatte ich als Leser wirklich zu knabbern.
Erfreulicher ist, dass er die richtigen Namen fallenlässt: The Clash, Cockney Rejects, Angelic Upstarts, Cock Sparrer, Dead Kennedys – all diese feinen Bands waren damals regelmäßig auf seinem Plattenteller zu Gast. Er geht auch noch einmal aus persönlicher Sicht auf den Auftritt in der Fernsehsendung „Live im Alabama“ zu ausländerfeindlichen Skinhead-Zeiten ein. Schwer unterhaltsam ist dann auch eine Episode aus seinem Hool-Leben, an deren Ende er auf der Flucht in eine Schwulenbar gerät. Diese Gelegenheit nutzt er zu einer Reflektion zum Durchbrechen der Gewaltspirale: „Alles, was ich zuhause an Schlägen und Züchtigung bekommen hatte, gab ich in der Außenwelt doppelt und dreifach zurück. Erst in meiner eigenen Familie sollte es mir gelingen, diesen circulus vitiosus zu brechen.“ Und wiederum ganz anders lesen sich der Abschnitt über seine Angelleidenschaft und Episoden aus Kenia Ende der 1980er-Jahre, die mit vielen positiven Erinnerungen verknüpft sind. Zurück in der Mitte des Jahrzehnts: Mit Anfang 20 ist Kevin heroinabhängig. Er beschreibt zwei immer wiederkehrende, erschreckende Alpträume, die selbst ihn so richtig fertigmachten. Interessanterweise schienen diese seine Heroinsucht zu manifestieren, nicht erst der tragische, völlig sinnlose Tod seines bestens Freundes Trimmi während der Fußball-WM 1990, wenngleich dieser alles noch viel schlimmer machte. Offen bleibt, weshalb er nie auf die Idee gekommen war, es mit einer Therapie zu versuchen.
„H ist ein Fulltime-Job.“
Durch sein Leben scheinen sich gruseligerweise generell unvermittelte Erfahrungen mit dem Tod zu ziehen, sodass man fast auf die Idee kommen könnte, es handle sich um Omen oder Warnungen. Wie schnell ein Menschenleben vorbei sein kann, wurde ihm jedenfalls anscheinend immer wieder vor Augen geführt. Trimmi ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Größe beweist Kevin, indem er seiner damaligen Partnerin Moni, der er in einer enorm belastenden Phase nicht zur Seite stehen konnte, den Platz einräumt, sich selbst zu äußern, also ihre Perspektive ungefiltert abzubilden. Zur Heroinabhängigkeit gesellt sich nun Jägermeister-Sucht. Aus einem handgeschriebenen Brief an Auge, den Inhaber seines Tätowierstudios, spricht seine ganze Verzweiflung. Diese Phase illustrieren eigene Bleistiftzeichnungen. Was er auf Seite 261 beschreibt, liest sich, als habe er eine Borderline-Störung entwickelt. Gescheiterte Entzugsversuche münden im kalten Entzug 1993 in Stephans Keller. Anschließend ist er zumindest noch substituiert. 1994 erhält er seine Hepatitis-C-Diagnose. Auf eine erfolgreiche Therapie folgt ein H- und Jägi-Rückfall. Er nennt sie „die siamesischen Bräunlinge“. Ein recht rascher weiterer Entzug ist dann aber erfolgreich und hält in Bezug auf die Zwillies auch lange an. Kritisch sehe ich die durchklingende Kokain-Verharmlosung, offenbar war die ganze Band am Ziehen. 1997 kam für Kevin sogar Crack ins Spiel, worauf er dank seiner Substitution zum Glück nicht hängenblieb – und dieses Zeug wird nun auch kein bisschen verherrlicht.
