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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Do 31. Dez 2020, 17:20
von buxtebrawler
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Enter the Void

Fear and loathing in Tokyo?

Der dritte abendfüllende Spielfilm des gebürtigen Argentiniers Gaspar Noé („Irreversibel“), der als Enfant terrible und Skandalfilmer gilt, ist die französisch-japanisch-kanadisch-italienisch-deutsche (uff…) Koproduktion „Enter the Void“ aus dem Jahre 2009, für die Noé erneut Experimentalfilmisches mit exploitativen Stilmitteln verbindet. Noé sei von Kubricks „2001“ ebenso beeinflusst gewesen wie von Montgomerys „Die Dame im See“ – und persönlichen Erfahrungen mit Rauschmitteln…

Die Geschwister Oscar (Nathaniel Brown) und Linda (Paz de la Huerta, „Choke – Der Simulant“) wurden schon im zarten Kindesalter zu Vollwaisen, als ihre Eltern bei einem Autounfall ihr Leben verloren. Sie versicherten sich gegenseitig, immer füreinander da zu sein. Dennoch trennten sich ihre Wege, als Oscar nach Tokyo ging, wo er sich seitdem als Drogendealer durchschlägt. Doch bald holt Oscar seine Schwester in die fernöstliche Metropole nach, sie verdingt sich nun als Tänzerin in einem Stripclub. Im Zuge einer Razzia wird Oscar auf der Clubtoilette von der Polizei erschossen. Oscars Seele entweicht seinem Körper und folgt auf einer transzendentalen Reise seiner Schwester Linda auf der Suche nach einer Möglichkeit zur Reinkarnation.

Der erste Akt findet fast ausschließlich in subjektiver Point-of-View-Perspektive des noch lebenden Oscars statt; man sieht durch seine Augen, sogar sein Blinzeln wird visualisiert und der Klang seiner Stimme verfremdet, als diene sein Leib als Resonanzkörper. Das ist in seiner Konsequenz durchaus beeindruckend und ein interessanter stilistischer Kniff. Jedoch wird diese Art der Perspektivierung auch für Drogentrips Oscars beibehalten, woran Noé erstmals scheitert: Diese sehen aus wie Bildschirmschoner. Nach seinem Tod lässt man sein Leben innerhalb einer ausgiebigen, nicht immer chronologischen Rückblende Revue passieren, wobei ihm die Kamera nun stets hinter seinem Rücken folgt. Nachdem noch einmal sein Tod gezeigt wird, löst sich mit seiner Seele auch die Kamera von seinem Körper und fungiert fortan als eine Art schwebendes Auge über den Protagonisten.

Für Noé ist dies Anlass für ständige ausladende Kamerafahrten und -flüge in Objekte hinein wie Motten in das Licht, was genau einmal als Wow-Effekt funktioniert, jedoch derart hochfrequent und selbstzweckhaft wiederholt wird, dass es zu langweilen beginnt – zumal der ganze, mit rund 160 Minuten Laufzeit überlange Film in Bedeutung vorgebender Zeitlupe abzulaufen scheint. Seine Geschichte um das Geschwisterpaar interessiert Noé kaum noch, die Handlung fragmentiert und bemüht sich in einer gegenüber den exaltierten Bildern erschreckenden und enttäuschenden Trivialität darum, Gefühle zu versinnbildlichen. Hier wurde das Prinzip „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ gewissermaßen umgekehrt. Ärgerlich albern ist für einen derart betont ernsten Film auch die Bezugnahme auf ein tibetanisches Totenbuch, das als Erklärung für Oscars Seelenflug herhalten muss, und die damit einhergehende esoterisch verklärte Sexualität, die für den – immerhin vorhandenen und an krudes altes Genrekino erinnernden – Sleaze-Gehalt inklusive selbstzweckhafter, gegen Ende gar expliziter (jedoch heteronormativer und damit im Jahre 2009 kaum für einen Skandal guter) Sexszenen verantwortlich ist (oder sie rechtfertigen soll). Eine Traumaaufarbeitung, für die sich die Filmprämisse angeboten hätte, findet hingegen nicht wirklich statt, sie bleibt oberflächlich und billig.

Als sich von derartigem visuellem Budenzauber nicht mir nichts, dir nichts einnehmen lassender Zuschauer quält man sich also durch künstlich gestreckten und gefühlt immer langsamer werdenden, ermüdenden, substanzlosen und prätentiös selbstverliebten Arty-Farty-Pomp bis zu einem hochgradig dämlichen Ende. Es hat den Eindruck, als sei Noé nach Ende der Rückblende aufgefallen, dass der zweimal gezeigte Autounfall das einzig Spektakuläre war und er deshalb noch einen draufsetzen zu müssen glaubte. „Enter the Void“ beweist nicht nur, dass eine erzwungene vollumfängliche Subjektivität keinesfalls automatisch zur Publikumsidentifikation mit der Figur führt, sondern auch, dass ein mit vielen Vorschusslorbeeren – und sei es nur durch sein bisheriges polarisierendes Werk – bedachter Regisseur am überambitionierten Unterfangen, Drogentrips und Todeserfahrungen zugleich audiovisuell und kinematographisch zu illusionieren, scheitern kann. „Skandalfilm“? Skandalös langweilig.

Wer sich „Enter the Void“ als Substitut für psychoaktive Drogen zuführt oder gleich in die Vollen geht und ihn sich auf Pilzen o.ä. ansieht, mag anschließend einen großen Spaß daran entwickeln, das Gesehene in unheimlich ausschmückender Sprache zu beschreiben, ohne dabei vor Superlativen zurückzuschrecken, und ohnehin alles ganz anders sehen. Für wen Kino deutlich mehr als die Summe seiner Bilder ist und übermäßig ehrgeizigen Style-over-substance-Produktionen generell tendenziell skeptisch gegenübersteht, dürfte in Noés Mysterytrip jedoch seine Skepsis bestätigt sehen.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Di 5. Jan 2021, 15:01
von buxtebrawler
Tatort: Der feine Geist

„Ich seh‘ einen Geist…“

Der Weimarer „Tatort“ ums ermittelnde Kripo-Duo Dorn (Christian Ulmen) und Lessing (Nora Tschirner) begann einst als an Feiertagen ausgestrahlte Besonderheit. Eine Übersättigung wie beim Münsteraner „Tatort“, der zweiten komödiantisch ausgerichteten Subreihe, stand nicht zu befürchten. An diese Tradition knüpft auch der im Februar und März 2020 – also kurz vor dem ersten pandemiebedingten Shutdown hierzulande – gedrehte und am Neujahrstag 2021 erstausgestrahlte elfte Fall des Teams an. Und doch bedeutet dieser von Stammautor Murmel Clausen geschriebene und wie der Vorgänger „Der letzte Schrey“ von Regisseurin Mira Thiel inszenierte Fall eine Zäsur, wenn nicht gar das Ende des Weimarer „Tatorts“.

