bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Sesso Nero

„Umso besoffener, umso besser!“ (Die Dialoge geben eine Rezeptionsempfehlung…)

Nach „Woodoo Baby – Insel der Leidenschaft“, aber noch vor „Porno Esotic Love“, „In der Gewalt der Zombies“ und „Porno Holocaust“ im Jahre 1980 veröffentlicht, jedoch vermutlich im gleichen Zuge wie alle genannten Filme von Joe D’Amato in der Karibik gedreht, gilt „Sesso Nero“ als erster Hardcore-Porno Italiens. Wie so oft versuchte sich der berüchtigte italienische Filmemacher auch hierfür an einer kruden Mischung aus Sex und Horror, wobei das Pendel diesmal eindeutig in Richtung Sex ausschlägt.

„Es nervt mich, dass man ohne Grund lacht und tanzt.“

Mark (Mark Shannon, „Hard Sensation”) bekommt von seinem Urologen (Lanfranco Spinola, „Die weiße Göttin der Kannibalen“) eröffnet, dass er an einer Geschlechtskrankheit leide, bei der nur noch die Amputation helfe, wolle er nicht nach gut zwei Wochen das Zeitliche segnen. Daraufhin reist unser Schnauzbartproll mit Prostatadefekt auf eben jene geheimnisvolle Karibikinsel, auf der mystische Voodoo-Rituale stattfinden und wo seine Freundin Marja (Annj Goren, „Papaya - Die Liebesgöttin der Cannibalen“) vor zwölf Jahren spurlos verschwand. Und da er nur noch 15 Tage zu leben bzw. zu ficken hat, dockt er an alles an, was ihm vor die Stoßstange kommt. Dafür nimmt er auch die krampfartigen Schmerzen in Kauf, die ihn nach jedem Samenerguss übermannen. Doch als noch wesentlich beängstigender stellen sich seine Halluzinationen heraus: Immer wieder scheint er Marja zu sehen. Handelt es sich tatsächlich um Trugbilder? Oder hat der alte Voodoo-Priester recht, wenn er behauptet, Marjas Körper sei tot, ihre Seele aber werde in einer alten Flasche verwahrt und Mark sei verflucht…?

Kaum dass Mark in seiner Unterkunft angekommen ist und nackt eine Mütze Schlaf nimmt, setzt sich das Zimmermädchen (Chantal Kubel, „The Pleasure Shop on 7th Avenue“) zu ihm ans Bett und masturbiert. D’Amato hielt es für eine gute Idee, abwechselnd auf ihre Muschi und Marks schlaffen Schwanz zu zoomen. Als er erwacht, treiben sie’s miteinander. Marks Landmann Jacques hat eine Schule auf der Insel eröffnet und ist mit der einheimischen Lucia (Lucia Ramirez, „Woodoo Baby – Insel der Leidenschaft“) liiert, die Zyniker Mark in Jacques‘ Abwesenheit mit Geld fürs Schulprojekt gefügig macht und sich von ihr einen blasen lässt. Doch bald begegnet er nicht nur seinem griechischen Kumpel und Strip-Lokalbetreiber Voyakis (George Eastman, „Man-Eater“), sondern auch Marja als Geist. Eine Striptease-Einlage mit einem supertuntigen Tänzer (Fernando Arcangeli, „Black Emanuelle – Stunden wilder Lust“) ist verdammt abtörnend, doch dessen Tanzpartnerin (Ornella Picozzi, „Bettgeknister – Sexgeflüster“) verwandelt sich Plötzlich in Marja. Sämtliche „Geisterszenen“ kommen übrigens ohne jegliche Spezialeffekte aus – ohne viel Zinnober taucht Marja unvermittelt auf und sieht vollkommen normal und menschlich aus.

Als unnormal und unmenschlich dürfte es Mark jedoch empfinden, dass Marjas Geist ihn verfolgt – und, schlimmer noch: seine Ehefrau Liza (Lola Burdan, „The Pleasure Shop on 7th Avenue“) ihm nachreist. Diese zieht sich aus und… diskutiert mit ihm. Mark verspürt aber keine Lust auf Gespräche, schlägt sie nieder und begattet sie von hinten. Ob D’Amato diese Szene deshalb so mies filmte, um sie jeglicher möglicher luststeigernder Wirkung zu berauben, ist nicht überliefert, würde aber Sinn ergeben. Nach einer Rückblende, die Mark beim Sex mit Marja am Strand zeigt, sieht er sie am Meer stehen und beginnt, mit ihr zu sprechen. Sie schimpft ihn aus und verabreicht ihm eine Wunderpille, die ihn lähmt, aber tief verborgene Erinnerungen hochholt. Die Zuschauerinnen und Zuschauer erfahren, dass Mark auch während seiner Zeit mit Marja bereits ein echtes Ekelpaket war – potzblitz, wer hätte das gedacht…?

Marja präsentiert Mark ihren neuen Freund, einen schwarzen Inselbewohner – offenbar haben auch Geister noch gewisse Bedürfnisse. Der Film greift nun ein Motiv aus D’Amatos „Foltergarten der Sinnlichkeit“ auf: Mark muss den beiden beim Sex zusehen (es handelt sich allerdings lediglich um Fellatio). Seine Frau will derweil nach New York zurückfliegen, wird jedoch von einem geheimnisvollen Einheimischen gebeten, noch etwas zu bleiben. Marja wiederum sieht einer dicken Schwarzen dabei zu, wie sie bei zwei Schwarzen gleichzeitig Hand anlegt, und gesellt sich schließlich dazu, um aktiv miteinzusteigen – im Rahmen des Films eine recht sexy Szene, unterlegt mit verfremdeten Gestöhne. Liza besucht Jacques, um nach ihren Mann zu suchen, wird jedoch von Jacques erpresst und muss ihm einen blasen. Lucia schaut masturbierend zu. Die Szene endet abrupt, den Samenerguss spart D’Amato aus. Mark hingegen träumt von seiner Geschlechtsorgan-OP sowie von Sex mit Lucia am Strand und sinniert über seine Erinnerungen und seine Krankheit aus dem Off. Die Inszenierung des Sextraums hätte ein Höhepunkt des Films werden können, immerhin beginnt sie sehr sinnlich und in Bezug auf Lucia ästhetisch und erotisch (über Shannons Äußeres hüllen wir besser den Mantel des Schweigens). Seltsamerweise jedoch wurde ausgerechnet diese Szene als sehr züchtiger Softcore gedreht, die Kamera fängt nicht einmal Lucias Oberweite ein. Vor dem Hintergrund, dass für „Porno Holocaust“ Hardcore-Szenen mit Shannon und Ramirez gedreht worden sind (wahrscheinlich gar im selben Take), mutet es umso unverständlicher an, dass sich D’Amato hier derart zurückhielt.

Im Anschluss scheint Mark endgültig den Verstand zu verlieren: Er erwürgt seine Zimmerwirtin. Interessanterweise können auch Liza und Jacques Marja sehen, sie scheint also kein Hirngespinst Marks zu sein – ein Aspekt, der den Film möglicherweise um ein Psychodrama-Motiv erweitert hätte. Stattdessen nimmt die Handlung eine hanebüchene Wendung hin zu einem abgekarteten Spiel, erfindet eine jüngere Schwester Marjas und einen Racheplan, um Mark um die Ecke zu bringen – welch beknackte Story! Dafür hat D’Amato gegen Ende ein Einsehen und liefert seinem Publikum, worauf es den gesamten Film über gewartet haben dürfte: Eine schöne Sexszene am malerischen Strand. Diese fällt jedoch reichlich kurz aus und lässt jeden Stellungswechsel vermissen. Die Schlusspointe „entwaffnet“ Mark, was jedoch nicht bedeutet, dass man Shannon nicht bereits in „Porno Holocaust“ wiedergesehen hätte…

Puh… Pionier-Charakter des Films hin oder her; was zu befürchten war, ist eingetreten: Mit steigendem Hardcore-Anteil sinkt die Qualität der Filme D’Amatos. Für einen reinen Porno verfügt „Sesso Nero” noch über viel zu viel Handlung, doch diese ist langweilig und lieblos inszeniert worden. „Sesso Nero“ gibt anhand seines kruden Drehbuchs vor, ein Film über Verlustschmerz und Sehnsucht sowie über krankhaften Machismo und Respektlosigkeit zugleich zu sein und bringt Marks Verhalten mit seinem Sexualtrieb in Verbindung. Dumm nur, dass beides nicht so recht zusammenpassen will, denn damit man empathisch mit ihm mitfühlen könnte, dürfte er nicht ein solches Arschloch sein. Und um genießen zu können, wie sich die Schlinge um ihn zuzieht und er die Quittung für sein Verhalten bekommt, passiert ihm viel zu lange entweder nichts oder zu viel für ihn Angenehmes, sodass immer wieder der Eindruck entsteht, er sei eigentlich dann doch der nominelle Held der Geschichte, der ein gutes Stück weit nachvollziehbar die letzten Tage seiner Sexualität auskosten will.

In Kombination mit etwas vielen Wackelkamera-Szenen und einer gegenüber manch vorausgegangenem D’Amato-Werk deutlich abfallenden musikalischen Untermalung durch Nico Fidenco vermengen Regie und Schnitt die verschiedenen Versatzstücke zu einer uninspirierten, unterdurchschnittlichen, schwer genießbaren Mischung, deren Inszenierung dem grundsätzlich bitter-sarkastischen Ton des Drehbuchs zuwiderläuft und aus dem Sexualität-als-Machtinstrument-Ansatz beschämend wenig und wenn, dann lediglich Alibihaftes, macht. Immerhin punktet er neben seinem exotischen Ambiente mit einigen hübschen, extrem freizügigen Damen, der einen oder anderen rüden Idee und viel J&B. Filmhistorisch interessant? In jedem Fall. Ein guter Film? Leider nein.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Tatort: Die Zeit ist gekommen

„Was seid ihr eigentlich für Scheißeltern?“

„Tatort“ Dresden Nr. 8 für Kommissarin Karen Gorniak (Karin Hanczewski), „Tatort“ Nr. 3 für ihre Kollegin Leonie Winkler (Cornelia Gröschel): Der Fall „Die Zeit ist gekommen“ wurde im Sommer 2019 unter der Regie Stephan Lacants („Fremde Tochter“), der damit innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe debütierte, nach einem Drehbuch Stefanie Veiths und Michael Comtesses gedreht und am 05.04.2020 erstausgestrahlt.

