Re: Sex Education [Web-Serie] - Ben Taylor, Kate Herron u.a. (2019)
Verfasst: Mi 19. Feb 2025, 16:51
von buxtebrawler
Sex Education [Staffel 4]
Die Geschichte der O
„Ich schick‘ Dickpics überall rum, was ist schon dabei?“
Sexualkunde, die finale Staffel: Mit den sieben knapp einstündigen Episoden und dem Finale in Spielfilmlänge der vierten Staffel verabschiedet sich die zuletzt immer soapiger gewordene Dramödie mit Aufklärungsanspruch „Sex Education“ von ihren Zuschauerinnen und Zuschauer sowie allen dazwischen und außerhalb beim US-Video-on-Demand- bzw. Streaming-Anbieter Netflix. Am 21. September 2023 wurde die Staffel bereitgestellt, bei der Dominic Leclerc, Michelle Savill und Alyssa McClelland die Regie führten. Jede Episode wurde von einer anderen Person geschrieben, Serienerfinderin Laurie Nunn schrieb den Staffelauftakt.
„Nicht alles ist Therapie, Otis!“
Im Vorfeld war bereits bekanntgeworden, welche Figuren für eine vierte Staffel nicht mehr zur Verfügung standen. Dafür bekommt man es nicht nur mit einer Vielzahl neuer Rollen zu tun, sondern auch mit einem geänderten Umfeld: Die Moordale Secondary School wurde von Amts wegen geschlossen; wer weiterhin zur Schule geht, tut dies am Cavendish College – und dort weht ein anderer Wind. Nein, nicht etwa ein strengerer, sondern ein wesentlich liberalerer. Man legt dort Wert auf Fortschrittlichkeit und Diversität sowie möglichst viel Selbstverwaltung durch die Schülerinnen und Schüler. Otis (Asa Butterfield, „Der Junge im gestreiften Pyjama“) möchte dort seine Sexualtherapiestunden fortführen, sieht sich jedoch mit einer Konkurrentin, die sich geheimnisvoll (warum auch immer, thematisiert wird dies nie) nur O (Thaddea Graham, „Us“) nennt, konfrontiert: Sie ist als Beraterin an der Schule längst etabliert. Otis‘ mehr oder weniger feste Freundin Maeve (Emma Mackey, „Badger Lane“) hat es von Kanada in die USA verschlagen, um dort Schriftstellerei zu studieren. Doch beiden fällt die räumliche Distanz zueinander schwer – und der beliebte Autor Mr. Molloy (Dan Levy, „Geistervilla“), an dessen Kurs Maeve teilnimmt, zeigt sich nicht sonderlich angetan von Maeves Talent.
„Komm, lass uns zusammen beten!“
Der homosexuelle Eric (Ncuti Gatwa, „Stonemouth – Stadt ohne Gewissen“) ist von der neuen Schule begeistert, gibt dort doch eine ausgesprochen sympathische Clique, die aus dem transsexuellen Liebespaar Abbi (Anthony Lexa) und Roman (Felix Mufti) sowie deren schwerhöriger Freundin Aisha (Alexandra James) besteht, den Ton an und steht ganz oben in der Hierarchie. Aimee (Aimee Lou Wood, „Die wundersame Welt des Louis Wain“) hat den sexuellen Übergriff noch nicht verarbeitet, lässt sich von Rollstuhlfahrer Isaac (George Robinson, „Dalgliesh“) aber in die Kunst einführen und entdeckt die Fotografie als ihr Ventil, während sich auch etwas mehr als reine Freundschaft zwischen den beiden entwickelt. Jackson (Kedar Williams-Stirling, „Wolfblood – Verwandlung bei Vollmond“) entdeckt ein Geschwulst an seinem Hoden und will von seinen beiden Müttern (Sharon Duncan-Brewster, „Eine Hochzeit zu dritt“ und Hannah Waddingham, „Game of Thrones“) endlich wissen, wer sein leiblicher Vater ist. Seine beste Freundin Viv (Chinenye Ezeudu, „Ich schweige für dich“) lacht sich in Mitschüler Beau (Reda Elazouar, „Voyagers“) einen krankhaft misstrauischen, eifersüchtigen und übergriffigen Psycho an. Eric wiederum sieht sich selbst als gläubiger Christ, hadert aber damit, sich in seiner Gemeinde taufen zu lassen, da er deren Homophobie fürchtet. Die transsexuelle Cal (Dua Saleh) durchlebt seit ihrer Testosterontherapie eine zweite Pubertät und kommt damit nur schwer klar.
Die tussige Ruby (Mimi Keene, „EastEnders“), die ihre soziale Herkunft mit ihrem überschminkten und arroganten Auftreten kaschiert, muss feststellen, dass an dieser Schule andere Maßstäbe gelten, die nun sie zur Außenseiterin machen. Sie unterstützt Otis bei der Wahl zum Schulsexualtherapeuten, weil sie mit O noch eine alte Rechnung zu begleichen hat. Der ehemalige Schulleiter der Moordale, Michael Groff (Alistair Petrie, „Rogue One: A Star Wars Story“), hat eine Anstellung an der neuen Schule gefunden, kommt seit der Trennung von seiner Frau Maureen (Samantha Spiro, „From Hell“) privat aber auf keinen grünen Zweig mehr und plagt sich mit Erektionsproblemen. Sein bisexueller Sohn Adam (Connor Swindells, „Keepers – Die Leuchtturmwärter“) hat die Trennung von Eric gerade so verkraftet und beginnt eine Ausbildung auf einer Farm.
