Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Verfasst: Do 9. Jul 2020, 10:18
Jack The Ripper – Der Dirnenmörder von London
„Auf diese Weise sind Sie Ihren Patienten keine Hilfe!“
Mit dem Schweizer Produzenten Erwin C. Dietrich und dem umtriebigen spanischen Genre-/Sexploitation-/Trash-Vielfilmer Jess Franco („Paroxismus“) hatten sich zwei gesucht und gefunden. Das Ergebnis ihrer mehrjährigen Kooperation umfasst jedoch nicht ausschließlich fragwürdige Sexfilmchen, sondern im Jahre 1976 mit „Jack the Ripper – Der Dirnenmörder von London“ auch eine Verfilmung des klassischen, historischen Stoffs um den nie gefassten Prostituiertenmörder, der im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts sein Unwesen trieb. Dietrich stellte sein bis dahin höchstes Budget zur Verfügung, ließ Francos Drehbuch von Jean-Claude Carrière überarbeiten – und Franco ließ dem Enfant terrible Klaus Kinski („Leichen pflastern seinen Weg“), Hauptdarsteller und Star des Films, weitestgehend freie Hand, der es ihm Überlieferungen zufolge mit Allürenfreiheit und Motivation dankte.
„Sie sind ja völlig verändert!“
Der angesehene Arzt Dr. Orloff (Klaus Kinski) gibt tagsüber den wohltätigen Samariter, der für ein karges Salär die angehörigen der Unterschicht behandelt, verfügt jedoch über ein dunkles Geheimnis: Er ist der vom Volksmund „Jack The Ripper“ getaufte psychopathische Triebtäter, der es nachts auf Prostituierte abgesehen hat und diese bestialisch ermordet. Nach einigen Morden melden sich bei Inspektor Selby (Andreas Mannkopff, „Das Amulett des Todes“) zwar Zeugen, die eine recht genaue Beschreibung des Täters abliefern, doch die Polizei tappt weiterhin im Dunkeln. Da fasst Selbys Freundin Cynthia (Josephine Chaplin, „Pasolinis tolldreiste Geschichten“) den Entschluss, sich als Prostituierte auszugeben und als Lockvogel zur Verfügung zu stellen. Ein gefährliches Unterfangen…
„Warum haben Sie Angst vor Frauen, mein Freund?“
In dieser freien Adaption des Stoffs wird kein großes Verwirrspiel um die währe Identität Jack The Rippers betrieben. In den durchaus gelungen auf nebelverhangenes viktorianisches London getrimmten Züricher Stadtkulissen versuchen sich Franco und Co. an einer psychologischen Deutung der Taten: Dr. Orloff hat ein Kindheitstrauma erlitten, das ihn noch immer verfolgt und ihn zu seinen misogynen Taten antreibt. Dieses Trauma resultiert aus dem Umstand, dass seine Mutter eine Hure war. Eine interessante Variation des Themas, die einhergeht mit schauriger Atmosphäre, gewitzten Dialogen, entblößten Oberweiten (eine dürre Dirne entblättert sich auch ganz), einer von Kameramann Peter Baumgartner hübsch in Szene gesetzten ordentlichen Ausstattung sowie Gesangs- und Tanzeinlagen Lina Romays („Rolls-Royce Baby“). Diese lacht sich Dr. Orloff an, woraufhin er ihr die Kleidung vom Körper reißt, auf sie einsticht und sie küsst und vergewaltigt, während das Leben langsam ihren Körper verlässt. Und es kommt noch schlimmer: Er zerlegt sie bei lebendigem Leibe – ein Höhepunkt der sleazigen Gewalt dieses Films, der ausgezeichnet ausgeleuchtet wurde, nichtsdestotrotz verstört, aber in artifiziell anmutenden Bildern kulminiert.
Weitere Schauwerte sind die opulente Sukkulentensammlung Friedas (Nikola Weisse, „Der Gehülfe“) sowie die unappetitliche Szene in der Arztpraxis, als Orloff dem obdachlosen Charlie (Herbert Fux, „Hexen bis aufs Blut gequält“) ein eitriges Geschwür regelrecht vom Bein reißt. Köstlich, wie eben jener Charlie als selbstbewusster Obdachloser den Hilfssheriff verbal zurechtstutzt, wenngleich diese Szene ebenso wie die Zeuginnenbefragung, die Phantombildanfertigung und die verdeckte Ermittlerin an Francos Frühwerk „Der schreckliche Dr. Orloff“ erinnert. Charlie wird auch im weiteren Verlauf eine nicht unbedeutende Rolle spielen, ebenso der blinde John Bridger (Hans Gaugler, „Es geschah am hellichten Tag“), der über einen besonders ausgeprägten Geruchssinn verfügt und sich sehr gewählt auszudrücken versteht. Tolle Rollenbilder wie diese tragen zum hohen Unterhaltsfaktor dieses Films auch während der Ermittlungsarbeit – eine Pflanze bringt Scotland Yard schließlich auf Orloffs Spur – bei, sodass der Verzicht aufs klassische Whodunit? zu keinem dramaturgischen Problem avanciert. Die Besetzung ist in Teilen durchaus namhaft, Kinski ist natürlich für seine Rolle prädestiniert. Die Nahaufnahmen der Augenpartien waren ein typisch europäisches Stilmittel der damaligen Zeit, die sich hier ebenso gut einfügen wie die vereinzelten Gewaltspitzen und der Sleaze-Anteil, die jedoch nie den Film zu dominieren drohen. Stattdessen drosselt Franco gegen Ende arg das Tempo und setzt auf Spannungsszenen.
Francos „Jack The Ripper“ ist eine erbauliche Mischung aus Kriminalfilm-Motiven, aus dem Horrorbereich entlehnter Gewalt, einer guten Prise Sleaze und amüsanter Geschichtsfälschung geworden, die technisch-formal überzeugt, mit ihrem charmanten internationalen Ensemble punktet und einigen kleineren Schwächen zum Trotz auch erzählerisch ordentlich bei der Stange hält. Oder kurz: Einer der wirklich guten Francos!