„Täter sind manchmal irrational!“

Familienvater Louis Bürger (Max Riemelt, „Der rote Kakadu“) hatte es nicht leicht: Drei Jahre musste er im Knast absitzen, weil er – nach eigener Aussage – zu Unrecht verurteilt worden war. Nun scheinen sich die Ereignisse zu wiederholen: Vor seinem Haus wird ein Polizist tot aufgefunden, offenbar erschlagen mit dem Baseballschläger Louis‘ zwölfjährigen Sohns Tim (Claude Heinrich, „8 Tage“), der in einem Jugendheim lebt. Gorniak und Winkler verhaften den unter dringendem Tatverdacht stehenden Mann, der sich doch eigentlich zusammen mit Tim und seiner Frau Anna (Katia Fellin, „Supernova“) ein neues, glückliches Leben aufbauen wollte. Nach einer Selbstverletzung in der Untersuchungshaft wird er auf die Krankenstation verlegt, von wo aus er mit Annas Hilfe fliehen kann. Doch als sie Tim aus dem Heim abholen wollen, um sich gemeinsam nach Kroatien abzusetzen, ist die Polizei ihnen bereits auf den Fersen. Die Bürgers verschanzen sich im Heim und nehmen das Personal als Geiseln, während Kripoleiter Michael Schnabel (Martin Brambach) das Gebäude umstellen lässt. Ist Louis der Mörder oder sagt er die Wahrheit, wenn er unschuldig zu sein behauptet? Und wenn er tatsächlich kein Mörder ist: Wird er es in dieser aussichtlosen Lage bleiben…?

Der Film beginnt achronologisch mit seiner schmerzhaftesten Szene: der Selbstverletzung Louis Bürgers in der U-Haft mittels einer angespitzten Zahnbürste, die er sich in Ohr rammt. Die Aufmerksamkeit des Fernsehpublikums dürfte diesem „Tatort“ damit sicher sein, danach geht es zwei Tage in der Zeit zurück und man lernt die Figuren vor dem Todesfall und vor der Verhaftung kennen. Das Ensemble wird erweitert um Louis‘ Schwager Holger Schanski (Karsten Mielke, „Vermisst in Berlin“) und dessen Frau Lilly (Bea Brocks, „Ostfriesensünde“), die ein ambivalentes Verhältnis zu Louis pflegen. Louis Bürger wird als sehr emotionaler, auch aufbrausender Typ charakterisiert, der bei seiner Verhaftung der Verzweiflung nah ist. Zudem existiert nicht nur bei ihm, sondern auch bei seiner Frau ein seit seiner zurückliegenden Verurteilung tiefverwurzeltes Misstrauen in Polizei und Justiz. Aus dieser Konstellation ergibt sich die Geiselnahme, die spontan entsteht und als letzte Möglichkeit angesehen wird, dem Zugriff der Polizei zu entkommen.

Fortan entwickelt sich eine intensiv inszenierte, einige nervenaufreibende Spannungsszenen ausspielende Handlung, bei der die Anspannung aller Involvierten sicht- und spürbar wird. Sommerhitze und Stress produzieren Schweißperlen, die die Kamera ebenso einfängt wie die immer verzweifelter werdende Lage im Kinderheim, aus der immer nervösere Geiselnehmer resultieren – zumal weder Geisel Nico (Emil Belton, „Unter dem Sand“) noch die zunächst von den Bürgers unbemerkten Bewohnerinnen Verena (Emilia Pieske, „Millennials“) und Larissa (Paula Donath, „Burg Schreckenstein“) sich in ihre defensiven Rollen einzufinden gewillt sind. Nico versucht immer wieder, Louis zu überrumpeln, während die Mädchen sich verstecken. Die Einsatzkräfte wiederum versuchen sich am gewagten Spagat zwischen Kontrolle und Deeskalation auf der einen und Beendigung der Situation durch Spezialkräfte auf der anderen Seite.

Der eigentliche Täter lässt sich hingegen recht schnell erahnen, doch die Täterfrage steht nicht im Vordergrund. Stattdessen mischt sich die Spannung mit einer Dramatik, die keine einseitige Parteiergreifung durch das Publikum erlaubt. Die Unberechenbarkeit von Menschen in Extremsituation wird zur großen Unbekannten und die Frage ist, ob es der Polizei gelingen wird, den Fall schnellstmöglich – also noch während der Geiselnahme – zu lösen und das Vertrauen der Bürgers zurückzugewinnen. Max Riemelt meistert dabei die große Herausforderung, Täter und Opfer zugleich zu spielen. Getrieben von der Sehnsucht nach einem besseren Leben und einem echten Neuanfang setzt Louis alles auf eine Karte und profitiert vom sensiblen, besonnenen Umgang der Kripo-Kommissarinnen mit der Situation, die auch bereit sind, eigene Fehler in Kauf nehmen, statt die Verantwortung ans SEK zu übertragen. Dem Realismus bleibt dieser „Tatort“ insofern verpflichtet, als am Ende mitnichten alles eitel Sonnenschein ist. Auch Schüsse fallen und Menschen werden verletzt.

Louis Bürgers Vorstrafe bleibt indes ungeklärt, was genau damals geschehen ist, bleibt diffus. Die Chance, eine größere Geschichte über Justizversagen und was es mit Menschen macht zu erzählen, bleibt leider ungenutzt, der „Tatort“ fokussiert sich ausschließlich auf eine individuelle dysfunktionale Familienkonstellation und entlässt Polizei und Justiz größtenteils aus der Verantwortung, indem sie selbst zu einer Art Opfer der verqueren Situation stilisiert werden. Dennoch ist „Die Zeit ist gekommen“ ein in sich stimmiger, fesselnder und hochemotionaler Krimi/Thriller geworden, der schauspielerisch nicht nur vom expressiven Riemelt lebt, sondern mit seinem vollen Ensemble zu überzeugen weiß, insbesondere auch mit der auf sehr natürliche Weise attraktiven, mimische Zwischentöne beherrschenden Katia Fellin, die sich hiermit für weitere größere Rollen empfiehlt.
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Die Farben der Nacht

„Verrückte Männer verfolgen uns Frauen seit der Steinzeit!“

Auf Italo-Genre-Regisseur Sergio Martinos Giallo-Klassiker „Der Killer von Wien“ und „Der Schwanz des Skorpions“ folgte 1972 der stilistisch anders gelagerte Mystery-/Okkult-Giallo „Die Farben der Nacht“, abermals mit Edwige Fenech in der weiblichen Hauptrolle. Wie bei den zuvor genannten war Ernesto Gastaldi am Drehbuch beteiligt, für die Kamera indes war nicht mehr Emilio Foriscot, sondern das Duo Miguel Fernández Mila und Giancarlo Ferrando zuständig.

„Willst du wirklich geheilt werden?“

London: Die attraktive Jane Harrison (Edwige Fenech, „Der Killer von Wien“) hat bei einem Autounfall ihr ungeborenes Kind verloren und wird seitdem von furchtbaren Alpträumen und Visionen geplagt, die ein immer wiederkehrendes Motiv aufweisen: Sie wird von einem unbekanntem Mann (Ivan Rassimov, „Planet der Vampire“) mit stahlblauen Augen und stechendem Blick verfolgt, der es mit einem Messer auf sie abgesehen hat. Auf Rat ihrer Schwester Barbara (Nieves Navarro alias Susan Scott, „Frauen bis zum Wahnsinn gequält“) nimmt sie psychiatrische Hilfe in Anspruch, doch auch Psychiater Dr. Burton (George Rigaud, „Nackt über Leichen“) steht vor einem Rätsel. Ihr Freund, der Pharmazievertreter Richard Steele (George Hilton, „Der Schwanz des Skorpions“), war ohnehin gegen den Psychiaterbesuch und verabreicht ihr daraufhin Vitaminpillen. Doch als Jane ihre neue Nachbarin Mary Weil (Marina Malfatti, „Das Rätsel des silbernen Halbmonds“) kennenlernt und ihr ihr Leid klagt, lässt sie sich überreden, an einem Sabbat, einer Art schwarzen Messe, teilzunehmen, um Heilung zu erlangen. Doch von nun an scheinen sich ihre Horrorvisionen in gefährliche Realität zu verwandeln. Wird sie paranoid oder treibt man ein böses Spiel mit ihr?

„Das ist nicht wie beim Kino. Man kann nicht einfach zu spät kommen!“

Die alptraumhaft surreale Eröffnungssequenz entpuppt sich als Horrorvision Janes, die auch im weiteren Verlauf immer wieder visualisiert werden, zum Teil in Zeitlupe und mit Kommentar unterlegt. Edwige Fenech spielt die reifeverzögerte, kindlich-naive Jane mit unvergleichlicher Hingabe und gewohnt freizügigem Sex-Appeal. Kruder früher Höhepunkt des Films ist der Sabbat, auf dem Tierblut getrunken wird und man Jane sexuell belästigt und übergriffig wird. Dafür scheinen ihre Alpträume ein Ende zu haben – jedoch fühlt sie sich nun in der Realität verfolgt, was einen weiteren Sabbat-Besuch nach sich zieht. Dort lässt sie sich vom Guru beschlafen und wird zu ihrem Entsetzen Zeugin, wie Mary ihrem Leben ein Ende bereitet, indem sie sich in einen Dolch stürzt! Als ihr Verfolger sich zu allem Überfluss als Anhänger jener teuflischen Sekte zu erkennen gibt, versucht sie verzweifelt, deren Zugriff zu entkommen. Die – im wahrsten Wortsinn – unglaubliche Kameraführung unterstützt massiv die Paranoia und geht mit Bruno Nicolais abwechslungsreichem, psychedelischem und atmosphärischem Soundtrack eine unheilvolle Symbiose ein, die aus „Die Farben der Nacht“ einen unheimlichen Psychotrip machen.