„70 Prozent aller Morde werden innerhalb der Familie verübt.“

Am helllichten Tag wird ein Weimarer Juweliergeschäft überfallen und der für den Geldtransport zuständige Sicherheitsmann Ludgar Döllstädt kaltblütig ermordet. Die Kripobeamten Kira Dorn und Lessing verfolgen den zu Fuß in die Parkhöhle fliehenden Täter, es kommt zu einem Schusswechsel: Lessing wird von einem Streifschuss erwischt. Der Täter ist über alle Berge. Während Lessing sich verarzten lässt, ermittelt Dorn in alle Richtungen, wenngleich Kommissariatsleiter Kurt Stich (Thorsten Merten) von einem Raubmord ausgeht und nicht glaubt, dass mehr dahinterstecken könnte. Döllstädt war Angestellter des ausschließlich aus ehemaligen Strafgefangenen bestehenden Unternehmens „Geist Security“, dessen Inhaber John Geist (Ronald Zehrfeld, „Polizeiruf 110: Cassandras Warnung“) sich ein exquisites Hobby leistet: das Sammeln und die Zucht seltener Papageienarten, offenbar nicht immer ganz legal. Während Dorn noch sinniert, ob Döllstädt seinem Chef eventuell gefährlich wurde – immerhin hatte Lessing wenige Tage zuvor die Verwaltungsangestellte Maike Viebrock (Inga Busch, „Tatort: Verlorene Töchter“) zusammen mit Döllstädt und einem solchen Papagei im Zuge einer Verkehrskontrolle angehalten –, muss ein weiterer Geist-Angestellter sterben…

Die ersten Dialoge dieser Kriminaldramödie, in der man erstmals das gemeinsame Kind Dorns und Lessings sieht, sind leider etwas vernuschelt, was sich jedoch glücklicherweise schnell bessert – wenngleich es diesmal eher die Bildsprache dieses Who’n’whydunit? ist, die einen gefangen nimmt: Die Weimarer Parkhöhle avanciert – zunächst ungeahnt – zum Mittelpunkt dieses Falls, und sie sorgt nicht nur für beklemmende Szenen im Zuge der Verfolgungsjagd, sie umgibt auch eine geheimnisvolle, düstere Aura, die später zum Tragen kommen wird. Die häufig leicht der Realität entrückt wirkende Stimmung dieses Falls ist dann auch weniger dem Humoranteil geschuldet, sondern erklärt sich gegen Ende. Der zwischen Dorn und Lessing stattfindende Sprachwitz wurde heruntergefahren, die meiste Zeit ermittelt Dorn allein bzw. zusammen mit ihrem Vorgesetzten Stich, der aufhören will und einen Nachfolger sucht.

Dies wird zum Anlass für Situationskomik, wenn sich der einfältige Lupo (Arndt Schwering-Sohnrey) Hoffnung auf den Posten macht, sowie für ein paar spaßige, aber auch bizarre Dialoge zwischen Dorn und Stich. Ein Teil der etwas schräg anmutenden Gespräche erklärt sich mit einer Wendung im letzten Drittel, die aus „Der feine Geist“ einen Mindfuck-Film macht, der die bisherige Erzählinstanz als unzuverlässig entlarvt und Teile des zuvor Geschehenen zum Einsturz bringt. In Kombination mit der Erörterung des Tatmotivs und damit der Täterüberführung wird nachvollziehbar, was zunächst irritierte, nicht richtig eingeordnet werden konnte oder gar verdächtig nach Drehbuchschwäche roch. Dass manch Populismus- und Lokalblatt diese Wendung bereits im Vorfeld verraten hatte, ist ein Unding und weiterer Tiefpunkt bestimmter Journaillen im Kampf gegen die eigene Bedeutungslosigkeit.

Dass er damit keinen Originalitätspreis gewinnt, dürfte Clausen klargewesen sein, weshalb er das Ganze mit ein wenig Augenzwinkern als eine Art Hommage an die Vorbilder konzipierte. Nichtsdestotrotz überwiegt in „Der feine Geist“ der ernste Grundton, im finalen Showdown ist dann auch Schluss mit lustig. Umso unpassender albern erscheint daher eine klamaukige Nebenhandlung wie die um Chef Stich, der zu selbigem bei der Viebrock kommt, und zwar bis zur Erschöpfung, da man – weshalb auch immer – wann immer man sich sieht, übereinander herfallen muss. Unverständlich, dass ausgerechnet ein solch müder Gag zu den Ermittlungen beiträgt, indem Dorn in Ruhe Hausfriedensbruch begehen kann, während ihr Chef mit Frau Viebrock knattert.

So gut Tschirner diesen „Tatort“ auch im Quasi-Alleingang meistert, so fraglich ist es, wie bzw. vielmehr ob es mit dem Weimarer Ableger nach derart radikalen Einschnitten überhaupt weitergehen wird. Sein besonderes Konzept um schräge Individuen, mit denen man mitfiebern und -sympathisieren konnte, während ein ewig Literatur zitierender Klugscheißer und seine schnippische Partnerin ihnen auf Spur kamen, schien sich zuletzt ohnehin abgenutzt zu haben oder aber man wollte in eine andere Richtung steuern. Mit „Der feine Geist“ hat man jedenfalls bewusst Brücken verbrannt. Sollte es das gewesen sein, ist ein würdiger, aber auch trauriger Abschied gelungen.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Mo 11. Jan 2021, 10:13
von buxtebrawler
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Bleib wie du bist

„Du wirst mich gleich nackt sehen!“

Im Jahre 1978 zwischen solch unterschiedlichen Erotik-/Liebesfilmen wie „Summer Night Fever“ und „Sieben Sommersprossen“ veröffentlicht, ist das Erotikdrama „Bleib wie du bist“ des italienischen Regisseurs Alberto Lattuada („Die Steppe“) dessen vorvorletzter abendfüllender Kinofilm. Die italienisch-spanische Koproduktion lässt sich aufgrund ihrer freizügigen Hauptdarstellerin Nastassja Kinski als Erotikdrama einordnen – und goutieren.

„Sag mir, was du dir wünschst!“ – „20 Jahre weniger...“

Der römische Landschaftsarchitekt Giulio Marengo (Marcello Mastroianni, „Die Sonntagsfrau“), ein wohlsituierter Herr mittleren Alters, steckt inmitten einer Ehekrise mit seiner Frau Luisa (Mónica Randall, „My Dear Killer“) und seine erwachsene Tochter Ilaria (Barbara De Rossi, „Das Duell der Besten“) hadert mit ihrer Schwangerschaft. Nichts als Probleme also, weshalb die sorglose, lebenslustige und blutjunge Studentin Francesca (Nastassja Kinski, „Tatort: Reifezeugnis“), die er in Florenz kennenlernt, umso reizvoller auf ihn wirkt. Giulio und Francesca beginnen eine Affäre miteinander. Doch es stellt sich heraus, dass er vor 20 Jahren bereits eine Affäre zu Francescas mittlerweile verstorbener Mutter unterhielt und Francesca demnach seine Tochter sein könnte…

Die Autoren Paolo Cavara und Enrico Oldoini sowie Regisseur Lattuada legen ihren Fokus auf die Gewissenskonflikte, die Giulio durchlebt, seine schwierige Entscheidungsfindung und die neuen Probleme, die er sich eingehandelt hat – sowie das diese düsteren Begleiterscheinungen beinahe vergessen machende Liebesspiel zwischen dem älteren Herrn und dem jungen Ding. Was Giulio tut, mag moralisch verwerflich sein, doch des Verständnisses breiter Teile des Publikums dürfte er sich sicher sein können. Psychologische Aspekte wie Giulios an Midlife-Krisen erinnernde Alltagsflucht und Francescas offensichtlicher Vaterkomplex werden indes nicht vertieft und auch keine einfachen Lösungen angeboten.

„Bleib wie du bist“ ist ein schönes Beispiel dafür, wie man ein tendenziell skandalträchtiges, provokantes Thema stilvoll und unaufgeregt, mit schönen Erotikszenen, aber ohne übertriebene sexploitative Ausschlachtung verarbeiten kann. Das Ergebnis mag mancher als unspektakulär und langatmig empfinden, das ist es wahrscheinlich auch, mir jedoch geht bei den hübschen, natürlichen Schauspielerinnen und den wunderbar authentisch eingefangenen Drehorten im Zusammenspiel mit Maestro Ennio Morricone ohrenschmeichelnden Kompositionen das Herz auf. Blendet man aus, dass es sich im Prinzip um eine etwas fragwürdige Altherrenfantasie handelt, die der Handlung zugrunde liegt, kann „Bleib wie du bist“ gutes Gewissens als gelungener „kleiner“ Film innerhalb eines schwierigen Genrebereichs bezeichnet werden.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Mo 11. Jan 2021, 22:55
von buxtebrawler
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The Purge – Die Säuberung

„Die Säuberung gibt uns viel Gutes!“

Dem US-Amerikaner James DeMonaco, der bisher als TV-Produzent sowie als Autor und Koproduzent des „Das Ende – Assault on Precinct 13“-Remakes in Erscheinung getreten war und im Jahre 2009 als Regisseur mit „Staten Island New York“ debütierte, gelang bereits mit seiner zweiten Regiearbeit ein vieldiskutierter Kinofilm: der Action-Thriller-Dystopie „The Purge – Die Säuberung“, der bis heute zwei Fortsetzungen, ein Prequel und eine TV-Serie folgten.