„…meine Existenz diente einzig und allein nur noch der Suchtbefriedigung, bei stetig steigendem Konsum.“
Irgendwann tritt eine neue Frau in sein Leben: Andrea, bulimisch und ebenfalls süchtig. Die Gründe hierfür sind unappetitlich, machen wütend und werden von Kevin nicht verschwiegen. Ende der 1990er zieht er nach Irland um, ist aber wieder auf H. Er berichtet vom „Dunkler Ort“-Videodreh und dem Besuch bei H.R. Giger im Jahre 2000, in dem er auch seinen ersten schweren Verkehrsunfall erleidet. Interessant hierbei auch: Wenngleich als Grund für seinen erneuten Totalabsturz gemeinhin dieser Unfall und die Schmerzmittelabhängigkeit, die er daraufhin entwickelt habe, angenommen wurde, führt er diese gar nicht als alleinige eindeutige Ursache an. Er äußert Kritik an MTV und dem „MTV Masters“-Beitrag über seine Band, die erstaunlich differenziert, gegenüber der Autorin der Sendung gar versöhnlich ausfällt. Nettes Detail: Die von mir geschätzte ehemalige MTV-Moderatorin Nora Tschirner lobt er für ihre Haltung zu ihrem ehemaligen Brötchengeber – die kenne ich gar nicht, weshalb ich gern noch erfahren hätte, was genau gemeint ist.
Als er innerhalb Irlands umzieht, ist er zunächst fit wie ein Turnschuh, doch dann folgt eben der erneute Absturz. Auf S. 318 schließt sich der Kreis zum Beginn: der Stones-Gig. Ich muss ja zugeben, dass ich, hätte ich nur ein Zehntel dessen intus gehabt, was dort durch Kevins Körper schoss, es gar nicht erst auf die Bühne geschafft hätte – er aber zieht den Auftritt immerhin voll durch. Im Folgenden lässt er die Endphase der Band bis zu ihrer damals als unumkehrbar erachteten Auflösung Revue passieren. Nach dem zweitägigen Abschiedsfestival 2005 auf dem Lausitzring dann der totale Absturz, der auf alle bisherigen noch mal einen draufsetzt – minutiös von Kevin beschrieben. Onkelz-Basser Stephan und anschließend Sanitäter und Ärzte retten ihm gerade noch so das Leben. Nach einem Herzstillstand hat er eine Nahtoderfahrung und ist er dem Tod gerade noch so von der Schippe gesprungen. Nach der Reha zieht er ins nächste Fünf-Sterne-Hotel und lebt zeitweise in einem Luxuscamper.
Schließlich die Katastrophe (das Kapitel heißt genauso), der verheerende Autounfall mit anschließender Farce vor Gericht, völliger Zerstörung seines Rufs, Knast- und Therapieaufenthalt. Er beschönigt nichts, sondern rekapituliert sehr offen, schuldbewusst und reumütig. Mich wundert, dass er hinter Gittern keine Substitution erhielt und kalt entziehen musste – das ist krass. Ist das so üblich? Die Therapie scheint er als letzte Chance zu begreifen und steht sie erfolgreich durch. Er zieht im Taubertal in ein neues Zuhause mit seiner neuen Freundin Simone, deren Tochter Emily und seinem Sohn Julian. Er gewinnt den Kampf gegen die Drogen, was wohl kaum noch jemand für möglich gehalten hätte. Mehrmals wiederholt er seine Dankbarkeit gegenüber der Therapie, sogar gegenüber den Knästen. Es zieht ihn wieder auf die Bühne und so gründet er sein Soloprojekt Veritas Maximvs, mit dem er ein Album aufnimmt sowie erfolgreich und offenbar ohne Zwischenfälle auf Tour geht – alles ein paar Nummern kleiner als mit den Onkelz, mit denen es schließlich im Jahre 2014 tatsächlich zur Reunion kommt. 2014 und 2015 gibt er mit ihnen in Sachen Aufwand und Publikumszuspruch Rekordkonzerte. Weitere Stationen des gesundeten Kevin sind das Orchesterprojekt mit den Onkelz und seine Heirat Simones.