„Du kannst nicht fliehen, Jane!“

Misstrauen und Verzweiflung reichen sich die Hand, Traum und Wirklichkeit, Wahn und Wahrheit verschwimmen ineinander und können auch vom Publikum nicht mehr eindeutig voneinander abgegrenzt werden. Das macht die Handlung aber auch ein bisschen beliebig und „Die Farben der Nacht“ damit nicht so genial wie Martinos Meisterwerk „Der Killer von Wien“. Dafür verarbeiten Story und Stil aber mitunter ziemlich originell Einflüsse aus „Rosemaries Baby“ und Artverwandtem und werden zu einer extravaganten und exaltierten, übertriebenen und gialloesk grellen audiovisuellen Reise in andere Sphären, die von Martinos Kriminal-Gialli weit entfernt liegen. Ein schmackhafter Cocktail aus Tierblut, Sleaze und vielen Umdrehungen…
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Porno Holocaust

„Es gibt nichts Schlimmeres als Frauen an Bord – die machen immer nur Schwierigkeiten!“

Mutmaßlich in einem Zuge mit „Woodoo Baby – Insel der Leidenschaft“, „Sesso Nero“ und „In der Gewalt der Zombies“ in der Dominikanischen Republik gedreht, wurde „Porno Holocaust“ als letztem Film aus Italo-Genre-, -Schund- und -Porno-Regisseur D’Amatos Karibik-Aufenthalt eine Veröffentlichung zuteil: 1981, einige Monate nach „In der Gewalt der Zombies“, erschien er in Italien. Nachdem „Sesso Nero“ als erster Hardcore-Porno Italiens galt, versuchte sich D’Amato mit dem geschmackvollen Titel „Porno Holocaust“ erneut am Horror/HC-Porno-Crossover und ließ den Film dabei über weite Strecken wie eine Porno-Variante von „In der Gewalt der Zombies“ wirken.

„Wir müssen versuchen, so lange wie möglich am Leben zu bleiben!“

Auf einem exotischen Eiland scheinen seit der Durchführung von Atomtests Lebewesen auf unheimliche Weise zu mutieren. Der angeschwemmte Leichnam eines Fischers befeuert gar die Spekulationen über eine regelrechte Bestie, die auf der Insel ihr Unwesen treiben soll. Professor Dr. Lemoir (George Eastman, „Man-Eater“), selbst in die Atomversuche involviert, stellt sich eine gemischtgeschlechtliche Expedition zusammen und will den Vorfällen und Gerüchten auf den Grund gehen – wenn man denn vor lauter Gevögel einmal dazu kommt. Tatsächlich hat die nukleare Strahlung mindestens einen Inselbewohner verseucht und zu einem triebgesteuerten, tödlichen Monster, fast einem Zombies gleich, gemacht…

„Ich möchte noch einmal Sex haben, bevor ich sterbe – verstehst du?“

Nico Fidencos fröhliche Funk-Klänge im Vorspann dürften bei der Wahl der unpassendsten Filmmusik locker den ersten Platz belegen, die grottige deutsche Synchronisation ist zum Davonlaufen. Lässt man sich dennoch auf den Film ein, wird man nach einigen Dialogen Captain O'Days (Mark Shannon, „Sesso nero“) mit Kernphysikerin (!) Annie (Lucia Ramirez, „Woodoo Baby – Insel der Leidenschaft“) und Zoologin Contessa (Annj Goren, „Hard Sensation“) Augen- und Ohrenzeuge einer Softsex-Szene eines weiteren Professors (leider uncredited) mit seiner Frau Simone (Dirce Funari, „Absurd“), die unter seinen Potenzproblemen leidet. Dr. Lemoir findet sich anschließend in einer pseudowissenschaftlichen Runde mit dem impotenten Professor und dem „Herrn Minister“ wieder, in der die Atomversuche thematisiert werden. Ihn packt das schlechte Gewissen und er beschließt, auf die Insel zu reisen. Contessa besucht Simone, die Frau des Professors, die sich bereits ihrer Kleidung entledigt hat. Sie ohrfeigen sich gegenseitig und vertragen sich mittels eines gleichgeschlechtlichen Sexualakts wieder. Überwiegend handelt es sich um keine explizite Szene, doch D’Amato zoomt nach einiger Zeit auf Contessas Vagina – der Film kommt sexuell in Fahrt

Contessa ist nun erst richtig in Stimmung, sucht ein Bordell auf und treibt’s dort mit zwei Einheimischen (beide uncredited). Hierbei dürfte es sich um eine Szene handeln, die in Teilen bereits in „Sesso Nero“ Verwendung fand. Kurioserweise verliert einer der Stecher dabei seine Erektion. Annj Goren indes hat auf diese Szene anscheinend keine rechte Lust gehabt, zumindest wirkt sie eher angewidert. Der Captain und Anni suchen den Strand auf; sie geht nacktbaden, er schaut ihr dabei zu und von der Tonspur säuselt eine unschuldige Schnulze, die noch nicht darauf hindeutet, dass die Situation in einer ausführlichen Hardcore-Sexszene ohne sichtbaren Cumshot münden wird. Beim Cunnilingus kämpft O’Day mit seinem unvermeidlichen Goldkettchen… Soweit zum Vorgeplänkel (!), nun endlich bricht die Expedition auf. Die Point-of-View-Perspektive des verseuchten Mutanten nach Ankunft auf der Insel soll bedrohlich wirken, man ist sich aber eher zu fragen geneigt, weshalb die Expeditionsmitglieder sie nicht sehen. Contessa gibt sich erst einmal wieder Simone für eine lesbische Softsexszene am Strand hin, die recht lang und ansehnlich ausgefallen ist.

O’Day vergnügt sich derweil mit Anni, womit D’Amato eine relativ annehmbare Hardcore-Sequenz mit diesmal sichtbarer Ejakulation und schwelgerischer Musik gelang. Wer aus dem Ensemble Lucia Ramirez favorisiert, dürfte hierin seinen Filmhöhepunkt gefunden haben. Simone versucht anschließend ihren Mann zu verführen, bläst und fickt – bzw. tut so, denn bei dieser lachhaften Szenenabfolge handelt es sich lediglich um schlecht verschleierten Softsex. Der Grund: Dirce Funari stand für echte Sexszenen nicht zur Verfügung… Langsam, aber sicher beginnen auch die permanenten Schnaub- und Atemgeräusche zu nerven, mit denen gefühlt jede Szene unterlegt ist. Dass der Film auch über einen Horroranteil verfügt, hat man ohnehin schon längst vergessen, als nach 71 (!) Minuten die erste Zombie- respektive Verseuchten- oder Mutanten-Attacke ihren Lauf nimmt, dicht gefolgt von der zweiten. Jetzt will es D’Amato aber wissen! Die Kreatur (ebenfalls uncredited) zwingt Simone zum (angedeuteten) Fellatio, und je mehr Attacken sich häufen, desto mehr summieren sich auch die Anschlussfehler (zu denen ich Funari Weigerung, einen fremden Penis in den Mund zu nehmen, ausdrücklich nicht zähle).

Anni wird vom Verseuchten niedergeschlagen und entführt – oder vielmehr in Sicherheit gebracht? In ihrem Versteck findet sie Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahre 1958, während ihr Entführer sie mit Essen versorgt und ihr sogar Blümchen schenkt. Simone ergeht es weniger gut, sie wird tot aufgefunden. Für den Kapitano erscheint daraufhin nichts folgerichtiger, als Sex mit Contessa zu haben. In Kniestrümpfen steht er vor ihr, während sie seinen Schwanz in Nahaufnahme bläst, anschließend nimmt er sie von hinten und spritzt ihr auf den Rücken. Schließlich muss auch Doc Lemoir dran glauben, Contessa wird ausgeknockt und blutig vergewaltigt. Erstmals entwickelt der Film zumindest ansatzweise so etwas wie echten Horror, wenn im Prinzip auch ausschließlich durch die Vergewaltigungsszene. O’Day findet Anni und schießt eine Harpune auf ihren „Beschützer“, dessen Name Amuro zu sein scheint, doch diesen beeindruckt das wenig. Mit der Harpune schlurft er auf O’Day zu, der stolpert und keine Anstalten zu fliehen macht. Anni bittet Amuro, den Captain in Ruhe zu lassen, woraufhin dieser prompt friedlich wird. Also rudern beide auf einem Boot, das zuvor als zu klein für drei Passagiere galt (nun aber offenbart, dass es daran wohl kaum gescheitert wäre, immerhin linst ein blinder Passagier noch kurz hervor) durch die angeblich ach so gefährlichen, von Haien besiedelten Gewässer davon und treiben es auf offener See noch einmal miteinander.

Resümee: Die eine oder andere Sexszene geht in Ordnung, die Mädels sind hübsch (und verkörpern verschiedene Typen), die Kulissen sonnig und exotisch. Aber: Der Rest ist Mist und vor allem viel zu lang! Ein sleaziger, taubloser Horrorporno darf vieles sein, nur nicht langweilig. So viel Spaß der Dreh zumindest für Teile des Ensembles gemacht haben mag, fürs Publikum ist „Porno Holocaust“ zu gucken harte Arbeit. Masken und „Effekte“ befinden sich auf Amateurniveau, fast alles sieht nach first takes aus, die Charaktere sind unglaubwürdig (Ramirez eine Kernphysikerin – ja nee, is klar...) bis überflüssig (D’Amatos Cameo als neugieriger Journalist erfüllt keinerlei Zweck) und George Eastman wurde in seiner Rolle nahezu vollkommen verschenkt. Wie D’Amato dessen Drehbuch, das im Finale Motive aus „Man-Eater“ und „King Kong“ aufgreift, komplett in den Strandsand setzt, tut fast schon weh mitanzusehen. Die dünne Handlung wird behelfsmäßig aufgeblasen (man verzeihe mir die Doppeldeutigkeit), doch in Nichtsexszenen dominiert eine unfassbar lieblose, D’Amato unwürdige statische Kamera. Dem Film mangelt es an jeglicher Dynamik, die auch die erfahrene Cutterin Ornella Micheli beim Schnitt nicht herzustellen vermochte – ihr Beitrag zum Film sieht vielmehr nach Arbeitsverweigerung aus. „Porno Holocaust“ ist vermutlich D’Amatos bis dahin schlechtester Film, dessen vollmundig beworbener „Holocaust“ zum Sturm im Wasserglas wurde – es sei denn, der Titel bezieht sich darauf, wie aus einem Horrorfilm mit Hardcore-Sexszenen ein völliges Desaster wird...
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Die Schule am See

Staffel 1

Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir

„Die Schule am See“ ist eine Jugendserie, die für die ARD produziert und dort von Dezember 1997 bis April 2000 im Vorabendprogramm ausgestrahlt wurde. Die Regisseurinnen und Regisseure Brigitte Dresewski, Cornelia Grünberg, Michael Knof, Guido Pieters und Georg Schiemann inszenierten 44 rund 50-minütige Episoden nach den Drehbüchern verschiedener Autorinnen und Autoren in drei Staffeln, jeweils unterbrochen von einem Werbeblock. Drehort war das Städtchen Plön in Schleswig-Holstein, das für die Serie zum fiktionalen Ort Lüttin wurde – angelehnt an die ebenfalls in Plön gedrehte Serie „Kleinstadtbahnhof“. Jason Everly sang „We Stick Together“, einen Ohrwurm von einem Titellied im Pop-Rock-Gewand.