Die USA im Jahre 2022: Vor einigen Jahren wurde von den „neuen Gründungsvätern“ der Purge Day ins Leben gerufen, an dem einmal jährlich zwölf Stunden lang das Gesetz außer Kraft tritt und alles legal ist, was sonst als Straftat gilt – bis hin zu Mord und Totschlag. Der Grund: Es stellte sich als überaus heilsam für die Gesellschaft heraus, dass ihre Mitglieder diesen besonderen Feiertag als Ventil nutzen können, all ihren Hass und ihre negative Energie herauszulassen – was zudem dazu führt, dass die Arbeitslosigkeit und Kriminalitätsrate massiv gesunken sind, denn hauptsächlich müssen an den Purge Days arme Schlucker, Obdachlose und ähnliche „gesellschaftsschädigende Elemente“ dran glauben. Nicht nur die Seele, auch die Straße und die Gesellschaft werden „gereinigt“. Wohlsituierte verschanzen sich während dieser zwölf Stunden gern hinter den Hochsicherheitsanlagen ihrer Vorstadtvillen. So auch James Sandin (Ethan Hawke, „Voll das Leben - Reality Bites“) mit seiner Frau Mary (Lena Headey, „Besessen“) und seinen beiden Kindern (Adelaide Kane, „Goats“ und Max Burkholder, „Parenthood“), der als Verkäufer eben solcher Sicherheitstechnik finanziell gut gepolstert dasteht. Als sein Sohn jedoch Mitleid für einen zum Abschuss freigegebenen und gejagten Obdachlosen (Edwin Hodge, „Red Dawn“) empfindet und ihn kurzerhand hereinlässt, sich zudem der ältere Freund (Tony Oller, „Unanswered Prayers“) der 14-jährigen Tochter ins Haus geschlichen hat, um sich mit ihrem Vater „auszusprechen“, nimmt das Chaos seinen Lauf. Es dauert nicht lange und eine Gruppe Maskierter nötigt die Familie, den Obdachlosen auszuliefern – anderenfalls werde man ihr Haus stürmen und die ganze Familie auslöschen…

Was zunächst vielleicht wie eine filmische Version des „Gewalterlebnisparks“ klingt, den die APPD im Zuge der Balkanisierung Deutschlands errichten wollte, entpuppt sich als überaus ernstgemeinte Verfilmung einer zutiefst zynischen Ideologie innerhalb einer nahen Dystopie in Form eines Home-Invasion-Action-Thrillers. Einführend bekommt man Szenen im Amateur- bzw. Überwachungskamera-Look zu sehen, die wüste Schlägereien und ähnliche Eskalationen zeigen und wie Archivmaterial aussehen. Es soll sich um Aufnahmen vorausgegangener Purge Days handeln, zu denen Prinzip und Hintergründe dieser Institution erläutert werden. Die Sandins werden als Bilderbuchfamilie der gehobenen Mittelschicht eingeführt, der Neid gewisser Nachbarn wird jedoch bereits angedeutet.

Eigentlich wird auch schnell deutlich, dass es sich um eine Überzeichnung handelt, eine Übertreibung zwecks Veranschaulichung, gewissermaßen eine entstellende Karikatur spätkapitalistischer gesellschaftlicher Entwicklung – die sicherlich nicht auf ihre völlige Plausibilität hin analysiert werden will und sollte. Ein wenig zu abstrahieren ist das Publikum angehalten, geht es um die Frage, wie zur Hölle nach einem Purge Day wieder Normalität hergestellt werden können soll. Offenbar hat dessen Einführung dazu geführt, dass die Menschen mental umzuschalten gelernt haben; Purge-Modus on/off. Die Chance, dass die Karten zu den eigenen Gunsten neu gemischt werden, wird anscheinend höhergeschätzt als das eigene Bedürfnis nach Unversehrtheit. Dies erinnert u.a. an die von breiten Teilen der US-amerikanischen Bevölkerung abgelehnte Einführung sozialer Sicherheitsmaßnahmen oder die Verweigerung gegenüber rechtlicher Zügelung von Gier, obszönem Reichtum und wenig verantwortungsvollem Umgang mit persönlichem Eigentum.

So weit, so interessant und vielversprechend, und so wenig Anlass von meiner Warte, den Film bereits für sein Sujet abzustrafen. Der Beginn des Purge Days geht dann auch mit beklemmender Atmosphäre und unheilschwangerer Stimmung einher. Was jedoch James DeMonaco, der auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, geritten hat, sogar diese der Handlung eigene, bereits recht großzügig gestaltete Logikgrundlage zu unterminieren, erschließt sich mir nicht: Wie kann der Freund der Tochter allen Ernstes glauben, mit ihr eine glückliche Beziehung führen zu können, wenn er mir nichts, dir nichts ihren Vater erschießt – besondere Purge-Day-Regeln hin oder her? Zumal dieser erste „Zwischenfall“ für die Sandins kaum in Zusammenhang mit den folgenden, weitaus bedeutsameren Ereignissen steht und somit eigentlich auch problemlos weggelassen hätte werden können.

Was folgt, gehorcht beinahe etwas enttäuschend den üblichen Home-Invasion-Spielregeln, spielt sich also ausschließlich im Haus der Sandins bzw. auf deren Grundstück ab und geht mit hartem Überlebenskampf, Schießereien, Verletzungen und Toten einher. Das ist grundsätzlich nicht schlecht gemacht, wird aber spätestens dann albern, wenn zum wiederholten Male die Rettung in letzter Sekunde geschieht und jemand, der gerade in Begriff ist, jemanden zu töten, selbst erschossen wird. Auch die finale Entwicklung, sozusagen der Clou des Films, war so oder zumindest so ähnlich zu erwarten und kommt daher nicht wirklich überraschend. Immerhin werden durch ihn noch einmal indirekt die Fragen nach dem zukünftigen Zusammenleben gestellt und danach, was derartige Konfrontationen eigentlich mit den Menschen machen. Dass es keinesfalls an den Haaren herbeigezogen wäre, die ganze Nummer auch als Werbespot für die NRA zu interpretieren, ist ein unschöner Nebeneffekt.

Schauspielerisch ist alles gediegene Standardkost und nicht besonders memorabel (eigentlich ziemlich daneben: eine 21-Jährige spielt eine 14-Jährige), dramaturgisch wie beschrieben fragwürdig durchchoreographiert, visuell gerade auch durch die deutlich sichtbare Dekonstruktion falsche Sicherheit suggerierender Technik und das Einreißen vermeintlich schützender Villenmauern aber recht ordentlich geraten. Im Jahre 2013 konnte man als Westeuropäer(in) all das vielleicht noch als heillos übertriebenen Ami-Action-Schmarrn abtun, vermutlich hätte ich auch das getan und vielleicht wäre mir der plakative Zynismus dieser Dystopie mit ihren Holzhammerparabeln sogar auf die Nerven gegangen. In meine unterm Strich positive Bewertung fließen jedoch die Erfahrungen der Jahre 2014 bis 2020 ein, von Umgang mit Flüchtlingen, Kriminalisierung von Seenotrettung und nicht zuletzt Verharmlosung oder gar Leugnung der Covid-19-Pandemie, sodass ich mittlerweile weiß, wozu nicht unerhebliche Teile der Bevölkerung gerade auch moderner westlicher Gesellschaften imstande sind, welche sozialen Verwerfungen und welches menschliche Elend bis hin zum Tod Schwacher, Verfolgter und Gebeutelter man hinzunehmen bereit ist, wenn es denn nur zum eigenen Vorteil gereicht. Auf bedauerliche Weise erscheint ein Film wie „The Purge – Die Säuberung“ tatsächlich als ein gar nicht mal mehr so abwegiges Schreckensszenario, wenngleich er dieses exemplarisch lediglich an einer einzelnen Familie durchexerziert.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Di 12. Jan 2021, 18:59
von buxtebrawler
Tatort: Kressin und der tote Mann im Fleet

„Mich kotzen Partys an!“

Der dritte Beitrag zur öffentlich-rechtlichen Krimireihe „Tatort“ überhaupt datiert auf den 10.01.1971 (Erstausstrahlung) und etablierte eine neue Hauptfigur: den Zolloberinspektor Kressin, gespielt vom Österreicher Sieghardt Rupp („Bübchen“). Das Drehbuch verfasste niemand Geringerer als Wolfgang Menge, mit der Regie betraute man Peter Beauvais („Ein Mann namens Harry Brent“) – dessen einzige „Tatort“-Inszenierung „Kressin und der tote Mann im Fleet“ leider blieb.