„In meinem Drogenkreislauf machten sich endlich wieder Spuren von Blut bemerkbar, ich war kein Chemielabor mehr, sondern Mensch!“
Mit den Onkelz verschlägt es ihn gar für Auftritte nach Südamerika und er nimmt zwei neue Studioalben mit ihnen auf. Er nennt die wichtigsten Konzerte und Festivals nach der Reunion und lässt durchblicken, wie es ihm während der Covid-19-Pandemie erging – so nutzte er die Zeit u.a., um dieses Buchprojekt zu beginnen. „Damit hatte der selbsterkorene ,ALPHA HOMO NOVUS‘ in seinem selbstkreierten Anthropozän-Zeitalter nicht gerechnet. Leider kam dieser Arschtritt, den die Menschen länger verdient hatten, viel zu spät und mit immer noch viel zu wenig Wucht, um ein wirkliches Umdenken in allen Bereichen zu erwirken, die ein Leben auf dieser Erde gerechter und gesünder gestalten könnten.“ (Kevin über Covid-19) Sehr unterhaltsam und lässig liest sich der Bericht vom „Ñero“-Filmdreh mit u.a. Ben Becker. An der Musikindustrie übt er berechtigte Kritik („Als wir seinerzeit dann doch unseren Echo erhielten, hab ich meinen (…) vollgepisst.“), ebenso an Religionen – aus seiner antireligiösen Einstellung macht er keinen Hehl. Er bezeichnet sich als Kosmopolit (womit er quasi im Vorbeigehen auch jeglichem Nationalismus eine Absage erteilt), als umgekehrtes Stehaufmännchen („Fallummännchen“) und, aufgrund einer nötig gewordenen OP, bei dem ihm Teile seines Gehirns entfernt werden mussten, als einzigen hirnamputierten Punkrock-Sänger, äußert sich gegen die Strafbarkeit des Containerns, lobt Oliver Kalkofe für dessen Mediensatire und wirkt generell nicht dumm, sondern reflektiert, interessiert und nicht unsympathisch – trotz allem. Schonungsloser offen als in diesem in sehr blumiger, metapher- und vor allem in den Kapitelüberschriften wortspielreicher Sprache verfassten Buch dürfte es auch kaum gehen, eine Biographie voller Widersprüche: Ein so starker und doch so schwacher Mann, der, seit er endlich mit seinen Schwächen umzugehen gelernt hat, einen zweiten Frühling zu erleben scheint. Wie sehr sich die Zahl 28 durch sein Leben zieht, ist dabei nur eines von vielen kuriosen Details.
Gegen Ende erfährt man einige Hintergründe zum Entstehungsprozess des Buchs: Der Entschluss, seine Biographie zu schreiben, hing eng mit zwei anderen Personen, Thilo und Mumpi, zusammen und wird sehr detailliert und nachempfindbar beschrieben, sodass es sich anfühlt, als sei man selbst dabei gewesen. Es stand zunächst im Raum, sie von Thilo schreiben zu lassen. Dieser entwarf dann auch den Prolog, den Kevin leicht verändert verwendete, sich dann aber dazu entschloss, doch selbst zur Feder zu greifen. Zum Geschriebenen habe Thilo schließlich seinen „Feinstaub“ dazugegeben. Kevin resümiert und bedankt sich gegen Ende ganz Gentleman-like bei seinen Leserinnen und Lesern. Das Buch schließt mit einer sehr sehenswerten Bildstrecke von den nachgeholten Jubiläumskonzerten, offenbar auf der Bühne geschossen.
Genug des Lobs, Raum für Kritik: Dass die Chaostage 1984 wie auf S. 126 beschrieben wirklich von „Althippies“ anberaumt wurden, wage ich zu bezweifeln, ebenso dass die EU Schuld an der Inflation sein soll (S. 138). Oder war das ein missverstandener bzw. missglückter Witz? Die grundsätzlich gute, lebendige Schreibe, der auch Humor und Selbstironie alles andere als fremd sind, weist leider viele Zeichensetzungsfehler auf, falsch geschriebene Wörter aber nur wenige (auf S. 157 ausgerechnet „Stefan“ statt Stephan). Einiges weist auf eine britische Schreibe hin (auseinander- statt zusammengeschriebene Wörter, die Kommasetzung) – evtl. wegen Kevins britischem Hintergrund? Das Presseticket auf S. 246 ist falschherum, der verbreitete Millenniumfehler (das war 2001, nicht 2000!) findet sich auch hier und ab und zu entgleiten ihm seine Fabulierungen (z.B. auf S. 281: „Auflösung der Bindung“ war gemeint, oder?). Vielleicht erweisen sich diese Anmerkungen ja für eine etwaige überarbeitete Neuauflage als hilfreich. Wenn es ein Korrektorat gab: Das waren Amateure, verlang dein Geld zurück. Wenn es keines gab: Am falschen Ende gespart.