„Ich scheiß‘ auf das Abi!“

Die von ihrem Mann frisch getrennte Pädagogin Vera Herzog (Mareike Carrière, „Schuldig auf Verdacht“) tritt eine Stelle am altehrwürdigen Schlossinternat Lüttin in Schleswig-Holstein an. Sie übernimmt die berüchtigte Prinzenhäusler-Wohngruppe, die bei ihren Kolleginnen und Kollegen als unerziehbar gilt. Unter dem altmodischen Internatsleiter Henning Seld (Max Volkert Martens, „Ein Richter für Berlin“) nimmt Vera die Herausforderung an und sieht sich unter anderem mit der frechen Punkerin Antonia (Jenny-Marie Muck, „Molly“), der quirligen Lolle (Dorina Maltschewa, „Engel + Joe“), Computerfreak Alf (Philipp Niedersen, „Großmutters Courage“), der nach außen hin ruhigeren, sich jedoch in verquere Beziehungskisten verwickelnden Nina (Sotiria Loucopoulos, „Verbotene Liebe“), dem Casanova Mario (Julian Friedrich, „Faust“), dem sensiblen Stefan (Karim Köster, „Stahlnetz: Die Zeugin“), und dem glücklosen Karlchen (Torben Liebrecht, „Polizeiruf 110: Blutiges Eis“) konfrontiert. Ein bunter verhaltensauffälliger Haufen, der jedoch letztlich ebenso seine oft turbulenten Erfahrungen mit dem Erwachsenwerden macht wie andere Gleichaltrige auch. Vera findet dank ihres erfrischend junggebliebenen Naturells und ihrer unkonventionellen pädagogischen Herangehensweise einen Draht zu den Jugendlichen und formt aus ihnen eine Clique mit sozialer Kompetenz – nicht selten gegen den Widerstand verknöcherter erzkonservativer Kollegen wie Dr. Leonhard Blüm (Jörg Friedrich, „Happy Weekend“). Verlassen kann sie sich jedoch meist auf Sekretärin Frau Ehrchen (Erika Skrotzki, „Ärzte: Dr. Schwarz und Dr. Martin“) sowie auf Hausmeister Manne Zierlich (Harald Maack, „Schtonk!“) – seines Zeichens der größte Elvis-Fan nördlich der Isar –, und Sportlehrer Fritz Bülow (Patrick Elias, „Rosamunde“) ist eigentlich auch ganz nett…

Mein persönlicher Bezug ergibt sich aus der Sichtung größerer Teile, wenn nicht gar der kompletten ersten Staffel im Zuge ihrer Erstausstrahlung, während ich ungefähr gleichaltrig wie die Internatsschülerinnen und -schüler war und insbesondere an der Rolle der rebellischen Antonia ein gesteigertes Interesse entwickelt hatte. Für einen langsam, aber umso sicherer in die Punk-Subkultur rutschenden Schüler, dem Schule, Staat und Gesellschaft schwer auf die Nerven gingen, barg die Serie ein gewisses Identifikationspotential, bot aber auch angenehme Zerstreuung.

In der ersten Episode werden Vera und das Fernsehpublikum zunächst einmal mit einem Haufen verklammter Pedanten bekanntgemacht: Leitung und Kollegium des Schlossinternats, einen möglichst radikalen Kontrast zu den jugendlichen Bewohnerinnen und Bewohnern setzend. Die Prinzenhäusler-Wohngruppe soll aufgelöst werden, Fritz Bülow ist mit ihrer Betreuung heillos überfordert. Doch trotz eines abweisenden Empfangs durch die juvenilen Delinquentinnen und Delinquenten setzt sich Vera für sie ein und erwirkt, dass sie zusammen mit Fritz deren Betreuung übernimmt. Typisch für eine Vorabendserie sind die Familientauglichkeit, manch Overacting in den Nebenrollen, die etwas arg konstruierten bis gestelzten Dialoge sowie die klar umrissenen Charaktere – von denen sich die Unsympathen zum Positiven wandeln sollen. Und Neuankömmling Alf, der passenderweise mit einem Plüsch-Alf im Gepäck zu den Prinzenhäuslern stößt, schlägt gewissermaßen eine Brücke zur gleichnamigen SitCom, die im vorausgegangenen Jahrzehnt zur einer überaus beliebten Vorabendserie der Deutschen geworden war.

Episode 2 nutzt Vera, um sich im Bootshaus am See häuslich einzurichten. Der spießige Schulleiter Henning Seld sorgt sich derweil darum, dass beim Besuch Gloria von Ahlefelds (Tilly Lauenstein, „Otto – Der Film“), der Vorsitzenden des Stiftungsrats des Internats, etwas schiefgehen könnte. Lolle gibt sich einem Techtelmechtel mit Bauernsohn Hans (Oliver Broumis, „Stalingrad“) hin und will die Kuh Charlotte vor der Schlachtung bewahren. Zusammen mit Antonia versteckt sie die Kuh im Internat. Das hat natürlich chaotische Erfolgen und ruft Vera auf den Plan… Diese Episode ist verdammt naiv und konzentriert sich auf ein einzelnes Tierschicksal, statt Nutztierhaltung und Fleischverzehr generell infrage zu stellen. Das Ganze ist lediglich der Aufhänger für eine Geschichte à la „Kinder vom Süderhof“ und spielt im weiteren Verlauf der Serie überhaupt keine Rolle mehr. Für eine Jugendserie zu infantil.

Dafür bekommt Antonia in der dritten Episode endlich ihren großen Auftritt: Man erfährt, dass sie sich im Internat befindet, weil ihre Eltern einfach keine Zeit für sie haben. Nicht einmal an ihrem Geburtstag lassen sie sich blicken. Nachvollziehbarerweise nagt dies an Antonia, die nach einer Provokation ihres Lehrers im Unterricht die Nerven verliert und randaliert. Sie läuft Gefahr, einen weiteren Schulverweis zu bekommen. Das ist ihr aber schnuppe. Sie zieht sich in eine abgelegene Ecke des Internats zurück, während Vera & Co. sie im ganzen Ort suchen. Lediglich Stefan findet sie, und beide kommen sich näher. Diese Episode erzählt auf grandiose, empathische Weise eine schöne Außenseiterromanze, im Zuge derer sich die hübsche Antonia auch oben ohne zeigt. Der sensible Umgang mit der jugendlichen Gefühlswelt sollte auf diese Folge hin zum Markenzeichen der Serie werden, wenngleich er längst nicht jedes Mal erreicht werden sollte – bis zum Serienende blieb diese Episode eine der stärksten und dürfte manch Zuschauerin und Zuschauer zum Dabeibleiben animiert hatten.

„Big Business“ in Episode 4: Alf arbeitet Tag und Nacht an einem Computerspiel, an dem ein Unternehmen Interesse bekundet hat – und vernachlässigt dafür den Schulalltag. Vera gelingt es weitestgehend, Alf für sein Projekt den Rücken freizuhalten, nur Schulleiter Seld weiß von nichts. Diese Episode trägt zur Charakterisierung Alfs als Computer-Crack und Veras als verständnisvolle Kuschelpädagogin bei, erhält aber vor allem durch den Kuss zwischen Vera und Fritz, die daraufhin eine Nacht miteinander verbringen, wichtige Funktion für die horizontale Handlungskonzeption.

Die fünfte Episode gehört Nina, die sich auf eine Affäre mit Deutschlehrer Schubert (Ole Pfennig, „Cypress“) eingelassen hat. Ihr Freund Eric (Jan Hendrik Heinzmann, „Alina“) kommt dahinter und die Situation eskaliert, als Eric und Schubert während einer Theaterprobe nonverbal aneinandergeraten. Neben dem sexuellen Missbrauch einer Schutzbefohlenen durch ihren Lehrer werden Eifersucht, Lügen und Gefühlschaos thematisiert. Starker Tobak, emotional präsentiert.

In Episode 6 stößt Mario als neuer Mitschüler zu den Prinzenhäuslern hinzu, schickt jedoch den Ausreißer Bruno (Martin Glade, „Polizeiruf 110: Feuer!“) vor, der sich für ihn ausgibt, damit er noch ein paar freie Tage genießen kann. Das sorgt für einige amüsante Szenen und für einen denkbar misslungenen Einstand Marios gegenüber dem Internat. Starke Momente hat Lolle in dieser Folge, die betont süß wirkt. Zwischen Vera und Fritz kriselt es hingegen stark…

Deshalb trennen sie sich in der siebten Episode. Es darf davon ausgegangen werden, dass damit angedeutet werden soll, beide hätten ihre negativen Erfahrungen aus vorausgegangenen Beziehungen noch nicht verarbeitet, ihr Verhalten lässt sie aber vielmehr irritierend unreif für ihr Alter wirken. Eher altersgemäß verhält sich Karlchen, der an einem DJ-Wettbewerb in Lübeck teilnimmt und dafür Fritz‘ Auto entwendet. Er gewinnt nicht nur den Wettbewerb, sondern lernt auch noch die junge Zazie kennen, die von ihm begeistert ist. Doof nur, dass das Auto plötzlich weg ist – und die Polizei ihn am nächsten Morgen verhört, weil in der letzten Nacht jemand mit dem Auto angefahren wurde. Was nach Karma klingt, entpuppt sich als ein Handlungsstrang über Verantwortungsbewusstsein, aber auch den Drang nach Freiheit und Selbstverwirklichung abseits des Schul- und Internatsalltags. Wer will es Karlchen verdenken?

Als eine der ausgefeiltesten Folgen der ersten Staffel entpuppt sich Episode 8: Wenn Karlchen sich mit Casanova Marios Hilfe als Gigolo René per Zeitungsannonce ausgibt, um so an Treffen mit Frauen zu gelangen, Antonia jedoch davon Wind bekommt und mit Vanessa (Vijak Bayani, „Tatort: Mord hinterm Deich“) einen Plan ausheckt, um die beiden auflaufen zu lassen, hat das fast schon Spielfilmformat. Erstaunlicherweise verzichtete man auf einen erhobenen pädagogischen Zeigefinger und lässt Karlchen doch noch als Gewinner aus der prekär gewordenen Lage hervorgehen.