„Ich saufe nun mal!“

Der Kölner Zollfahnder Kressin steuert im Zuge seines Urlaubs zusammen mit seinen Gespielinnen Tatjana (Eva Renzi, „Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe“) und Ulrike (Sabine Sinjen, „Die Ratten“) die Hansestadt Hamburg an, als er an Bord des Reiseschiffs beobachtet, wie der Reiseleiter Ben Canitz (Siegfried Flemm) mehrere Handbälle ins Wasser wirft, welche von der Bestatzung des Motorboots „Judith 3“ aufgelesen werden. Nachdem Canitz offenbar auch noch Kressins Kabine durchwühlt hat, stellt Kressin ihn zur Rede, jedoch ohne Ergebnis. Angelegt am Hafen sieht Kressin noch, wie sich Canitz mit zwei Männern trifft. Diese bringen Canitz zum Drogenschmuggler Aram (Günther Heising, späterer NDR-„Tatort“-Kriminalhauptmeister Henkel), doch aus weiteren Geschäften wird nichts: Canitz wird ermordet. Als Kressin das Foto des aus dem Kanal gefischten „unbekannten Toten“ am nächsten Morgen in der Tageszeitung identifiziert, informiert er telefonisch seine Abteilung, die ihm aufträgt, sich bei Kommissar Trimmel (Walter Richter) zu melden. In der Folge ermitteln beide unabhängig voneinander in diesem Fall, wobei sich die Wege mehrmals kreuzen – und der nassforsche Kressin in Gefahr gerät…

„Wenn Sie James Bond spielen wollen, passen Sie ja auf! Hier in Hamburg gibt’s nämlich Leute, die sind schon als Babys in die Boxschule gegangen!“

Kressin als machohafter Dandy und Womanizer, der es sich mit gleich zwei hübschen jungen Damen im Urlaub gutgehen lässt und quasi im Vorbeigehen auch noch einen Fall löst – einen solchen „Tatort“, eigentlich eine Art Crossover mit dem Hamburger Hauptkommissar Trimmel, dem Ermittler im allerersten „Tatort: Taxi nach Leipzig“, muss man natürlich mit reichlich Augenzwinkern schreiben und inszenieren, denn eigentlich kann man sich Kressin gar nicht als Zöllner vorstellen. Menge und Beauvais schien dies bewusst zu sein, wenngleich dieses Sujet zugleich stark an den damaligen jungen Zeitgeist im Zuge der sexuellen Revolution angelehnt ist. So frönt Kressin offenbar der Polyamorie, stellt infrage, ob Marihuana überhaupt gefährlich sei (hier jedoch geht es um mit Opium gestrecktes Zeug) und gibt einen ungebundenen, freiheitsliebenden Lebemann, der einen Kontrast zum etwas knittrigen, älteren Trimmel bildet – was wiederum in köstlich komödiantischen Dialogen aufgegriffen wird.

„Man kann auch auf der Elbe schmuggeln!“ – „Von Buxtehude nach Blankenese, oder wie?“

Ein Gerichtsmediziner erklärt die Bedeutung von Fingerabdrücken auch Toter, deren Identität bereits feststeht, und erläutert seine Methoden so detailliert, als gebe er Kochrezepte. Einerseits wird dieser „Tatort“ damit seinem Bildungsauftrag hinsichtlich Einblicken in die Arbeit von Polizei und Justiz gerecht, andererseits arbeitet man auch hier mit einer subtilen humoristischen Konnotation, um die Angelegenheit nicht zu trocken werden zu lassen. Das frivole Trio cruist anschließend mit dem Cabrio durch die Hansestadt, bevor sich Kressin auf eine gefährliche Schnüffelaktion begibt, die Beauvais schön im Dunkeln mit Wackelkamera hat filmen lassen und damit für Authentizität sorgt. Zu Besuch geht’s zum Bootsbesitzer (Ivan Desny, „Anastasia, die letzte Zarentochter“) der „Judith 3“, Herrn Sievers, der eine riesige Carrera-Bahn in seiner Wohnung aufgebaut hat. Jene Wohnung wird später zum Schauplatz einer lebensbedrohlichen Situation für Kressin werden. Viel Hamburger Wasserstraßenfolklore durchzieht die gesamte Handlung, die Originaldrehorte sorgen für ein norddeutsches Ambiente zwischen herausgeputzten touristischen Zielen und kriminellen Schmutz im Verborgenen. Gesoffen und geraucht wird bei den Beamten indes mehr.

„Der Kressin bringt einen völlig durcheinander!“

Erzählerisch und ermittlungstechnisch ist den Zuschauerinnen und Zuschauern wahrscheinlich eher als Kressin vermeintlich klar, dass der Tote sich absetzen wollte, doch in Bezug auf den Libanon als Reiseziel Canitz‘ nimmt der Fall eine Wendung – weshalb genau Canitz sterben musste, blieb mir zumindest aber auch nach der Zerschlagung des Drogenrings (oder zumindest seiner Hamburger Dependance) ein Rätsel. Möglicherweise ist mir da im oftmals leider etwas verhallten Ton etwas entgangen, eventuell ist dies aber auch Absicht, denn eine entscheidende Figur kann entkommen und sich somit dem Zugriff durch die Justiz entziehen. Wesentlich interessanter ist letztlich aber auch die Hauptfigur Kressin und ihre eigenwillige Vermengung von Privatem mit Dienstlichem.

Dieser dritte „Tatort“ ist ein sehr unterhaltsames Zeitgeistprodukt, das es mit den Moralvorstellungen eines Großteils seines Publikums aufnahm und kräftig provoziert haben dürfte, der heutzutage allerdings auch keinen Sexismusdetektor mehr passieren könnte, ohne dass dieser Alarm schlüge. „Gibt’s denn in dieser Stadt nichts Normales?“ – Doch, aber Hamburgs langweilige Seiten blieben Kressin und damit dem Publikum glücklicherweise erspart. Ein bisschen verrückt ist’s aber schon: Nachdem der erste „Tatort“ es einen Hamburger Kommissar in die DDR verschlagen ließ, machte im dritten ein Kölner ein Fass in Hamburg auf…

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Do 14. Jan 2021, 17:17
von buxtebrawler
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Mutter Küsters' Fahrt zum Himmel

Das im Jahre 1975 entstandene Drama „Mutter Küsters' Fahrt zum Himmel“ des deutschen Autorenfilmers Rainer Werner Fassbinder („Angst essen Seele auf“), der das Drehbuch zusammen mit Kurt Raab verfasste, lehnt sich offenbar an den (mir unbekannten) 1929 veröffentlichten sog. Arbeiterfilm „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ an bzw. wirkt wie eine Replik auf dessen politischen Optimismus. Die Handlung wurde unter Fassbinder in die Gegenwart verlegt und skizziert ein eher pessimistisches Bild der Nachkriegs- und Post-‘68er-Gesellschaft Deutschlands.