Das ändert aber wohlgemerkt nichts an den inhaltlichen Qualitäten, die sicherlich nicht nur mich positiv überrascht haben. Eines der Versatzstücke, die das Faszinosum Böhse Onkelz ausmachen, ist der Umstand, dass Stephan Weidner zahlreiche Texte über Kevins Suchterkrankungen und daraus resultierende Probleme verfasst hat und es an Kevin war, diese zu singen. Unter anderem darin liegt die von Fans vielbeschworene Authentizität, die die Band von so vielen Kopisten unterscheidet. Als guter Zuhörer konnte man Kevin zumindest ein Stück weit kennenlernen. Mit diesem frei von jeglichem Selbstmitleid geschriebenen Buch ist dies nun ohne diese künstlerische Abstraktion möglich. Kevin nimmt seine Leserinnen und Leser mit auf eine Reise in die Hölle und zurück. Möge es sich vor allem für diejenigen als inspirierend, ermutigend und hilfreich erweisen, die schon in den Onkelz-Songtexten Trost, Verständnis, aber auch Arschtritte fanden. Es ist nie zu spät – hier ist der Beweis.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Diese Filme sind züchisch krank!
- buxtebrawler
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

René Goscinny / Albert Uderzo – Asterix, Band 32: Asterix plaudert aus der Schule
Dieser ursprünglich im Jahre 2003 erschienene Sonderband der französischen Comic-Reihe um die aufmüpfigen Gallier zu Zeiten des Römischen Reichs wurde erst nachträglich mit der Nummer 32 versehen und somit zwischen die regulären Bände eingereiht. Ich bekam die dritte und erweiterte Neuauflage geschenkt, die eine weitere Kurzgeschichte enthält. Denn darum geht es hier: Die neben den albenfüllenden Abenteuern entstandenen Kurzgeschichten zu kompilieren und kommentiert dem Asterix-Publikum näherzubringen. Statt der üblichen rund 50 Seiten umfasst dieses Softcover-Album über 60, wodurch die comicfreien Einleitungen nicht so stark ins Gewicht fallen.
In einem Onepager begrüßt Majestix die Leserschaft in einer Art Pressekonferenz; die erste reguläre Geschichte ist „Der gallische Schulanfang“ vom 6. Oktober 1966, in der Asterix und Obelix über zwei Seiten renitente gallische Kinder einfangen und in die Schule schleifen müssen – wo Obelix aufgrund seines mangelndes Allgemeinwissens am Ende ebenfalls landet. „Die Geburt von Asterix“ wurde im Oktober 1994 anlässlich des 35-jährigen Asterix-Jubiläums erstveröffentlicht und lüftet auf vier Seiten das Geheimnis um die Geburt der beiden berühmtesten Gallier. 1977 versuchte man, auf dem US-Markt Fuß zu fassen, wofür, um die Yankees mit den Gallien vertraut zu machen, ein Dreiseiter für den „National Geographic“ entwickelt wurde, der sogar in Frankreich lange unbekannt war. Im Schnelldurchlauf macht „Im Jahre 50 v. Chr.“ mit dem Dorf und seinen Bewohnern vertraut, ein Musterbeispiel für Kompaktheit.
Bisher gänzlich unveröffentlicht war die fünf Seiten umfassende Geschichte „Kokolorix, der gallische Hahn“, die ganz dem Hahn im Dorf gewidmet sind. Dieser muss sich und seine Hühner gegen das römische Wappentier, einen Adler, verteidigen, und bekommt dabei Hilfe von Idefix. Ein Kleinod, in dem Asterix und Obelix nur am Rande stattfinden und das die Kraft solidarischer Zusammenarbeit herausstellt. Die zwei Seiten „Neujahr unterm Mistelzweig“ vom 7. Dezember 1967 waren ein kleines Weihnachtsspezial, das Obelix‘ heimliche Liebe zu Falbala humorig aufgreift. „Mini, Midi, Maxi“ erschien am 2. August 1971 in der französischen Frauenzeitschrift „Elle“ und karikiert das Geschlechterverhältnis, indem die Geschichte auf nur zwei Seiten einen Streit zwischen zwei Frauen zu einer Massenkeilerei der männlichen Dorfbewohner eskalieren lässt.