Noch rigoroser geht es in der neunten Episode zu: Der als Arschlochlehrer charakterisierte Dr. Blum scheint es besonders auf Lolle abgesehen zu haben, die er im Unterricht immer wieder piesackt und vorführt. Die Prinzenhäusler wollen sich an Dr. Blüm rächen. Mit Alfs Hilfe verschaffen sie sich auf der Suche nach belastendem Material Zutritt zu dessen Wohnung und finden Anhaltspunkte, dass der Pauker etwas mit dem Tod eines Schülers während einer Klassenfahrt zu tun haben könnte. Als sie ihn daraufhin öffentlich bloßstellen, erleidet er einen Herzinfarkt. Bezeichnenderweise wird er durch diese Ereignisse jedoch tatsächlich umgänglicher, man nähert sich einander an. Vera ist unterdessen in großer Sorge um eine an Brustkrebs leidende Freundin. Für eine Jugendserie ist das Thema Tod hier ungewöhnlich omnipräsent, zugleich wird ein respektvoller Umgang zwischen den Generationen angemahnt – von beiden Seiten.

Einem angenehmeren Thema widmet sich Episode 10, denn Lolle lernt Marios Cousine Carla (Türkiz Talay, „Alles getürkt!“) kennen. Beide entdecken tiefergehende Gefühle füreinander, die Lolle sich jedoch lange nicht eingestehen will. Es geht also um erste gleichgeschlechtliche Liebeserfahrungen und die damit einhergehenden Verwirrungen, sensibel und selbstbewusst unverklemmt zugleich inklusive ein wenig Erotik inszeniert.

Eine wesentlich unappetitlichere Thematik greift die elfte Episode auf, die die Schatten der NS-Vergangenheit, die über dem Internat liegen, zum Anlass nimmt, den von Totschweigen und Leugnung geprägten Umgang mit der deutschen Vergangenheit zu kritisieren. Die Schülerinnen und Schüler wollen das Schweigen durchbrechen, nachdem sie auf einen Selbstmord eines Schülers im Jahre 1942 gestoßen sind – auch wenn dies für Antonia den Bruch mit ihrem geliebten Großvater (Ferdinand Dux, „Die Piefke-Saga“) bedeutet. Eine gute, zu antifaschistischen Aktionen aufrufende Folge.

Die einen einholende Vergangenheit ist auch Bestandteil von Episode 12, in der Stefan übel mitgespielt wird: Nicht nur, dass sein krankhaft ehrgeiziger Vater ihn unter Druck setzt, ausschließlich Bestleistungen in der Schule zu bringen, nein, auch noch seine ehemalige Mitschülerin Mira aus seinem ehemaligen Gymnasium taucht unvermittelt auf. Sie findet heraus, dass Stefan sein Abgangszeugnis gefälscht hat und erpresst ihn damit. Als Stefan sich nicht mehr anders zu helfen weiß, als sich an der Klassenfahrtskasse zu bedienen, fliegt alles auf. Diese Folge empfiehlt einen nachsichtigen pädagogischen Umgang mit derartigen Vorfällen, warnt aber auch davor, dass früher oder später alle Lügen auffliegen – und vor fiesen ehemaligen Mitschülerinnen...

Die dreizehnte Episode schickt die Schülerinnen und Schüler auf eine Camping-Exkursion in Wald und Flur, um Selds langweiligen Biologieunterricht aufzulockern. Jedoch hat kaum jemand Lust darauf – außer Mario, der dem Schulleiter einen bösen Streich spielt, indem er ihn in ein Bordell lockt, wo dieser mit einem Türsteher aneinandergerät. Zu allem Überfluss vergnügt sich Mario auch noch in der Disco, statt rechtzeitig zum Camp zurückzukommen. Doch als Seld ihn dort aufspürt, gelingt es ihm, Mario gegen eine Rockerclique zu verteidigen, die ihn verprügeln will. Auf der nächtlichen Flucht durch den Wald schweißt diese Erfahrung die beiden ein gutes Stück weit zusammen – dank des nun bestehenden Vertrauensverhältnisses hat sich die Exkursion doch noch gelohnt. Es ist ein Genuss, wie diese Folge Schulklassenexkursionen und Camping-Ausflüge entromantisiert und sich auf den einen fokussiert, der bei so etwas immer aus der Reihe tanzt. Die Nebenhandlung schickt Alf auf Freiersfüße, womit erstmals deutlich wird, dass auch der Computer-Freak kein komplett asexuelles Wesen ist.

In Episode 14 steht plötzlich alles auf der Kippe: Seld entdeckt seine Gefühle für Vera und trennt sich von seiner Freundin, Fritz allerdings steht auch noch immer auf Vera – genau wie ihr Noch-Ehemann Philipp (Stephan Schwartz, „Die Rättin“), der aus heiterem Himmel auftaucht und sie mit nach Paris nehmen möchte, wo sie als Fotoreporterin arbeiten soll. Dabei sollte sie doch gerade ihren Vertrag als Lehrerin verlängern… Vera ist hin- und hergerissen, doch als Seld ihr seine Liebe gesteht, reagiert sie abweisend und hat schon fast mit ihrer Internatsanstellung abgeschlossen – wären da nicht die Prinzenhäusler, die kreative Wege finden, sie zum Bleiben zu überreden. Gleich drei Männer, die um Veras Gunst werben, dazu eine ganze Schüler(innen)schar – so viel Zuneigung dürfte einem nur selten entgegenschlagen. Da sich Seld letztlich gezwungen sieht, mit der Schülerschaft zusammenzuarbeiten und deren von großen Teilen des Kollegiums missbilligte Methoden zu unterstützen, ist am Ende ein weiterer Schritt in Richtung Entspießigung des Schulleiters getan und die Serie kann mit Vera weitergehen.

Die fünfzehnte Episode hält eine Überraschung für Mario parat: Seine ehemalige Urlaubsbekanntschaft Dana (Marny Bergerhoff, „Schicksalsspiel“) besucht ihn hochschwanger und behauptet, dass das Kind von ihm sei. Mario versucht sie zunächst loszuwerden, doch als Dana um sein Mitleid buhlt – sie habe weder Geld noch jemanden, der ihr beistünde – beginnt er, Verantwortung zu übernehmen und wächst immer mehr in die Vaterrolle hinein. Als er sogar die Schule abbrechen will, um für Dana und das Kind da sein zu können, gesteht sie ihm jedoch, dass er gar nicht der Vater ist. Trotzdem ist er bei der Geburt dabei und bietet Dana an, bei ihr zu bleiben, doch diese zieht zu ihren Eltern zurück. Fritz wiederum droht seinen Job zu verlieren, weil er beschuldigt wird, einen Schüler geschlagen zu haben. Doch auch dieser Disput löst sich schließlich in Wohlgefallen auf. Diverse Unverfrorenheiten also, die diese Folge abhandelt – umso ungläubiger reibt man sich die Augen, wie sich am Schluss alle wieder miteinander vertragen und Friede, Freude, Eierkuchen vorherrscht. Das erscheint diesmal doch arg unwahrscheinlich und macht die Handlung letztlich oberflächlicher, als sie eigentlich sein dürfte. Schade.

Vera und Seld sind mittlerweile ein Paar, versuchen in Episode 16 aber noch, ihre Beziehung geheimzuhalten. Dennoch dringt sie langsam zu allen durch, was Probleme und Missgunst mit sich bringt. Eric hingegen steht zwischen zwei Mädchen und läuft Gefahr, beide zu verlieren. Die Verkupplungsversuch Antonias und Stefans, um Eric und Vanessa einander näherzubringen, scheitern letztlich. Wieder einmal sind schwierige Beziehungskisten das vorherrschende Thema – dankenswerterweise in dieser eher desillusorischen Folge kitschfrei verarbeitet und damit näher am wirklichen Leben.

Loverboy und Vielweiberer Mario beißt sich in der siebzehnten Episode die Zähne an Donna (Gruschenka Stevens, „Voll normaaal“), Hausmeister Zierlichs Nichte, die Zähne aus: Die junge Frau ist als Journalistin für einen Artikel über das Internat vor Ort und lässt Mario eiskalt abblitzen, steigt stattdessen mit Fritz ins Bett. So etwas hat Mario noch nicht erlebt – und verknallt sich gerade deshalb bis über beide Ohren in sie. Erstmals in seinem Leben muss er sich mit Liebeskummer auseinandersetzen. Doch auch für Donna bleibt der Internatsbesuch nicht folgenlos: Ihr eigentlicher Freund Wolfgang erwischt sie mit Fritz und macht daraufhin mit ihr Schluss. Alle anderen interessieren sich jedoch mehr für die Sonnenwendfeier, die dieses Jahr ausfallen soll, von den Prinzenhäuslern mit Veras Hilfe, die sich damit über offizielle Anweisungen hinwegsetzt, aber kurzerhand privat arrangiert wird. Der propagierte zivile Ungehorsam weiß zu gefallen, ansonsten ist diese Folge aber zu seifig ausgefallen. Wie schnell hier von Liebe gesprochen wird, ist auch nicht mehr mit der Jugendlichkeit der Protagonistinnen und Protagonisten zu erklären. Dennoch schön, dass Mario endlich einmal nicht mit seiner Masche durchkommt – diese Erfahrung trägt zur Charakterbildung bei.

Der Staffelabschluss in Episode 18 bereitet auf den Abschied einer vertrauten Figur vor: Seld hat sich um eine Dozentenstelle an der Universität Hamburg beworben, jedoch ohne sich wirklich Chancen auszumalen. Vera ist alles andere als begeistert, und sie soll mit ihren Befürchtungen Recht behalten: Seld bekommt eine Zusage und wird die Stelle antreten. Der konservative Dr. Blüm ist bereit, Selds Nachfolge anzutreten, doch Stiftungsratsvorsitzende Gloria von Ahlefeld tritt an Vera heran und bietet ihr die Schulleitung an. Somit konkurrieren Vera und Dr. Blüm um den Posten. Sekretärin Ehrchen hingegen freut sich auf die Sommerferien, hat sie doch eine Reise nach Florida gewonnen. Hausmeister Zierlich bietet sich gern als Reisebegleiter an… Offene Enden zum Schuljahresschluss und Staffelfinale also, die durchaus neugierig auf die zweite Staffel machen. Schade nur, dass diesmal die Prinzenhäusler zu kurz kommen, indem sie kaum eine Rolle spielen. Das hätte man eleganter lösen können.

