Ich hab es schon wieder getan! Ich war schon wieder im Kino
Drei Kurzfilme aus den Jahren 1913 und 1915 mit Live-"Musik"-Begleitung. Nun ja, ich gebe zu, normalerweise ist der Krach der Band unerträglich, dieses Mal waren die Musiker aber wirklich gut und haben sich ausnahmsweise auch mal am Film orientiert ...
The rosary (Lois Weber, 1913) - Phillips Smalley, Lois Weber
Ein Mann erinnert sich an die Frau die er einst liebte, und die er bis heute liebt. Sie gehörten zusammen, doch der Krieg kam und trennte die beiden. Irgendwann erhält sie die Nachricht, dass ihr Liebster tot sei, und voller Schmerz geht sie ins Kloster. Doch der Mann lebt noch, und als er sie besuchen will erfährt er, dass seine Herzensdame eine Braut Christi geworden ist. Einmal sieht er sie noch, doch sie kann sich ihm nicht mehr hingeben. Einsam und düster dreht er gedankenverloren einen Rosenkranz zwischen den Fingern, das einzige Erinnerungsstück, das er von ihr noch hat.
Einsam und düster, das trifft diesen 15-Minüter ziemlich genau. THE ROSARY ist langsam erzählt und ausgesprochen schwermütig. Eine traurige Geschichte, die völlig ohne erhobenen Zeigefinger oder moralischen Impetus erzählt wird, und bildlich dabei immer im Rahmen eines Rosenkranzes erzählt wird. Einfach nur ein Mann und eine Frau, die sich innig verbunden sind und doch für immer getrennt sein werden …
Suspense (Lois Weber, 1913) - Lois Weber, Val Paul, Douglas Gerrard, Sam Kaufman, Lon Chaney, Lule Warrenton
Die Frau ist mit ihrem Kind allein im abgelegenen Haus, und draußen schleicht ein abgerissener Landstreicher herum. Nein, jetzt dringt er in das Haus ein! Die Frau ruft ihren Mann an, dass er er schnell kommen solle, sie sei in Gefahr, aber der Weg von der Stadt bis zu dem Haus ist weit, und der Mann hat kein Auto. Also stiehlt er einen Wagen, und während der eigentliche Autobesitzer mit der Polizei den Dieb verfolgt, versucht der Landstreicher, mittlerweile mit einem Messer bewaffnet, in das Zimmer einzudringen, in dem die Frau sich verbarrikadiert hat.
Abgesehen von der kurzen Einführung mit der fortgehenden Haushälterin ist hier absolut alles drin, was einen Thriller ausmacht. Auch heute, über 100 Jahre später sehen gute Filmthriller kaum anders aus, ein Film wie ESCAPE ROOM zieht seine Spannung aus genau der gleichen Geschichte. Nur: SUSPENSE ist sage und schreibe 10 Minuten lang! 10 Minuten Tempo und Spannung. Ein Mann wird direkt vor der Kamera angefahren. Ein düsterer Hobo schaut in die Kamera und wälzt sichtlich finstere Gedanken. Im Split Screen dringt der Kerl dann in das Haus ein, während gleichzeitig das Telefonat stattfindet, die Frau völlig verzweifelt ist, und der Mann ungläubig zuhört was seiner Gattin gerade passiert. Hochspannung in Reinform: Wird der Mann rechtzeitig kommen? Oder wird die Polizei ihn anhalten und damit dem Mörder Zeit geben sein schreckliches Werk auszuüben? 10 Minuten, in denen eine komplette Geschichte erzählt wird, ohne Nebenhandlungen, ohne Abschweifungen, ohne Charakterisierungen … Ein Mann, eine Frau, ein böser Mensch – Mehr braucht es einfach nicht um eine richtig gute Geschichte zu erzählen. Doch, eines: Eine Frau als Regisseurin, die ihr Handwerk versteht und genau weiß, wie sie die Mittel der Filmgestaltung einzusetzen hat. Grandios!
