FarfallaInsanguinata hat geschrieben: ↑Do 17. Sep 2020, 01:44
Eine echte Wohltat ist allerdings das Fehlen jeglicher Sex- oder Nacktszenen, hätte gar nicht erwartet, dass Nachwuchsregisseure sowas in der heutigen hyper-sexualisierten Filmwelt noch hinbekommen, gerade bei der Thematik.
Oha, ich hätte nie erwartet, dass so ein beiläufig geschriebener (Neben-)Satz diese Reaktionen auslösen könnte.
Das war eine spontane Gefühlsäußerung, und ich musste eben selbst ein wenig drüber nachdenken, wie genau ich das eigentlich meinte. Ich versuche mal es zu erklären.
Als erstes ist der Begriff
Filmwelt wohl unzutreffend bzw. unzureichend, ich hätte eher
Medienwelt schreiben sollen.
Und dann ... ich bin ja ein Kind der Siebziger, die mindestens genauso visuell waren, aus jedem Zeitschriftenregal sprangen einem nackte Titelseitenmädchen entgegen, auch im Fernsehen gab es natürlich bereits Nacktszenen, etwa im Tatort. Aber das fühlte sich,
zumindest für mich, anders an, eher wie ein trotziges Statement gegen Spießer und überholte kleinkarierte Moral, fast ein Ausdruck von neuer Freiheit.
In den Achtzigern war ich fest subkulturell verankert, da hatten kommerzielle Ausbeutung von (weiblicher) Nacktheit und Sexualität für mich bereits einen tendenziell negativen Anstrich, aber im Exploitation-Film habe ich es durchaus toleriert.
Heute empfinde ich Visualisierung von Nacktheit und Sex in Filmen nur noch abtörnend. Das ist mittlerweile so belanglos, beliebig und abgenutzt, das es für mich schlicht Ideenlosigkeit und Anbiederung aussagt. In jedem Beziehungsdrama
muss gevögelt werden, in jedem Jugendfilm
muss gevögelt werden, in jedem Krimi
muss gevögelt werden ... Jede Nachwuchsdarstellerin hat spätestens in ihrem dritten Film eine Sexszene, allen Soap-Aktricen ist die obligatorische Playboy-Fotostrecke vorprogrammiert ... Das langweilt und ist unerotisch bis zur Bewusstlosigkeit!
Warum, verdammt nochmal, muss ich bei
jeder Schauspielerin wissen, wie ihre Titten aussehen und ob sie rasiert ist?
Der nackte weibliche Körper ist nur ein Stück Fleisch, abgepackt im Kühlregal, dessen Attraktivität sich ausschließlich über seine Vermarktbarkeit definiert. Alles, was die feministische Bewegung in vergangenen Jahrzehnten mal an Bewusstsein erkämpf hatte, ist längst im Kommerz verloren. Der nackte männliche Körper bleibt wundersamerweise weiterhin ein Tabu, wie du, jogi, völlig zurecht bemerkt hast.
Denn wir leben halt immer noch, oder besser bereits wieder viel mehr, in einer Weiße-Hetero-Männer-Welt, die rücksichtslos die Regeln vorgibt.
Das allergrößte Tabu sind aber mittlerweile Menschen, die sich nicht völlig besinnungslos durch die Gegend ficken, nicht jedem beliebigen Fremden auf Tinder, Omegle, Chatroulette oder wo auch immer ihre Genitalien in Nahaufnahme präsentieren, nicht gratis ihren Körper auf irgendwelchen Amateur-Seiten hergeben, die vielleicht sogar gar keinen Sex haben und auch gar keinen Sex wollen.
So werden die verklemmten Spießer von anno dazumal zu absoluten Rebellen der Gegenwart. Und mein Herz ist voll bei ihnen, weil mich diese verlogene Ausbeutung von Menschen als Wahre unbeschreiblich ankotzt.
Noch kurz zwei Hinweise, dann habe ich mich genug ausgelassen.
Einer meiner absoluten Lieblingsfilme, "Betty Blue, 37,2°" beginnt direkt mit einer Sexszene und derer gibt es noch einige, genauso wie ausgiebige Nacktheit der Hauptdarsteller Béatrice Dalle und Jean-Hugues Anglade. Das hat mich nie ansatzweise gestört, viel mehr empfand ich die Szenen als wichtig, um die emotionale Ebene zu verdeutlichen, und die "visuelle Gleichberechtigung" sogar als ausgesprochen erfrischend.
Ebenso liebe ich die klassischen Hollywood-Detektiv-Filme der "schwarzen Serie" und fragte mich schon des öfteren, wie Drehbuchschreiber und Regisseure es damals hinbekamen, alle Gefühle zu vermitteln, ohne die Hilfsmittel "Nacktheit" und "Sex" in Anspruch nehmen zu können. Haben sie aber!