Unterm Strich hat sich diese erste Staffel manch Drehbucheskapade und fragwürdiger Leistung des einen oder anderen Nachwuchstalents zum Trotz aber ganz gut geschlagen, indem sie mit nicht immer sympathischen, aber stets interessanten Figuren vertraut gemacht, das oft pittoreske schleswig-holstein‘sche Ambiente gut einzufangen wusste und den einen oder anderen Höhepunkt zu bieten hat, der Lust auf mehr macht – sofern man mit dieser Mischung aus Coming-of-age, Drama, Seifenoper und Komik klarkommt. Für Montagabende vor der Glotze war das 1997/’98 aber sicher nicht die schlechteste Wahl.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Der unaufhaltsame Aufstieg von Amazon

„Amazon ist die Firma, der die Kunden in aller Welt am meisten vertrauen.“

Der britische Dokumentarfilmer David Carr-Brown nimmt in seinem Dokumentarfilm „Der unaufhaltsame Aufstieg von Amazon“ aus dem Jahre 2018, einer deutsch-französisch-niederländischen Koproduktion fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen, rund 90 Minuten lang den Amazon-Konzern ins Visier: Jeff Bezos Unternehmen hat einen schwindelerregenden Börsenwert von einer Billion US-Dollar erreicht und ist im Bereich digitaler Wirtschaft marktbeherrschend. Bezos gilt als reichster Mann der Welt, Amazon als der weltweit größte Online-Händler – wobei der Versandhandel nur eines von mehreren Standbeinen des immer weiter expandierenden Unternehmens ist. Seinen Kundinnen und Kunden gilt Amazon als überaus serviceorientiert, doch Amazon ist längst auch zu einer riesigen Datenkrake geworden, die so viele Informationen wie möglich über ihre Kundinnen und Kunden sammelt. Und während Wettbewerbshüter die Macht Amazons einzudämmen versuchen und die Kritik am Erfolgsmodell Amazon mit seiner Ausnutzung von Steuerschlupflöchern und gesellschaftlicher Ausbeutung nicht verstummt, ist Amazon längst zum global Player im Cloud-Speicher- und Hosting-Segment – den Handelsstraßen digitaler Güter – avanciert und entwickelt sein Chef Bezos Raumfahrtpläne. Carr-Brown versucht sich an einer kritischen Bestandsaufnahme.

„Amazon drängt dem Einzelhandel, dem Versandgeschäft und der Arbeitswelt seine Regeln auf, verändert unsere Gesellschaft von Grund auf – und das völlig unkontrolliert.“

Der Filmemacher begleitet zunächst den unterbezahlten „Amazon Flex“-Paketboten Jamal, der mit seinem Privatwagen Amazon-Sendungen ausliefert. Je mehr solcher „Jobs“ er bekommt, desto mehr verdient er. Vermittelt werden ihm die Aufträge über eine Smartphone-App, die er im Sekundentakt aktualisiert, um sich gegen die Konkurrenz, die virtuell mit ihm um die Aufträge buhlt, durchzusetzen. Ein Sprecher aus dem Off kommentiert die Bilder, die einen ersten Eindruck von den prekären Arbeitsbedingungen vermitteln. Auszüge aus Reden des Amazon-Gründers gehen über in eine kritische Berichterstattung zur Vormachtstellung Amazons. Carr-Brown rollt die Unternehmenshistorie von Grund auf, von den Anfängen als kleiner Garagen-Buchhandel, auf, und lässt (ehemalige) Weggefährt(inn)en, Kritiker(innen) und Wirtschaftsanalyst(inn)en sowie diverse weitere Expert(inn)en zu Wort kommen.

„Amazons Motor ist ständiges Wachstum, ein Ende ist nicht vorgesehen.“

Als Ende der 1990er Investoren Amazon zum Milliardenunternehmen machten, verfolgte Bezos konsequent seine Strategie des sofortigen Reinvestments von Profiten, was zu einem der Stützpfeiler der Unternehmensphilosophie wurde und half, Amazon aggressiv am Markt zu behaupten. Amazon hat laut diesem Film die Geldzirkulation gestoppt bzw. durchbrochen. Die Monopolbestrebungen Amazons werden genannt und skizziert, wie die Globalisierung Amazon zugutekam. Carr-Brown übt Kritik am Neoliberalismus, wofür er u.a. auf alte Aufnahmen aus dem Vereinigten Königreich und von dessen ehemaligem Premierminister John Major zurückgreift, zeigt Amazons moderne Lohnsklaverei auf, übt Kritik an den Arbeitsbedingungen, lässt Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ihnen berichten und stellt Vergleiche zum Film „Die Faust im Nacken“ sowie, etwas unglücklich, mit dem „Rattenfänger von Hameln“ an. Doch auf positive Stimmen zum „Amazon Flex“-Konzept werden berücksichtigt. Internet-Pioniere, mit alten Aufnahmen von Mitte der 1980er eingeführt, erzählen von den Utopien und dem Idealismus der Internet-Anfangszeit, schlagen aber heute die Hände überm Kopf darüber zusammen, was aus dem Netz geworden ist.

„Amazon schafft keinen Reichtum, Amazon nimmt ihn weg!“

In einem Exkurs porträtiert Carr-Brown die marktradikalen Libertären und stellt die Herausgeberin der libertären US-Monatszeitschrift „Reason“, Katherine Mangu-Ward, vor, die unfassbar naiv und einseitig ihren Helden Jeff Bezos in den höchsten Tönen lobt. Amazon ist ihr Lieblingshändler, u.a. weil es ihm gelungen sei, den Kundinnen und Kunden zu einer Macht zu verhelfen, die zuvor Hersteller(innen) und Einzelhändler(innen) innegehabt hätten – was extrem kurzgedacht ist. Ein Amazon-Marketplace-Händler kommt zu Wort und liefert schöne Einblicke in die Arbeit eines Händlers antiquarischer Bücher, auch ein Matratzenhersteller äußert sich positiv. Das „Amazon Prime“-Modell wird erklärt und Amazons Web-Services werden genannt. Wie sich ganze Städte auf Amazon-Ausschreibungen hin bewerben, stimmt jedoch nachdenklich, insbesondere, wenn man im Anschluss auf die parasitäre Vorgehensweise des Konzerns durch das Ausnutzen von Steuerschlupflöchern gestoßen wird. Medienexperte Douglas Rushkoff scheut dabei auch keine Vergleiche mit dem Kolonialismus vergangener Zeiten.

Carr-Brown stellt darüber hinaus die Unterschiede zwischen den USA und Europa heraus und kritisiert schließlich den Thatcherismus des Vereinigten Königreichs mit seinen fatalen Folgen, schweift damit aber relativ weit ab. Erst gegen Ende geht der Film auf weitere aktuelle Konzernfelder ein und skizziert Amazons Raumfahrtpläne. Dabei wird es dem Phänomen Amazon eigentlich längst nicht mehr gerecht, sich in der Auseinandersetzung mit ihm so sehr auf den Versandhandel physikalischer Produkte zu versteifen – andererseits ist dies vermutlich der einfachste und niedrigstschwellige Einstieg in die Thematik, auch für die Zuschauerinnen und Zuschauer. Unterm Strich will der mit vielen alten Interviewausschnitten Jeff Bezos untermauerte „Der unaufhaltsame Aufstieg von Amazon“ ganz schön viel auf einmal, genau genommen etwas zu viel, denn besonders in der zweiten Hälfte scheint Carr-Brown sich bisweilen zu verzetteln und sein Film den roten Faden zu verlieren. Exkurse zum Thatcherismus und zu den US-Libertären sind gewiss nicht uninteressant, doch das marktextremistische Gequatsche ist schnell enervierend und unerträglich. Auf den Kampf mit der deutschen Gewerkschaft Verdi um einen Tarifvertrag hingegen geht Carr-Brown leider mit keiner Silbe ein. Und dass ausgerechnet die chinesische Konkurrenz Amazon das Wasser abgraben will, stimmt nun wahrlich nicht sondern hoffnungsvoll.

Hängen bleibt: Mit seiner aggressiven Wachstumsstrategie ist es Amazon gelungen, sich im Wettbewerb durchzusetzen und sich zum marktbestimmenden Oligopolisten mit Monopolbestrebungen zu entwickeln. Bezos hat ein Monster geschaffen, das nach und nach alle zu verschlingen und der Welt seine Spielregeln aufzuzwingen versucht. Dabei folgt Bezos bzw. sein Konzern im Prinzip schlicht den Regeln des Kapitalismus, dessen Versagen in Hinblick aufs Allgemeinwohl er zugleich aufzeigt: Ein funktionierendes Gesellschafts- und Wirtschaftssystem dürfte eine derartige Entwicklung, im Zuge derer nicht mehr die Allgemeinheit von Unternehmensgewinnen durch Bruttosozialproduktsteigerungen und Steuerzahlungen mitprofitiert, sondern durch unlauteren Wettbewerb, Steuervermeidungsstrategien und Ausbeutung unterer Angestellter bzw. Subunternehmer/Dienstleister Gewinne privatisiert, die negativen Folgen dieser Entwicklung aber vergesellschaftlicht werden und somit von allen zu tragen sind bzw. sein werden, nie zulassen. Diese Quintessenz hätte gern deutlicher hervorgehoben werden können.
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Das Geheimnis des gelben Grabes

Gelbe Gräber und rote Pumps

„Kennen sie das, wenn Sie sich hoffnungslos in eine Sache verrannt haben?“

Die italienisch-deutsch-jugoslawische Koproduktion „Das Geheimnis des gelben Grabes“ von Italo-Regisseur Armando Crispino („Autopsie - Hospital der lebenden Leichen“) war 1972 einer der letzten Ausläufer der Edgar-Wallace-Reihe bzw. wurde der Film zu einem gemacht: Weder Edgar, noch Bryan Edgar haben etwas mit dem Film zu tun, vielmehr handelt es sich schlicht einmal mehr um einen Giallo.