Hypocrites (Lois Weber, 1915) - Courtenay Foote, Myrtle Stedman, Herbert Standing, Adele Farrington, A.D. Blake
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Der Mönch Gabriel erschafft in einer vergangenen Epoche eine Statue der Wahrheit. Sie ist wunderschön, aber sie ist auch nackt, denn die Wahrheit ist immer nackt. Als Gabriel die Statue präsentiert kommt es zu einem Skandal, denn die Menschen erschrecken vor der Nacktheit der Wahrheit, und sie töten Gabriel
In der Gegenwart predigt der Kirchenmann Gabriel über Heuchelei, was niemanden in seiner Gemeinde wirklich interessiert. Nachdem die Menschen seine Kirche verlassen haben schläft Gabriel ein. Im Traum besucht er gemeinsam mit der nackten Wahrheit die Mitglieder seiner Gemeinde und hält ihnen den Spiegel der Wahrheit vor: Der Politiker, auf dessen Bühne das Schild „Ehrlichkeit ist unser Fundament“ steht, zeigt sich im Spiegel als bestechlich. Die Gesellschaftslöwen akzeptieren die Wahrheit nur, wenn sie in ihre eigenen Vorstellungen hineinpasst. Die Liebenden erweisen sich als herzlos (er) und geldgierig (sie). Die Familie, die den Tod des kleinen Mädchens betrauert, hat ebendieses Mädchen mit Genussmitteln zu Tode gebracht, während der halbwüchsige Junge über Sex gelesen hat (und der Zusammenhang angedeutet wird, dass die Beschäftigung des Jungen zum Tod des Mädchens beigetragen haben könnte). Und als am Ende der Prediger, der sich so über Heuchelei mokiert, und der andere Menschen zumindest in seiner Fantasie mit der nackten Wahrheit konfrontiert, als dieser Mann tot aufgefunden wird, da hat er eine Sonntagszeitung in der Hand –Eine Zeitung, die am Sonntag, dem Tag des Herrn, gedruckt wird, und die allerlei weltliche Dinge verbreitet ...
Die überzeugte Katholikin Lois Weber dreht also einen Film über Heuchelei. Über die Nacktheit der Wahrheit und darüber, dass Menschen diese Wahrheit grundlegend ablehnen. Bezeichnend ist die Szene, in welcher der Prediger mit wenigen Folgenden einen steilen und mühseligen Pfad auf einen Berg erklimmt, während unten die Menschenmassen vorbeiziehen. Manche Frauen wollen dem Prediger folgen, werden aber von ihren Männern abgehalten. Andere schütteln nur den Kopf, wieder andere sehen den Weg nach oben nicht einmal, sondern gehen ins Gespräch vertieft einfach weiter. Aber Lois Weber ist der Kirche nicht bedingungslos hörig, das ist am Schlusstwist klar zu erkennen, und eigentlich, ja eigentlich könnte HYPOCRITES auch heute noch herrlich böse und sarkastisch sein. Wenn Gabriel und die nackte Wahrheit die Politiker besuchen, die Gesellschaft oder die Liebenden, und die Wahrheit hinter all den schönen Worten erkennen müssen, dann ist das im Jahre 2023 genauso aktuell wie im Jahre 1913. Genauso wie die Hinrichtung Gabriels durch den aufgebrachten Pöbel (und die Kirchenleute!), weil diese die nackte Wahrheit nicht akzeptieren wollen.
Aber leider hat Lois Weber sich entschieden, den Film extrem ruhig und theatralisch aufzubauen. Die Zwischentitel zitieren John Milton und legen auch sonst ein sehr altmodisches Englisch an den Tag, und die Theatralik, die übertriebenen Posen vor allem Gabriels, der am Übel der Welt jammernd und überdramatisierend zugrunde geht, nehmen der Geschichte viel von ihrer Würze und ziehen alles ein klein wenig ins Komische. Was dann zwar zum Ende passt, aber leider eben auch die Aussage verwässert. Der salbadernde Habitus Gabriels ist schnell nervig, wirkt völlig überzogen und damit fast ein wenig wie eine Karikatur auf sich selbst, was der Grundaussage des Films leider zuwider läuft.
Vom cineastischen Standpunkt gesehen ist HYPOCRITES ein Meisterwerk. Die halbdurchscheinende Wahrheit, die nur dann klar zu sehen ist wenn sie ihren Spiegel zückt, während genau dann die reale Welt ins Diffuse zurücktritt, ist wie ein Vexierbild mal zu sehen und mal nicht. Wie im wirklichen Leben halt auch. Nur die Narration und die Darstellungsweise, die sind für einen Zuschauer 110 Jahre nach der Entstehung des Films doch ein wenig ermüdend. Oder einigen wir uns zumindest auf gewöhnungsbedürftig. Wenn Lois Weber den Schwung, den sie in SUSPENSE an den Tag gelegt hat, hier ebenfalls eingesetzt hätte, dann hätte HYPOCRITES das Zeug zum Meisterwerk gehabt …