Emma Küsters (Brigitte Mira, „Das Stundenhotel von St. Pauli“) ist eine einfache, unpolitische Frau im reiferen Alter, deren geregeltes, kleinbürgerlich proletarisches Familienleben komplett aus den Fugen gerät, nachdem ihr Mann Hermann den Sohn des Besitzers der Reifenfabrik, in der er angestellt war, getötet und anschließend Suizid begangen hat. Als Grund werden die anstehenden Massenentlassungen vermutet, die im Raum standen. Die Folge ist ein riesiger Presserummel, dem Sohn Ernst (Armin Meier, „Schattenboxer“) und Schwiegertochter Helene (Irm Hermann, „Fontane Effi Briest“) entgehen wollen und Emma kurzerhand alleinlassen, während Tochter Corinna (Ingrid Caven, „Nea – Ein Mädchen entdeckt die Liebe“) sich als Nachtclubsängerin in einem verruchten Etablissement durchschlägt und nun ihre Chance wittert, vom plötzlichen Boulevard-Interesse an ihrer Familie zu profitieren. Verzweifelt versucht Emma, ihre Familie zusammenzuhalten und den Ruf ihres Mannes zu verteidigen, doch insbesondere eine sensationslüsternen Illustrierte gibt ihre Aussagen vollkommen verzerrt wieder. Als sie die Eheleute und DKP-Mitglieder Thälmann (Karlheinz Böhm, „Augen der Angst“ und Margit Carstensen, „Die Zärtlichkeit der Wölfe“) kennenlernt, scheint sie Rückhalt und Unterstützung zu bekommen, jedoch sehen die Tillmanns in erster Linie die Chance, die Tragödie propagandistisch auszuschlachten. Schließlich ist es der junge Anarchist Knab (Matthias Fuchs, „Ulrich und Ulrike“), der sich Mutter Küsters annimmt und mit ihr eine Aktion in den Redaktionsräumen des schlimmsten Hetzblatts durchführen möchte. Diese verläuft jedoch nicht friedlich…

Fassbinders Film wirkt über weite Strecken tatsächlich wie eine Art kommunistischer Propagandafilm, kippt dann jedoch in die Erkenntnis, dass schlichtweg alle Seiten versuchen, den Vorfall für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Bei den DKP-Leuten handelt es sich um Salonkommunisten und wohlsituierte Bildungsbürger, die die Probleme, über die sie reden, gar nicht aus eigener Erfahrung kennen. Wie sie Mutter Küsters umgarnen und zu indoktrinieren versuchen, hat etwas Sektenhaftes, Emmas persönliches Schicksal scheint jedoch allen gleichgültig zu sein – ob der Presse oder den Kommunist(inn)en. Fast alle verharren in ihren Posen und sind nie authentisch, statt auch nur einmal echte Menschlichkeit zu zeigen. Nicht einmal Emmas Familie lässt sich davon ausnehmen: In einer der beeindruckendsten Szenen des Films geriert sich Tochter Corinna wie ein Star, als sie von der Beerdigung ihres Vaters kommt, umgarnt von Journalisten, denen sie Interviews gibt, ohne sie eines Blickes zu würdigen, aber stolz dahinschreitend – Kopf hoch und Brust raus. Schließlich hat jeder seine eigene Meinung über Vater Hermann, während Emma Küsters Deutungshoheit zu erlangen versucht – obwohl der Bericht in der Illustrierten strenggenommen zwar unseriös überspitzt, aber eben auch nicht komplett erlogen war.

Es gibt zwei verschiedene Finals: eines für den deutschsprachigen Markt, eines fürs US-Publikum. Der gewalttätige Ausgang der deutschen Fassung wird in seiner Konsequenz nicht mehr gezeigt, lediglich in Form von Texttafeln erzählt, ist dafür jedoch sehr zynisch ausgefallen und wirkt wie eine Allegorie auf die Verständnislosigkeit, mit der viele damals den RAF-Anschlägen begegneten. Im US-Ende hingegen ist ein Sitzstreik in den Redaktionsräumen das Mittel der Wahl, der jedoch kaum Eindruck hinterlässt. Nachdem alle Mitarbeiter(innen) Feierabend gemacht haben, geht auch Knab und lässt die renitente Emma Küsters allein zurück. Als der Hausmeister auf der Bildfläche erscheint und die Räume abschließen will, ist er der einzige, der sich ehrlich und herzlich Mutter Küsters annimmt und sie zum „Himmel und Erde“-Essen einlädt. Dieser zum Teil mit anderen Darsteller(inne)n nachgedrehte Schluss illustriert die Machtlosigkeit friedlicher Protestler(innen) und bekommt satirische Züge. Sein Happy End wirkt kitschig, beinahe wie eine Persiflage auf harmlose deutsche TV-Produktionen, die niemandem wehtun wollen, und scheint den entpolitisierten Rückzug ins Private der deutschen Spießbürgerlichkeit aufs Korn zu nehmen.

Somit ist „Mutter Küsters' Fahrt zum Himmel“ ein schöner Rundumschlag, der dementsprechend seinerzeit auch fast durchgehend von allen Seiten abgelehnt wurde – was wiederum die Unfähigkeit zur Selbstkritik eben jener durch den Film kritisierten Gruppen und Grüppchen widerspiegelt. In Wirklichkeit ist Fassbinders Film jedoch ein beißender, auf die deutsche Gesellschaft bezogener Zeitkommentar, der mit einer famosen Brigitte Mira in der Hauptrolle aufwartet, die die etwas naive, dadurch verführbare Familienmutter aus der buckelnden, aber eigentlich nie aufbegehrenden Kriegsgeneration, die zum Spielball unterschiedlicher Interessen wird, glaubwürdig verkörpert. Das Plakative des Films mag heutzutage irritieren, verglichen mit manch damaliger Agitation ist er jedoch fast schon als subtil zu bezeichnen. Ein wenig schade ist indes, dass er inszenatorisch und in seiner Ausstattung mehr wie eine preisgünstige TV-Produktion denn wie ein Kinofilm wirkt – wobei die Texttafeln der deutschen Fassung vermutlich ein Indiz dafür sind, dass Fassbinder sich dem bewusst verweigerte. Doch wozu nur?

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Fr 15. Jan 2021, 15:47
von buxtebrawler
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Penetration Angst - Fick mich und du bist tot

„Ich hasse euch Männer!“

Ob Musikdokumentationen („Punk in London“), Popkulturstreifen („Der Formel-Eins-Film“) oder Autofilme („Manta Manta“) – der Lüdenscheider Filmemacher Wolfgang Büld hat schon so einige Steckenpferde gehabt. Der unlängst nach London übergesiedelte Sympathieträger erfüllte sich von 2003 bis 2006 offenbar den Traum, in weitestgehender Unabhängigkeit von irgendwelchen Geldgebern eine Sexploitation-Trilogie zu drehen, die niemandem zu gefallen braucht – in Amateurmanier trashig und direkt für den DVD-Markt produziert. Der erste Teil der um die britische Hauptdarstellerin Fiona Horsey herum konzipierten Reihe trägt den blumigen Titel „Penetration Angst – Fick mich und du bist tot“ und erinnert an eine Mischung aus „Chatterbox“, „Kondom des Grauens“, „Baby Blood“ und „Little Shop of Horrors“.

Die aufgrund eines Vorfalls in ihrer Kindheit traumatisierte junge Helen (Fiona Horsey) lässt eigentlich niemanden an ihr primäres Geschlechtsorgan – doch das sind längst nicht alle Männer zu akzeptieren bereit. Unmittelbar nach einer Vergewaltigung scheint sich der Täter in Luft aufzulösen. Als sich Helen an einen Gynäkologen (James Crichton, „Dark Tales“) wendet, betäubt dieser sie und vergeht sich ebenfalls an ihr. Als sie aus der Narkose erwacht, ist auch der Doktor verschwunden, lediglich seine Kleidung und sein benutztes Kondom sind noch da. Kurze Zeit später meldet sich ihre Vagina zu Wort und möchte gefüttert werden! Um sich an der Männerwelt zu rächen und zugleich ihre hungrige Muschi zu befriedigen, siedelt sie sieben Monate später nach Soho um, wo sie sich fortan als Prostituierte verdingt. Ihr Stalker Dennis (Paul Conway, „Army Go Home!“) folgt ihr nach London, landet mit den siamesischen Zwillingen Sonja und Silvia (Beth und Amy Steel, „Party Animals 2“) im Bett, stößt jedoch ins falsche Loch und muss in den Untergrund abtauchen, da er von der Polizei gesucht wird, nachdem er die beiden auseinandersägte und mit einer Stripperin eine Bank überfiel… Werden Helen und Dennis dennoch zueinander finden?