US-Archäologe Jason Porter (Alex Cord, „Mehr tot als lebendig“) erforscht in Spoleto (in der italienischen Region Umbrien) etruskische Grabstätten und findet dabei eine Wandmalerei, die den etruskischen Dämon Tuchulcha beim Töten eines Liebespaars zeigt. Untergekommen ist Porter beim Dirigenten Nikos Samarakis (John Marley, „Der Pate“), pikanterweise der neue Geliebte seiner Ex-Freundin Myra Shelton (Samantha Eggar, „Das Licht am Ende der Welt“), über die er nie hinweggekommen ist. Als nahe der Grabkammer tatsächlich ein Liebespaar brutal mit einer von Porters Forschungssonden getötet wird, ruft dies die Polizei um Inspektor Giuranna (Enzo Tarascio, „Vier Fäuste für ein Halleluja“) auf den Plan: Hat Choreograph Stephen (Horst Frank, „Django und die Bande der Gehenkten“) etwas mit der entsetzlichen Tat zu tun? Das nächste Opfer lässt nicht lang auf sich warten: Samarakis‘ Sohn Igor (Carlo De Mejo, „Der Pfaffenspiegel“) kommt noch einmal mit dem Leben davon, doch seine Freundin segnet das Zeitliche. Und wieder sieht es verdächtig nach einem Ritualmord aus, denn erneut hat der Mörder ein Paar roter Damenschuhe am Tatort drapiert. Hat der jähzornige Alkoholiker Porter die Morde begangen, um seine Wut auf Myra und Nikos zu kanalisieren? Oder greift gar ein dämonischer etruskischer Fluch um sich…?

In malerische Landschaftsaufnahmen und zu einem ohrenschmeichelnden Soundtrack Riz Ortolanis taucht Crispino mit „Das Geheimnis des gelben Grabes“ eine Allegorie auf das triebgesteuerte Leben der Etrusker, von dem Porter aus dem Off zu berichten weiß und dessen Reproduktion Porter und Konsorten zum Verhängnis zu werden scheint. Sex und Gewalt – willkommen in einem Who- und Whydunit?-Giallo voller Kulturkunde, Verfolgungsjagden im VW Käfer und Versteckspielen, der besiedelt ist von Cholerikern, Verhaltensgestörten, Femmes falates, Sexisten, Verschwörungstheoretikern und Psychopathen (sowie einem tuntigen und damit völlig gegen den Strich besetzten Horst Frank), die Schnauzbärte tragen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit J&B verköstigen und Nikotin inhalieren, um gestelzte, gekünstelte Dialoge abzusondern.

Crispinos Film wirkt lange wie eine Verkettung bizarrer Einzelszenen, in denen oben beschriebene unsympathische Klientel sich gegenseitig das Leben schwer macht und gegenüber der Polizei ihre Unschuld zu beweisen versucht. Kamerachef Erico Menczer verleiht dem wirren Treiben Stil und Ästhetik, arbeitet mit Point-of-View-Perspektiven und beweist ein Auge sowohl für Panoramen als auch Details. Kombiniert wird seine Arbeit mit Zeitlupen und Einzelbildsuggestionen, die Narration strukturell aufgebrochen mittels Rückblenden und das Ensemble durchaus überraschend dezimiert oder auch erweitert; und was sich da auf der Leinwand so tut, ist oftmals herrlich neben der Spur oder auch komplett drüber, allein rechten Sinn will all das nicht ergeben. Statt Mitzurätseln sollte man sich genüsslich zurücklehnen und den Irrsinn auf sich wirken lassen, denn versucht man gar nicht erst, der Handlung zu folgen und ihre Auflösung vollumfänglich intellektuell zu erfassen (der Dämonenfluch erscheint mir noch immer am wahrscheinlichsten – ganz gleich, was das Skript möglicherweise anderes verlautbart), bieten sich einem ein delirierender Einblick in die Etruskologie und eine sehr anschauliche Warnung vor den Folgen übermäßigen J&B-Konsums – die Fortsetzung „Das Geheimnis der gelben Haut“ wurde jedoch nie realisiert…
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Auf der Reeperbahn nachts um halb eins

„Cowboystiefel trägt jeder zweite Halbstarke...“

Die gleichnamige Neuinterpretation des St.-Pauli-Film-Klassikers „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ aus dem Jahre 1954 als durch den österreichischen Autor und Regisseur Rolf Olsen modernisiertes Milieukriminaldrama wurde, nachdem dieser bereits mit „In Frankfurt sind die Nächte heiß“ Milieufilmerfahrung gesammelt hatte, im Jahre 1969 Olsens dritter St.-Pauli-Film und sein zweiter des dadurch zur Filmreihe anwachsenden Kanons um Curd Jürgens in unterschiedlichen Hauptrollen auf Hamburgs sündiger Meile. Ausschlaggebend war der Erfolg des vorausgegangenen „Der Arzt von St. Pauli“.

„Das Leben ist beschissen.“

Hannes Teversen (Curd Jürgens, „Spione am Werk“), ein ehemaliger Seemann und Reederei-Mitinhaber, saß acht Jahre lang unschuldig hinter Gitter. Angeblich hatte er die Frau seines Geschäftspartner Lauritz (Fritz Tillmann, „In Frankfurt sind die Nächte heiß“) im Alkoholrausch totgeschlagen. Aus der Haft entlassen steht er vor dem Nichts: kein Job und keine Bleibe. Glücklicherweise kommt er bei seinem alten Freund Pitter (Heinz Reincke, „Wenn es Nacht wird auf der Reeperbahn“) und dessen Schwester Martha (Heidi Kabel, „Otto und die nackte Welle“) unter. Diese betreiben zusammen das Hippodrom, werden jedoch von Schutzgelderpressern bedroht. Überhaupt hat sich einiges auf dem Kiez verändert, wie Hannes feststellen muss: Banden treiben ihr Unwesen, Kriminalität grassiert, Einbrüche und Raubüberfälle sind an der Tagesordnung. Auch der junge Bäcker Karl (Klaus Hagen Latwesen, „Todesschüsse am Broadway“), liiert mit Pitters Stieftochter Antje (Jutta D’Arcy, „Leitfaden für Seitensprünge“), rutscht ins kriminelle Milieu ab. Hannes ist nicht bereit, diejenigen, die ihn einst in den Knast brachten, ungeschoren davonkommen zu lassen – und will außerdem Pitter helfen, sich gegen die Schutzgelderpresser zu verteidigen. Derweil verliebt sich Antje in Hannes und lässt sich von ihm zu einer Helgoland-Reise einladen Doch nach einer feuchtfröhlichen Kieztour schenkt Pitter Hannes reinen Wein ein: Antje ist Hannes‘ Tochter! Und auch die Ganoven und Mörder sind nicht untätig, haben Hannes längst wieder auf dem Kieker. Wird sich der gestandene Seemann noch einmal auf St. Pauli behaupten können?

„Was willst du?“ – „Erst mal 'nen Schnaps!“

Olsen lässt „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ bereits im Prolog mit Einbruch und Totschlag beginnen und gibt damit die Marschrichtung vor: Skrupellosigkeit beherrscht St. Pauli. Wer sich ihr nicht anpasst, wird durch sie umkommen. Das alte, ehrbare Seefahrermilieu wiederum verkörpert Hannes Teversen, mit der gewohnten und doch immer wieder so einnehmenden Inbrunst von Lebemann Curd Jürgens verkörpert. Olsen versucht sich an einer Mischung aus Kiezfolklore und krimigerechtem Spannungsaufbau, was ihm – für einen Ösi – einmal mehr erstaunlich gut gelingt. Neben Jürgens hat vor allem Heinz Reincke großen Anteil daran, verkörpert er doch wie kaum ein Zweiter den zugleich herzlichen und ruppigen Hamburger. Zu den stärksten Szenen zählt folgerichtig deren gemeinsamer Sturz ins Nachtleben inklusive ausgiebiger Gesangseinlagen und sogar einem Trompetensolo Jürgens‘. Ein paar Abstriche muss man jedoch im Dramaturgischen machen, denn ganz so spannend und unvorhersehbar, wie der Krimianteil hätte sein können, ist er nun wirklich nicht. Dafür erwartet einen zum Ende aber ein ordentlicher Showdown mit Keile, Schießereien und Explosionen.

„Ich bin fast mehr als doppelt so alt wie Antje!“

Jutta D’Arcy gibt überzeugend eine zuckersüße Antje und ist der Hingucker des bis auf eine kurze Nacktbadeszene am Elbstrand relativ züchtig inszenierten Films mit seinem bisweilen etwas holprigen Schnitt. Die authentischen Kiezkulissen stehen natürlich für sich selbst, die Hafenstraßen-Punkrock-Kneipe „Onkel Otto“ war noch das „Onkel Max“, die großen Glaspaläste von heute waren noch längst nicht errichtet und – na klar: das Anfang der 1970er geschlossene Hippodrom existierte noch. Einen Film wie diesen ohne ein gehöriges Maß an Nostalgie zu betrachten, ist insbesondere für Norddeutsche nur schwer möglich. Am besten, man versucht’s gar nicht erst, sondern lässt Jürgens und Reincke unter Olsens Regie über den Kiez tanzen und stößt symbolisch mit ihnen an. Dass Olsen hier letztlich auch nur einen touristischen Blick aufsetzt und uns eine Räuberpistole auftischt, gerät da zur Nebensache.
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Little Lips - Der zärtliche Tod

Fischen im Trüben

„Dieser verfluchte Krieg.“

Der Italiener Mimmo Cattarinich war ein renommierter Szenenfotograf an zahlreichen Spielfilmsets namhafter Regisseure. Im Jahre 1978 trat er erst- und letztmals als Regisseur in Erscheinung: Das italienisch-spanisch koproduzierte Lolita-Drama „Little Lips - Der zärtliche Tod“ blieb sein einziger Spielfilm.

Der Schriftsteller Paul (Pierre Clémenti, „Belle de jour - Schöne des Tages“) hat den Ersten Weltkrieg überlebt, ist jedoch schwer traumatisiert, depressiv und selbstmordgefährdet. Zurück in seiner österreichischen Heimat im Haus seiner Familie lernt er in der Waise Eva (Katya Berger, „Absurd“, in ihrer ersten Rolle) die zwölfjährige Nichte seines Angestellten kennen. Durch sie fasst er neuen Lebensmut und beginnt wieder zu schreiben, entwickelt jedoch auch bald eine ungesunde, sexuell konnotierte Obsession für das Mädchen…

„Du bist ein Mann und ich bin eine Frau!“

Paul führt als Voice-over-Sprecher durch den Film, für dessen Optik exzessiv vom Weichzeichner Gebrauch gemacht wurde – dies schien eine Marotte damaliger Erotik-Regisseure zu sein. Zu einer schwelgerisch-melancholischen musikalischen Untermalung Stelvio Ciprianis visualisiert Cattarinich Pauls Flucht in eine Fantasiewelt: Seine Träume von Mädchen in aufreizenden Posen, Erinnerungen an Sex mit seiner ehemaligen Freundin, deren Fotos er sehnsuchtsvoll betrachtet, Tagträume, in denen sich ihm die splitternackte Eva auf eine Weise hingibt, wie es geschlechtsreife Mädchen und Frauen gegenüber ihren Sexualpartner(inne)n tun.