Einer der Höhepunkte ist „Asterix, wie Sie ihn noch nie gesehen haben…“ vom 11. Dezember 1969, in der Goscinny und Uderzo drei Seiten lang verschiedenste Kritik an ihren Asterix-Comics persiflierend aufgreifen, u.a. indem Zeichner Uderzo den Stil unterschiedlichster Zeichnerkollegen imitiert. Köstlich! Auf den 25. Oktober 1986 datiert der vierseite Comic „Olympiade in Lutetia“, der Teil der (letztlich erfolglosen) Pariser Bewerbung um die Olympischen Spiele 1992 war und in der Lutetia sich gegen Rom durchsetzen muss. Die Geschichte verbindet augenzwinkernd die Antike mit dem modernen Paris.
Auf zwei Seiten bringt es „Der gallische Frühling“ vom 17. März 1966: Der personifizierte Frühling muss sich gegen den nicht kampflos abtreten wollenden Winter durchsetzen, was nach zwei Seiten auch gelungen sein wird. „Das Maskottchen“ aus dem Juni 1968 wurde ursprünglich für ein Informationsblatt einer Stadtverwaltung entwickelt und komprimiert, wenn ich das richtig verstanden habe, die Ereignisse aus „Asterix der Gallier“, um sie mit der Einführung des Hündchens Idefix auf nur vier Seiten zu verweben. „Latinomanie“ ist ein auf eine Seite passender spaßiger Kommentar zum Bohei um in die Sprache Einzug haltende Anglizismen, umgemünzt aufs antike Gallien, das immer mehr lateinische Ausdrücke verwendet – ohne dass dies den Bewohnern zwingend bewusst wäre. Etwas Besonderes ist auch „Obelisc'h“ aus dem Februar 1973, eine fünfseitige Geschichte, in die Goscinny und Uderzo sich selbst als Protagonisten hineinzeichneten und sich auf einen Nachkommen Obelix‘ in der Gegenwart treffen lassen. Beide treten auch in „Die Geburt einer Idee“ auf, eine einzelne, aber umso witzigere Seite, die in ihrer Verballhornung des inhaltlichen Gehalts von Comics (bzw. der Außensicht wenig comicaffiner Menschen darauf) exakt so auch aus „Mad“ stammen könnte und vielleicht mein humoristischer Höhepunkt des Albums ist.
„ABC-Schütze Obelix“ aus dem Mai 2004 schlägt gewissermaßen eine Brücke zur ersten Geschichte: Obelix will Lesen lernen, weil Falbala ihm geschrieben hat. Das sind ebenso amüsante wie pädagogische drei Seiten, die vermitteln, weshalb es von Bedeutung ist, lesen zu können.
Dieser Asterix-Band, ob nun als Sonderband oder als Nummer 32 betrachtet, bietet die übliche aufgeräumte Panelstruktur und tolle bunte Kolorierung des gewohnt großartigen frankobelgischen Funny-Stils, die schöne, an Handletterungen angelehnte Schriftart in den Comics und die Einleitungen im Schulheft-Design. Eine liebevoll editierte Erweiterung der Sammlung oder auch eine willkommene Abwechslung zu den sonst üblichen albumfüllenden Geschichten, die zudem viel Hintergrundwissen transportiert und einen Eindruck von der Bedeutung Asterix‘ innerhalb der französischen Populärkultur vermittelt.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Diese Filme sind züchisch krank!
Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE
Richard Mark war einst ein gefeierter Autor, inzwischen ist er Mitbesitzer eines gut besuchten Nachtclubs in Frankfurt am Main. Sein Leben ist geprägt vom schwierigen Verhältnis zu seinem ältern Bruder Werner, ebenso von der aufreibenden Beziehung zu seiner großen Liebe Lillian. Mitte der Sechzigerjahre überschlagen sich die Ereignisse, ein tödliches Karussell beginnt sich unaufhaltsam zu drehen ...