Uwe Bohrers professionelle Kameraarbeit wirkt beinahe befremdlich innerhalb dieser No-Budget-Produktion mit ihren Laiendarstellerinnen und -darstellern, ihrem schlecht gealterten Nu-Metal-Soundtrack, ihrer vulgären Pornosynchro, dem glattpolierten Digitallook und der geschmacklosen, absurden und albernen Handlung, die nicht etwa einem Pennälerhirn entsprungen ist, sondern von Büld und somit einem reiferen, filmerfahrenen Herrn im besten Alter stammt. Ist gerade kein Sexualopfer in Sicht, füttert Helen ihren sich bei Hunger mit Geräuschen bemerkbar machenden Schlitz mit Wiener Würstchen. Das Verschwinden des ersten Vergewaltigers wird noch onscreen mittels eines einfachen Spezialeffekts gezeigt, anschließend gar nicht mehr. Erst bei einem späteren, neuerlichen Vergewaltigungsversuch wird dieser Effekt wieder aufgegriffen, der nach allem aussieht, nur nicht danach, von einem aggressiven weiblichen Sexualorgan verspeist zu werden. Die einzige blutige Szene ist Dennis‘ Trennungsversuch der siamesischen Zwillinge, die mit ihrem Splatter-Gehalt dann auch wie ein Fremdkörper wirkt. In Sachen Spezialeffekte wäre deutlich mehr drin gewesen – ein entsprechendes Budget vorausgesetzt.

Überhaupt, die Zwillinge mit ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten: Es fällt wirklich schwer zu glauben, dass ein erwachsener Mensch über einen derart pubertären Humor verfügt, eine Nebenhandlung wie diese tatsächlich in ein Drehbuch zu schreiben. „Penetration Angst“ ist indes ausdrücklich kein Porno, sondern ein abseitiger Erotikstreifen, der seine Hauptdarstellerin und auch manch Nebenrolle mehr nackt als bekleidet in Szene setzt und auch einen kleinen Ausflug in den Bondage-Bereich bereithält, ansonsten aber züchtig bleibt. Einige Schwarzweiß-Rückblenden bzw. -Träume dröseln Helens Vergangenheit ein wenig auf; wie ihre Vagina ein solches Eigenleben entwickeln konnte bleibt jedoch ungeklärt. Wo dieser John (Matthew Brint) herkommt, den Helen plötzlich ehelicht, weiß auch niemand.

Das ist jedoch auch gar nicht relevant, denn ganz offensichtlich ist „Penetration Angst“ einer dieser Filme, die den Beteiligten mehr Spaß machen als ihren Zuschauerinnen und Zuschauern, von einem sehr speziellen Nischenpublikum einmal abgesehen. Büld hat mit Horsey ein ansehnliches Mädchen entdeckt, das schauspielerisch talentiert und zu Nacktszenen bereit sowie bezahlbar war und sie in einem ganz auf sie zugeschnittenen Trash-Sexploitator eingesetzt, der sich feministisch gibt und als Allegorie auf Beschaffungsprostitution betrachtet werden kann, der jedoch leider zu infantil und billig ausgefallen ist, um an Genrefilm-Vorbilder aus dem 20. Jahrhundert anknüpfen zu können.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Di 19. Jan 2021, 18:54
von buxtebrawler
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Das Leben der Anderen

„Irgendwann musst du Position beziehen, sonst bist du kein Mensch!“

Autor und Regisseur Florian Henckel von Donnersmarcks Debüt im Bereich des abendfüllenden Kinofilms, „Das Leben der Anderen“ aus dem Jahre 2006, wurde vielfach ausgezeichnet und gilt nicht Wenigen als gelungener Beitrag zur Aufarbeitung der Umtriebe der DDR-Inlands-Stasi. Es handelt sich um ein Politdrama mit melodramatischen Zügen und dem Anspruch historischer Akkuratesse und Authentizität. Der bundesrepublikanisch sozialisierte von Donnersmarck arbeitete mit historischen Beratern zusammen, betonte aber zugleich sein Recht auf Fiktionalität und die Inanspruchnahme künstlerischer Freiheit.

Gerd Wiesler (Ulrich Mühe, „Funny Games“), Hauptmann des Ministeriums für Staatssicherheit (kurz: MfS, umgangssprachlich: Stasi) soll im Jahre 1984 im Ostteil Berlins den angesehenen Dramatiker Georg Dreyman (Sebastian Koch, „Tödlicher Umweg“) überwachen und wird von seinem Vorgesetzten Grubitz (Ulrich Tukur, „Die Axt“) geradezu darauf getrimmt, belastendes Material gegen Dreyman zu sammeln. Was er zunächst nicht ahnt: Grubitz wiederum handelt auf Anweisung des Kulturministers Bruno Hempf (Thomas Thieme, „Der Untergang“), dessen Motive ausschließlich persönlicher Natur sind: Er möchte Dreymans Freundin, die Schauspielerin Christa-Maria Sieland (Martina Gedeck, „Tiger, Löwe, Panther“), allein für sich haben. Wiesler bezieht mit seiner Abhörstation den Dachboden des Hauses, in dem Dreyman lebt, und verwanzt dessen Wohnung. Nach und nach kommt der alleinstehende Wiesler hinter die wahre Motivation seines Auftrags und entwickelt Sympathien für die Welt der Kunst, der Literatur und der Freigeistigkeit, in die er durch seine Tätigkeit Einblicke erhält. Als er herausfindet, dass der bislang unverdächtige Dreyman tatsächlich einen DDR-kritischen Artikel für das westdeutsche Wochenmagazin „Der Spiegel“ verfasst, gerät er in einen Gewissenskonflikt…

Die DDR-Stasi war ein gutes Beispiel für einen sich weitestgehend selbst überlassenen, kaum und schon gar nicht demokratisch kontrollierten, aber mit einer Vielzahl an Befugnissen ausgestatteten Inlandsgeheimdienst und die negativen Auswüchse, die eine solche Institution entwickeln kann – insbesondere, wenn es sich um eine stalinistisch geprägte Behörde innerhalb eines hyperbürokratischen Sozialismus im Kalter-Krieg-Zustand unter Führung sich an die Macht klammernder, altersstarrsinniger, unter zunehmendem Realitätsverlust leidender, paranoider alter Männer handelt. Mit dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts kollabierte auch die DDR, die daraufhin in den ersten freien Wahlen 1990 gewissermaßen „abgewählt“ wurde. Die umfangreichen Aktenarchive des MfS wurden in der gesamtdeutschen Bundesrepublik offengelegt und offenbarten ein unfassbares Ausmaß an Bespitzelung der eigenen Bevölkerung.

Von Donnersmarck versucht gar nicht erst, dies vollumfänglich begreifbar zu machen, sondern beschränkt sich auf einen exemplarischen Einzelfall. Dieser jedoch ist fiktional – und zwar in einem Ausmaß, dass er sich wohl nicht einmal theoretisch so hätte abspielen können. Nicht nur lässt von Donnersmarck die DDR der Mitte der ‘80er wirken wie zu Stalins Zeiten, er lässt zudem seinen Stasimann auf dem Dachboden eigenhändig in die Schreibmaschine hämmern und – und das wiegt beinahe am schwersten – gesteht Wiesler eine charakterliche Entwicklung zu, wie sie nach aktuellem Kenntnisstand in der Realität bei den hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter(innen) keine einzige Entsprechung hatte. Das ist womöglich gut gemeint, soll Umdenken auch bei härtesten Partei- und Stasisoldaten im Zuge von Glasnost und Perestroika andeuten und auf das Gute im Menschen, das angeblich in jedem stecke, sowie an die Kraft der Kunst, die diese hervorzubringen vermag, verweisen, einen Beitrag zur Aussöhnung leisten. Allein: authentisch ist das nicht.