„Ich habe jegliches Interesse an weltlichen Dingen verloren.“

In der filmischen Realität entdeckt Eva gerade erst die Welt der Sexualität. Sie beobachtet ihre Adoptiveltern beim Sex, schminkt sich und betastet ihre sich gerade ausbildenden Brüste. Und sie lernt einen jungen Gaukler (Michele Soavi, „Ein Zombie hing am Glockenseil“) kennen, mit dem sie erste körperlichen Erfahrungen sammelt, was Paul erneut in eine tiefe Krise stürzt – die er nicht überleben wird. Cattarinich zoomt auf Evas nackte Füße, fängt sie nur spärlich bekleidet am Fluss sitzend ein und zeigt Paul, wie dieser sie beim Schaukeln fotografiert. Expliziter wird er bei der Verbildlichung dessen, was sich in Pauls Gedanken abspielt, und zoomt der zum Drehzeitpunkt gerade 14-jährigen Katya Berger auch schon mal zwischen die Beine. Die Fassung, die ich sah, ist um einige Minuten gekürzt, mutmaßlich präsentiert sich die vollständige Fassung noch um einiges ungehemmter. Darüber hinaus setzt Cattarinich idyllische Bilder grüner Natur in Kontrast zu Rückblenden in Pauls Kriegsmanöver und seine aus ihnen resultierende Kriegsverletzung, aufgrund derer er offenbar impotent geworden ist.

„Little Lips - Der zärtliche Tod“ erinnert an eine Mischung aus Vladimir Nabokovs „Lolita“ bzw. dessen Verfilmung, Louis Malles fragwürdiger Inszenierung einer ebenfalls blutjungen Brooke Shields in „Pretty Baby“ und der Filmästhetik eines David Hamilton („Bilitis“). Letztere wird mit diesen verwaschenen Bildern jedoch nie erreicht und um wirklich in einem Atemzug mit „Lolita“ genannt zu werden, mangelt es „Little Lips“ an inhaltlicher Differenziertheit und kritischer Distanz zum Gezeigten. Mit oft wackliger Kamera und einer – der kurzen Spielzeit zum Trotz – unheimlich langatmigen, betulich schleppenden Dramaturgie (wenn man es überhaupt so bezeichnen kann) versucht sich Cattarinich an so etwas wie einer Gegenüberstellung eines verkorksten Lebens mit einem jungen, unschuldigen, gerade erst aufblühenden, an dem Paul erfolglos teilzuhaben versucht – wohl in der Hoffnung, erlittenes Leid dadurch lindern oder gar vergessen machen zu können. Und an seiner Potenz messen würde Eva ihn auch nicht können, da sie noch keinen Sex hat und sich seiner lediglich in seiner Vorstellungskraft abspielt.

Diese These zur Herausbildung pädophiler Neigungen wird zudem nicht mit gebotener grafischer Zurückhaltung und emotionaler Sensibilität umgesetzt, sondern mittels der Stilistik des Exploitation-Kinos. Und so unterhaltsam diese in anderen Zusammenhängen auch oftmals sein mag, hier ist sie unangebracht. Am schwersten wiegt der Umstand, dass Katya Berger weder eine vielleicht noch kindlich aussehende oder mittels Make-up und Kostüm entsprechend herzurichtende junge Erwachsene noch eine 14-Jährige, die ohne Weiteres bereits als 17- oder 18-Jährige durchgehen würde, war. Nein, „Little Lips“ betont immer wieder ihre kindliche Seite bei beginnender Geschlechtsreife und lässt nicht nur nie einen Zweifel daran, dass es sich bei ihr um ein Kind handelt, sondern stellt Pauls Voyeurismen und Missbrauchsphantasien auch derart schamlos vor der Kamera nach, dass der Film wie auf ein ähnliche Neigungen wie der Protagonist aufweisendes Publikum ausgerichtet erscheint. Und das macht ihn problematisch.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Doppelspiel

„Du denkst auch nur ans Saufen, Schimanski!“

Mit der Episode „Doppelspiel“ konnte die Duisburger „Tatort“-Reihe um die Kommissare Horst Schimanski (Götz George) und Christian Thanner (Eberhard Feik) ein kleines Jubiläum feiern: Der im Frühjahr 1984 gedrehte und ein knappes Jahr später erstausgestrahlte Fall war ihr zehnter. Die Regie ließ sich Schimanski-Miterfinder Hajo Gies abermals nicht nehmen, das Drehbuch stammte diesmal von Christoph Fromm.

„Wir sind Soldaten der Liebe.“

Jutta Stark wird tot vor ihrem Wohnblock aufgefunden. Die psychisch kranke Frau hatte sich anscheinend in selbstmörderischer Absicht heruntergestürzt, nachdem ihr Mann (Wolf-Dietrich Sprenger, „Kiez – Aufstieg und Fall eines Luden“) sie aus dem Krankenhaus geholt hatte, in dem sie sich nach einem Zusammenbruch hatte behandeln lassen. Zum Zeitpunkt ihres Todes habe Herr Stark einen Termin mit Paul Gassmann (Franz Buchrieser, „Heller Wahn“), einem Sektenguru der „Kirche der Gemeinschaft“, gehabt, die u.a. damit wirbt, Drogensüchtige heilen zu können. Es stellt sich heraus, dass die Starks Angehörige der Sekte waren bzw. sind. Jutta hatte dort ihre Kokainabhängigkeit behandeln lassen, sei jedoch tablettensüchtig geworden. Die Duisburger Kripo schaut sich die radikal antikommunistische Sekte genauer an und befragt Gassmann, der Herrn Starks Alibi nicht bestätigt. Es stellt sich heraus, dass Stark seine Frau zusammen mit der Therapeutin Ann Silenski (Angelika Bartsch, „Eisenhans“), ebenfalls Mitglied der Sekte, gegen den ausdrücklichen Rat des behandelnden Arztes aus dem Krankenhaus geholt hatte. Als die Spurensicherung feststellt, dass Jutta Stark gar nicht selbst gesprungen sein kann, erhärtet sich der Verdacht, es hier mit einem Mordfall zu tun zu haben, bei dem die Sekte eine Rolle spielt…

„Satan hat sie wieder süchtig gemacht…“

Die Sekte präsentiert sich als ebenso „spirituelle“ wie wehrhafte „Religionsgemeinschaft“, trainieren ihre Mitglieder doch fleißig Kampfsport. Ansonsten wirken sie sediert, wie in Trance, beinahe roboterhaft. Ihr wahres Ziel scheint sehr weltlichen Charakters zu sein, mutmaßlich die Unterstützung des bewaffneten Kampfs gegen Nordkorea. Dahinter steckt mindestens ein finanzstarkes Unternehmen, und die politische Ausrichtung dürfte, so mutmaßt man bei der Kripo, der Grund dafür sein, weshalb die Sekte Anerkennung und Unterstützung durch Staaten wie die BRD bekommt. Ihre hirngewaschenen gefügigen Mitglieder hat sie jedenfalls bestens im Griff: Nach seiner Verhaftung stürzt sich Herr Stark spektakulär aus einem Fenster durch ein Glasvordach und flieht verletzt per Kfz, woraus eine schöne Verfolgungsjagd entbrennt – was den Reigen der Actionszenen dieses „Tatorts“ eröffnet.

„Sie sollten mal so richtig auf die Schnauze fallen!“

Schimmi ermittelt tanzend in der Disco „Black Jack“, die ebenfalls mit der Disco verbandelt ist, Thanner und Hänschen (Chiem van Houweninge) durchwühlen derweil Silenskis Praxis und finden eine weitere Spur, die zum Schiff „Linda Horn“ führt. Und während Silenski an der Sekte zu zweifeln beginnt, als sie erkennt, wie sehr sie in Drogenhandel und Waffengeschäfte verstrickt ist, liefern sich Andere tödliche Schießereien mit der Polizei, woraufhin die Kommissare zu Königsberg (Ulrich Matschoss) zum Rapport müssen. Damit ist natürlich nicht Schluss, Schimmi hechtet in den Kofferraum eines fahrenden Busses, eine weitere Schießerei sorgt für akute Lebensgefahr auf allen Seiten und ein inszenatorisch starkes Ende, das die Schizophrenie und Verlogenheit der Sekte noch einmal versinnbildlicht, bringt zumindest diesen Fall zu einem Ende – nachdem Schimanskis Berufsauffassung manch Spießbürger einmal mehr Schnappatmung beschert haben dürfte.

Realer Hintergrund dieser fiktionalen Handlung dürfte die Moon-Sekte, die sich selbst „Vereinigungskirche“ nennt, gewesen sein, die noch immer ihr Unwesen treibt und beschämenderweise tatsächlich (nicht nur) in der BRD als Religionsgemeinschaft anerkannt wurde und dementsprechende Freiheiten genießt. Ob sie, wie natürlich etwas überzeichnet in diesem „Tatort“ dargestellt, ihre Mitglieder erst drogenabhängig macht und sie dann zu heilen vorgibt, um sie zu einer willenlosen Herde zu formen, weiß ich nicht. Die Moon-Sekte jedenfalls ist „exemplarisch für die Instrumentalisierung der Religion für die Durchsetzung politischer Ziele“, wie die baden-württembergische Landesregierung einst zu Protokoll gab.

Die vielen miteinander verwobenen Ereignisse und Personalien dieses „Tatorts“ hätten durchaus einem Mehrteiler zur Ehre gereicht. Relativ konzentriert am Ball zu bleiben erweist sich als sinnvoll, die gelungenen Actionszenen lockern die Komplexität des Falls aber ebenso auf wie die verspielte Kamera des späteren „Stalingrad“-Regisseurs Joseph Vilsmaier, die in Kombination mit David Knopflers Rocksongs „Double Dealing“ und „Heart to Heart“ diesen „Tatort“ auch zu einem audiovisuellen Erlebnis macht (wenn nicht gerade der bisweilen etwas arg verhallte Dialogton dominiert, da wäre etwas Nachjustierung wünschenswert gewesen). Für diese offene Auseinandersetzung mit miesen Sekten und den Gefahren, die von ihnen ausgehen, vergebe ich 7,5 von 10 Ohrfeigen an New-Age-Spinner(innen), Esoterik-Schwubler(innen) und andere weltfremde Naivlinge, zeige Sektengründer Sun Myung Moon und all seinen Kolleginnen und Kollegen den Stinkefinger und sende beste Grüße nach Duisburg.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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