Nun landete er endlich wieder in meinem Händen, der Roman, der mich vor über vierzig Jahren nachhaltig beeindruckt hat (erstmalig um 1981/82 gelesen, im Alter von 13/14 Jahren). Erstaunlich viele Details blieben mir stets in Erinnerung. Dazu gehören die sexuellen Ausschweifungen im Nachtclub, bei denen Kerzen und Schlangen zum Einsatz kommen, nicht vergessen hatte ich die zerstörerische Liebe des Protagonisten zu einer Frau, gut in Erinnerung blieben auch Simmels Beschreibungen des damals erneut erstarkenden Nationalismus und der NPD.
Mitte der Sechziger hatte das Wirtschaftswunder seinen Zenit überschritten, offenbar ein guter Nährboden für alte und neue Nazis. So geht Simmel immer wieder auf diese erschreckende Entwicklung ein, baut überdies ein Netzwerk des braunen Gesindels als zentrales Element in die Handlung ein. Freilich bezieht sich der Titel des Romans auf Kain und Abel, so flutet die Bitterkeit des Werkes bereits auf den ersten Seiten die Gedankenwelt des Lesers. Simmel legt sich richtig ins Zeug, schildert eindrucksvoll das Nachtleben der Großstadt, stellt dem Umtriebe von Nazis gegenüber (angesiedelt in einer fiktiven Stadt in der Lüneburger Heide), baut Ägypten sehr geschickt in die Handlung ein. In Rückblicken erfahren wir mehr über die komplizierte Dreiecksbeziehung zwischen Richard, Werner und Lillian, dazu gesellen sich sehr schön und/oder interessant gezeichnete Nebenfiguren jeglicher Couleur.
Als Bübchen wurde ich natürlich von den "sexuellen Momenten" des Werkes sehr angezogen, obschon ich die Bedrohung durch das Nazipack kaum weniger intensiv in Erinnerung behielt. Heute ist dem Leser jede Schweinerei bekannt und regelmäßiger Stuhlgang sowieso wichtiger als sexuelle Ausschweifungen, dafür packt das Thema neuer und alter Faschismus aber umso heftiger zu. Zum Glück sind die im Buch noch sehr präsenten Altnazis inzwischen verstorben, die kurzzeitigen Erfolge der NPD bei Landtagswahlen ebenfalls Geschichte. Damals erschien Simmel der neue Nationalismus offenbar als Bedrohung, als junger Leser, dem das Buch vierzehn, fünfzehn Jahre nach der Erstveröffentlichung in die Hände fiel, war ich damals angewidert von Alt- und Neonazis. So mutet "Alle Menschen werden Brüder" in der heutigen Zeit noch immer sehr aktuell an, gehören inzwischen doch rund 20% der Bundestagsabgeordneten einer Nazipartei an, in manchen Landtagen sieht es noch grauenvoller aus.
Bevor ich mich nun in politischen Statements verliere, komme ich lieber zum Schlusspunkt meiner kleinen Einschätzung. "Alle Menschen werden Brüder" hat nichts von seiner Kraft und Faszination verloren, mich auch nach vielen Jahrzehnten erneut gepackt, gefesselt, regelrecht eingesaugt!
Vielen Dank, Herr Simmel!

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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik – „Keine Gewalt!“ Stasi am Ende - die Demonstrationen im Herbst ‘89
Ein letztes Mal er hier: „Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“, kurz: BStU, von 2011 bis zum Schluss in Person: Roland Jahn, hat zahlreiche Publikationen zum Thema Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR herausgegeben – einige entgeltlich, andere gratis. Mit drei der Gratispublikationen habe ich mich hier bereits auseinandergesetzt. Die vierte und letzte, die auf mein Interesse stieß, war dieser 134-seitige, großformatige Softcover-Band, der ursprünglich im Jahre 2014 erschien. Mir liegt die zweite, veränderte Auflage vor, die ein Jahr später herausgegeben wurde. Wie die anderen Bände auch, besteht sie vornehmlich aus MfS-Aktenauszügen auf Hochglanzpapier.