Hätte von Donnersmarck es mit seiner historischen Akkuratesse ernstgemeint, hätte er, wollte er ein realistisches Bild hauptamtlicher, auf Kulturschaffende losgelassene Inlands-Stasispitzel zeichnen, auf eine ganz andere Figur zurückgreifen müssen: auf eine einfältig kleinbürgerliche, bürokratische, autoritätsfreundliche und obrigkeitshörige, der zu viel individuelle Freiheit und Intellekt suspekt sind und die kaum ein Gespür für Kunst besitzt – eben jemanden, wie man ihn auch heutzutage zuhauf in deutschen Behörden, insbesondere den Sicherheitsorganen, findet. Erschwerend kommt hinzu, dass auch die persönliche Vorteilnahme als Überwachungsmotiv alles andere als exemplarisch ist. Und damit nicht genug: Von Donnersmarck dichtet der Stasi auch noch hauseigene Prostituierte an, die ebenfalls überhaupt nicht überliefert sind. Da ging anscheinend ganz schön die lebhafte Fantasie eines Nachwuchsfilmemachers mit ihm durch.

Als geradezu frauenverachtend muss sein Versuch bezeichnet werden, Verständnis beim Publikum dafür zu wecken, dass DDR-Bürger(innen) sich vom MfS einschüchtern und zu inoffiziellen Mitarbeitern instrumentalisieren ließen. Er macht die einzige Frau im Figurengefüge erst zu einer Art Nutte, dann zur Verräterin, lässt sie schließlich, als habe sie zu große Schuld auf sich geladen, sterben – und erweist ihr bzw. seinem Unterfangen damit einen Bärendienst. Spätestens an diesem Punkt ist „Das Leben der Anderen“ zu einem ärgerlichen, weil manipulativen Melodram verkommen. Sein versöhnlicher Epilog mit den tonnenschweren Streichern auf der Tonspur wirkt dann auch wie behelfsmäßig drangepappt, statt die Geschichte glaubwürdig abzurunden.

Das ist alles sehr bedauerlich, denn einiges hat man doch richtig gemacht: Schauspielerisch gibt es kaum etwas zu beanstanden, bis hin zu Charly Hübners (Rostocker „Polizeiruf 110“) komödiantische Nebenrolle als häufig zu spät kommender, etwas tumber Assistent Wieslers sind die Rollen, so fragwürdig sie auch sein mögen, exzellent besetzt und verkörpert. Und die Kamera ist stets nah an ihnen dran, wenngleich das karge Interieur ohnehin kaum für reizvolle Bilder getaugt hätte. Die Handlung an sich ist dramaturgisch über weite Strecken annehmbar erzählt – wäre jedoch in einem fiktionalen Staat wesentlich besser aufgehoben gewesen, sodass sich möglicherweise allgemeingültigere Schlüsse hätten ziehen lassen. So aber suggeriert der Film, sich speziell mit der jüngeren deutschen Geschichte auseinanderzusetzen und liefert damit ein Zerrbild, das jeglicher seriöser Aufarbeitung konträr entgegensteht, und versucht er sich an einer psychologischen Annäherung an die Inlands-Stasi, an der er scheitert.

Wer sich von „Das Leben der Anderen“ neue Erkenntnisse oder einen Zugang zu mehr Verständnis für irrwitzig anmutende MfS-Aktionen erhofft, ist leider an der falschen Adresse. Von Donnersmarck erzählt eine gruselige Räuberpistole, die die Macht von Geheimdiensten kritisiert und eine Option konstruiert, die destruktive Seite dieser Macht in etwas Positives umzuwandeln, stützt sich dabei jedoch auf Teile realer deutscher Geschichte, die er bis zur Unkenntlichkeit für seine Idee in Form presst, um eine publikumswirksame Spielfilmnarration zu erreichen. Dabei bezweifle ich, dass die Realität derart langweilig war, dass sie dies nötig gehabt hätte. Immerhin erreichte „Das Leben der Anderen“ ein breites Publikum, das sich selbstgefällig kräftig auf die Schultern klopfen durfte: Wie gut, dass der ganze Stasi-Spuk überstanden ist! Wen interessieren da noch Hintergründe, Realität und die Geheimdienstverbrechen der Gegenwart?

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Do 21. Jan 2021, 15:58
von buxtebrawler
Tatort: Kressin und der Laster nach Lüttich

„Die Franzosen haben Lüttich fünfmal erobert!“

Knapp zwei Monate nach Zolloberinspektor Kressins erstem Einsatz innerhalb der damals noch jungen „Tatort“-TV-Krimi-Reihe, genauer: in der fünften Episode vom 7. März 1971, durfte Sieghardt Rupp den Kölner Beamten erneut verkörpern. Das erneut von Wolfgang Menge verfasste Drehbuch ließ ihn diesmal im eigenen Revier schnüffeln, schickte ihn jedoch – man ahnt es aufgrund des Titels – infolgedessen auf einen Ausflug ins belgische Lüttich. Mit der Regie betraute man Tom Toelle, einen bedeutenden deutschen Fernsehregisseur, der u.a. für TV-Meilensteine wie die Skandaldystopie „Das Millionenspiel“ (zu der ebenfalls Menge das Drehbuch schrieb) oder die Fallada-Verfilmung „Der Trinker“ verantwortlich zeichnete. „Kressin und der Laster nach Lüttich“ blieb jedoch Toelles einziger „Tatort“.

„Können Sie sich vorstellen, was es heißt, Ihr Vorgesetzter zu sein?“

Kressin ist einer Schmugglerbande auf der Spur, die unverzollten Alkohol nach Westdeutschland einschleust, indem sie ihn, per Lkw aus Osteuropa kommend, als Leinölfirnis oder Schwefelsäure deklariert und nach Belgien bringt. In einem Versteck nahe der Autobahn wird der Stoff gegen die in den Papieren angegebene Ware ausgetauscht, sodass es an der belgischen Grenze nichts zu beanstanden gibt. Seit die Bande den Inkognitofahnder Vondracek (Manfred Seipold, „Unter den Dächern von St. Pauli“), der in einer Notsituation den Gangstern gegenüber einen meuternden Fahrer spielen musste, kaltblütig umgebracht hat, steht fest, dass sie vor nichts zurückschreckt und ihr schnellstmöglich das Handwerk gelegt werden muss. Kressin geht auf volles Risiko und schleust sich höchstpersönlich in die Bande ein…

Ganove Sievers (Ivan Desny), der in Kressins erstem „Tatort“ entkommen konnte, wird zu Beginn am Kölner Hauptbahnhof von Kressin beschattet und damit als eine episodenübergreifende Figur etabliert, die in scheinbar jedem schmutzigen Geschäft ihre Finger mit drin hat. Doch Kressin wäre nicht Kressin, würde er nicht zeitgleich eine junge Frau (Katrin Schaake, „Whity“) umgarnen, die einen Spielzeugladen betreibt und einen Gepäckträger benötigt – aber stattdessen im leichtlebigen Zollfahnder ihren Liebhaber zumindest für die Länge dieser Episode findet. Diese widmet sich im weiteren Verlauf der Schmugglerbande und dem von ihr grausam verübten Mord: Vondracek wird von einem Lkw überfahren.

Handelte es sich bei Kressins erstem Einsatz noch um einen Crossover mit dem Hamburger Hauptkommissar Trimmel, muss Kressin hier mit dem eine Episode zuvor neu eingeführten Kölner Kommissar Lutz (Werner Schumacher) zusammenarbeiten. Im Dialog wird erläutert, weshalb diese Art Schmuggel besonders lukrativ ist und wie sie funktioniert, womit der Bildungsauftrag abgehakt wäre und man zum draufgängerischen Einsatz Kressins übergehen kann: Die Polizei stellt Teile der Bande und Kressin kapert ihren Lkw, um sich fortan als ihr Fahrer Paetzold auszugeben und gen Lüttich zu steuern. Die Folge sind eine Prügelei sowie Verfolgungsjagden und Stunts, wenn er auf der Rückfahrt von zwei Lastern in die Zange genommen wird. Kressins Vorgesetzter (Hermann Lenschau, „Die blaue Hand“) ist davon alles andere als begeistert.

Doch Kressin meint es ernst, behält seine Identität als Paetzold bei – und okkupiert die Wohnung seiner neuen Freundin Elisabeth, die er dadurch mit hineinzieht. Kressin wagt einen Alleingang ohne Kripo, was die im ersten Fall noch sehr dandyhaft gezeichnete Figur weiter charakterisiert: Hat er sich in etwas verbissen, nimmt er eigene Verluste billigend in Kauf, macht sich jedoch auch nichts daraus, Außenstehende zu involvieren und dadurch Gefahren auszusetzen. Infolge einer Konfrontation mit K.O.-Tropfen und falschen Sanitätern wird er dann auch übel zugerichtet, bis die ganze Angelegenheit in einer wüsten Schießerei mündet, durch deren Kugelhagel Kressin eilt und sich erneut am Kölner Hauptbahnhof beim Versuch, Sievers zu überführen, wiederfindet.

Obwohl aus Täter und Motiv keinerlei Geheimnis gemacht wird, ist der mit rund 80 Minuten auch knackig kurze „Tatort“ angenehm spannend und dank seiner Actioneinlagen durchaus aufregend ausgefallen. Hätte man aus Vondracek keinen Fahnder, sondern ein tatsächliches Bandenmitglied gemacht, hätte der Tote selbst Dreck am Stecken und der Fall damit eine schöne Parallele zum Vorgänger aufzuweisen gehabt. Nichtsdestotrotz wird die Handlung zeitweise durch einige seltsame Dialoge und unwahrscheinliche Zufälle vorangetrieben, was etwas schade ist. Zudem ist „Kressin und der Laster nach Lüttich“ längst nicht mehr so swingin‘ wie Kressins Debüt, dafür aber auch weit weniger überzeichnet. Aus heutiger Sicht besonders interessant: Das Zeitkolorit durch die Aufnahmen der Kölner Innenstadt.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Mo 25. Jan 2021, 16:34
von buxtebrawler
Tatort: Tödliche Flut

„Das ist jetzt unsere Leiche!“

Der vierzehnte „Tatort“ um den Hamburger BKA-Ermittler Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) – der achte für seine Kollegin Julia Grosz (Franziska Weisz) – wurde Ende 2019 gedreht und am 24.01.2021 erstausgestrahlt. Regisseur Lars Henning, der im Jahre 2018 bereits mit dem „Tatort: Der Turm“ innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe in Erscheinung getreten war, verfilmte ein Drehbuch David Sandreuters nach einer Idee Arne Noltings und Jan Martin Scharfs.

„Die scheißen auf den Naturschutz!“

Bundespolizist Thorsten Falke wird von einer ehemaligen Freundin, mit der er einst eine kurze Liebschaft hatte, um Hilfe gebeten: Es handelt sich um die Journalistin Imke Leopold (Franziska Hartmann), die ihre Kindheit auf der Nordseeinsel Norderney verbracht hat und nun, nach sie an ihre Belastungsgrenze und darüber hinaus führenden Außeneinsätzen u.a. in Kriegsgebieten, aufs Eiland zurückgekehrt und prompt schmutzigen Immobiliengeschäften auf der Spur ist. Doch niemand glaube ihr, sie werde sogar anonym bedroht. Falke jedoch zieht es zunächst einmal zum Geburtstag seines Sohns, wo er aber nicht sonderlich willkommen ist. Als Imke ihn verstört anruft und berichtet, gerade überfallen und gewürgt worden zu sein, reisen Falke und Kollegin Grosz nach Norderney. Gemeinsam mit Imke will man den Vorfällen auf den Grund gehen, findet jedoch als erstes Imkes Quelle, einen Anwalt und Immobilienmakler, tot in seinem Haus auf…

„Also ich find’s gemütlich hier.“

Henning lässt diesen „Tatort“ wie eine großangelegte Kinoproduktion mit imposanten Bildern und einem an klassisches Spannungskino erinnernden, dramatischen Orchester-Soundtrack beginnen, der eigens für diese Episode von der NDR-Philharmonie eingespielt wurde. Das schürt die Erwartungshaltung an diesen Fall, der mit spröden, faszinierenden Bildern des herbstlich-rauen Norderneys eine beeindruckende Atmosphäre schafft und ebenso nordisch unterkühlt wie melancholisch seine Geschichte erzählt: von Inselintrigen und Gentrifizierung, Ferienwohnungsbau trotz Wohnungsnot, rücksichtslosen Investor(inn)en und einem mit sehr selektiver Wahrnehmung ausgestatteten Bürgermeister. Aber auch von einer dreadgelockten Frau mit Mikropony, offenbar eine „Alternative“, die auf Norderney unbeliebt ist und trotzdem zur Femme fatale für manch Insulaner wird. Die mit der Flinte Kaninchen schießt und ihnen eigenhändig das Fell abzieht (die Kamera hält drauf…), die Verschwörungen wittert und die möglicherweise nicht immer ganz Frau ihrer Sinne ist.

„Diese Frau macht einfach immer und überall Probleme!“

Dass mit der (sich in einer Szene arg selbstzweckhaft oben ohne zeigenden) Journalistin etwas nicht so ganz stimmt und ihre Aussagen mit Vorsicht zu genießen sind, bestätigt die immer mehr zum Psychogramm werdende Handlung, riecht man der steifen Nordseebrise zum Trotz aber bereits zehn Meter gegen den Wind. Insofern ist es womöglich nicht die klügste Entscheidung gewesen, dramaturgisch auf ein Whodunit? zu setzen, zumal das arg gedrosselte Erzähltempo ohnehin lieber die Landschaftsaufnahmen auskostet als mal in die Vollen zu gehen. Dramaturgisch kommt dieser „Tatort“ außer zu Beginn und im Finale leider nie aus dem Quark. Der Aufhänger um die Gentrifizierung der Insel verkommt schnell zum reinen Beiwerk, das zu stören beginnt, wenn die Handlung es trotzdem immer wieder aufgreift. Im Dreiecksbeziehungsgeflecht der Figuren Falke, Grosz und Imke bleibt vieles unausgesprochen, was seinen Reiz hat, diesen unfokussiert erscheinenden „Tatort“ aber auch nicht über die Zeit rettet.

Das Finale hätte die Chance für nervenaufreibende Spannung und spektakuläre Rettungseinsatzszenen geboten, beschränkt seine Expressivität jedoch auf die letzten Interaktionen der beiden Hauptfiguren miteinander und lässt den Rest außerhalb des Bilds bzw. innerhalb eines Zeitsprungs geschehen. Ob es dem eigentlich so gewichtigen Thema der Gentrifizierung angemessen ist, damit verbundene unlautere Vorgänge als Hirngespinste einer durchgeknallten Frau darzustellen, die – natürlich – optisch an alternative Milieus erinnert, sei einmal dahingestellt. Böses unterstellen möchte ich an dieser Stelle indes nicht, wenngleich es mitunter verdächtig nach Diskreditierung eines bestimmten Menschenschlags riecht und die psychologischen Erklärungsversuche halbherzig bleiben. Fazit: Tolle Bilder von Insel und Meer, Spitzenmusik und ein gut aufgelegtes Ensemble auf der Habenseite – die jedoch unter einer schwachen Handlung und einer Inszenierung, die dramaturgisch einem Schlag ins Wasser gleicht, leidet.