Strukturiert werden die Akteneinsichten in die chronologisch aufeinander aufbauenden Bereiche „Volksfest ,40 Jahre DDR‘“, „,Oppositionelle Sammlungsbewegungen‘“, „Demonstrationen überall“ und „Der 4. November 1989“. Zwar heißt es gleich auf der ersten Inhaltsseite, dass man die gesammelten Auszüge weder deute noch interpretiere, was jedoch nicht bedeutet, dass man in einem allgemeinen sowie vier Kapitelspezifischen Vorworten keine historischen Einordnungen vornehmen würde. Diese wird natürlich aus Sicht des konkurrierenden, wenn man so will als Gewinner hervorgegangen Systems vorgenommen. Das kapitelübergreifende dreiseitige Vorwort ist noch recht fair geschrieben, in der Einführung zum ersten Abschnitt „Volksfest ,40 Jahre DDR‘“ wird Egon Krenz‘ deeskalierendes Einwirken auf die Sicherheitsorgane bezüglich der Demonstration am 9. Oktober jedoch mit keiner Silbe gewürdigt.
Die Aktenauszüge dokumentieren den Umgang des MfS mit den Demonstrationen und dem immer selbstbewusster von immer größeren Teilen der Bevölkerung geäußerten Unmut auf anschauliche wie in großen Teilen entlarvende Weise. Laut dem auf S. 23 abgedruckten Bericht sollen die Westmedien schuld gewesen sein, womit man jegliche Eigenverantwortung von sich wies. Eine Seite weiter ist besonders interessant, was so alles als „Hetzlosungen“ verstanden wurde: „Wir bleiben hier“, „Freiheit und Demokratie jetzt“…? Die Bewertungen der Ereignisse durch das MfS in Form interner Schreiben suggerieren, ein reformierter, humaner Sozialismus – und um nichts anderes ging es anfänglich – sei ein fürchterliches Sakrileg. Aus dem MfS zugespielten (und somit aktenkundig gewordenen) Erlebnisberichten und Gedächtnisprotokollen geht zudem hervor, was für – ich kann es nicht anders formulieren – Bullenschweine auch die DDR herangezüchtet hatte, die zu Brutalität und an Folter grenzende Maßnahmen griffen. Ab dem 9. Oktober hielt man sich zum Glück zurück.
Ebenfalls abgedruckt sind Resolutionen der Demonstrierenden im Originalwortlaut sowie Demoaufrufe. Als authentische Quelle lesenswert ist auch das Stasi-Protokoll über eine Diskussionsveranstaltung der Berliner Theaterschaffenden vom 15. Oktober, die sich ebenfalls klar zum Sozialismus bekannten. Gregor Gysi bot sich als Demoanmelder und als Strafverteidiger gegen die Polizei an und verurteilte deren Brutalität. Weitere Schriftstücke dokumentieren den Umgang mit der oppositionellen Sammelbewegung Neues Forum und die perfiden Versuche der „Durchdringung“ derselben. Anhand des Abschnitts „Demonstrationen überall“ lässt sich dann nachvollziehen, dass eine Massenbewegung daraus wurde, die Krenz und der SED misstraute. Altbekannte Stasitöne wechseln sich nun mit moderateren ab und die Partei kam mit den Bürgerinnen und Bürgern endlich wieder ins Gespräch. Die Großdemo/Kundgebung vom 4. November ist hier ebenso ausführlich dokumentiert wie Krenz‘ erneuter Befehl zur Friedlichkeit der Sicherheitsorgane vom 1. November, sodass sich ein realistisches Bild ergibt.
Das sich auf lediglich eine Buchseite beschränkende Nachwort ist dann leider arg verknappt, erwähnt mit keinem Wort die unrühmliche Rolle der CDU im Wahlkampf mit ihren leeren Versprechungen oder wie aus der Revolution zumindest in Teilen eine reaktionäre Konterrevolution geworden war. Nichtsdestotrotz ist es interessant, die damaligen Ereignisse über authentische Dokumente aus MfS-Sicht nachzuvollziehen. Die handschriftlichen Berichte sind schwer zu lesen, gegenüber den mit Schreibmaschine verfassten aber deutlich in der Minderheit. Diverse Fotos der damaligen Ereignisse lockern die „Akteneinsicht“ etwas auf. Eine solche bietet auch interessante Einblicke, wie Geheimdienste allgemein so arbeiten – was nicht immer sonderlich vertrauenserweckend ist.
P.S.: Der unbedruckte Buchrücken nervt auch hier und erschwert das Wiederfinden im Regal.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Diese Filme sind züchisch krank!