Und die eigentliche Sex-Therapeutin, Otis‘ Mutter Jean (Gillian Anderson, „Akte X“)? Diese ist überfordert mit ihrer Rolle als unverhofft noch einmal alleinerziehende Mutter der kleinen Joy gewordene Mitvierzigerin, die zudem wieder in ihrem Beruf arbeiten möchte – genauer: beim Radio, für das Produzentin Celia (Hannah Gadsby, „Please Like Me“) Personal für eine Call-in-Therapiestunde sucht. Otis guckt sich das eine Weile mit an und holt dann eigenmächtig Hilfe in Person Joannas (Lisa McGrillis, „Last Night in Soho“), Jeans jüngerer Schwester, herbei, die kurzerhand einzieht und Jean unterstützt – aber auch ihr unstetes Privatleben und unaufgearbeitete geschwisterliche Konflikte mitbringt…
Eine Menge los also wieder. Alles beginnt mit einer witzig gemachten Rückblende, in der Jean vorliest, was bisher geschah, und dabei mitunter selbst erstaunt ist. Erstes aufgegriffenes Thema ist der gegenseitige Versand persönlicher Nacktbilder anhand Otis‘ und Maeves Fernbeziehung. Maeve findet nichts dabei, doch Otis ziert sich. Eric ermutigt ihn, es ihr gleichzutun. Ich will gewiss kein Spielverderber sein, aber vielleicht wäre es educational, wenigstens ein bisschen, kurz, so ganz am Rande, darauf hinzuweisen, welche Risiken es birgt, derart vertrauliches Material per von Oligarchen und Arschlöchern wie Musk und Zuckerberg betriebenen Diensten durchs Internet zu jagen. Es dauert nicht lange, bis mich die Serie aufs Glatteis führt: Die neue Schule entpuppt sich als derart superwoke, öko und hyperkorrekt sowie modern ausgestattet, dass ich davon ausgehe, dies werde im weiteren Verlaufe aufs Korn genommen und gezeigt, dass es sich hinter der Fassade um ein scheißautoritäres oder sektenartiges Bildungsinstitut handelt. Doch dem ist nicht so, alle Übertreibungen sind offenbar ernstgemeint und Kritik an der Schule wird im weiteren Verlaufe lediglich daran geübt, dass sie nicht barrierefrei genug für Rollifahrer Isaac ist. Für Lacher sorgt die erste Episode mit dem entbrennenden Konkurrenzkampf zwischen Otis und O, in dessen Zuge Otis versehentlich seine Dickpics auf einen Bigscreen projiziert. Der Fokus liegt jedoch auf den Schwierigkeiten einer Fernbeziehung, als Fazit empfiehlt die Episode Telefonsex miteinander und Selbstbefriedigung.
Episode 2 thematisiert Prostatastimulation sowie den Leidensdruck, den trans- und homosexuelle Christinnen und Christen in intoleranten Gemeinden verspüren (und diese Serie macht es möglich, beides in einem Satz unterzubringen). Am Beginn von Erics Auseinandersetzung mit dem Thema steht der Druck, den seine Mutter auf ihn ausübt. Ferner plagt sich Otis mit Eifersucht auf Maeves durchtrainierten neuen Kumpel Tyrone (Imani Yahshua) – unnötigerweise, denn dieser ist schwul. Ruby sucht Anschluss und macht nun auch auf woke, Jean ist während ihrer ersten Radiosendung fahrig, die Wiederannäherung Michaels an seine Familie gestaltet sich schwierig und Otis therapiert Roman, der ein 17-jähriger Schüler sein soll, aber bereits großflächig tätowiert ist. Ja nee, is‘ klar… Positiv anzumerken ist aber, dass neben Dua Saleh als Cal auch die beiden neuen transsexuellen Rollen von tatsächlichen Transsexuellen gespielt werden. Und bei beiden ist die Transition offenbar derart gut gelungen, dass ich dies zunächst gar nicht bemerkte.
Die dritte Episode etabliert einen Handlungsstrang, der bis zum Schluss nicht an Bedeutung verlieren wird: Eine Rückblende zeigt, wie Ruby als Kind von ihren Eltern in ein Ferienlager gesteckt wurde, woraus hervorgeht, dass sie aufgrund ihrer sozialen Herkunft gemobbt wurde. Sie findet dort eine Freundin, von der sie glaubt, ihr vertrauen zu können, die sie aber nach einem Malheur Rubys verrät und dem Gespött der Mitschülerinnen ausliefert. Bei dieser Person handelt es sich um niemand Geringere als O. Adam nimmt Fahrstunden bei seinem Vater, wodurch sie wieder miteinander zu reden beginnen, Joanna hat ein Rendezvous und Isaac führt die in dieser Staffel noch einmal besonders schräge Aimee an die Kunst heran, womit die Serie auf nachvollziehbare Weise transportiert, welch heilsame Wirkung es haben kann, eine persönliche, individuelle künstlerische Ausdrucksform zu finden. Etwas zu lachen gibt’s beim Videodreh für Otis‘ Wahlkampf, den Ruby federführend in die Hand genommen hat. Im Mittelpunkt steht aber Rubys traumatisierende Grundschulzeit, es werden jedoch auch viele weitere kleine Geschichten (weiter-)erzählt – womit besonders diese Episode etwas überladen wirkt. Dass Maeve zurück nach Hause kommt, sorgt einerseits für Freude bei Otis, birgt aber auch weitere Dramatik.
Diese verursacht nicht nur Maeve bzw. Otis‘ Umgang mit ihr und Ruby, sondern vor allem Maeves Mutter, die mit einer Überdosis ins Krankenhaus eingeliefert wird. Als sie sie mit ihrem Bruder Sean (Edward Bluemel, „Killing Eve“) besuchen will, erfährt sie, dass sie bereits verstorben ist. Diese Episode nimmt sich mehr Zeit und presst nicht sämtliche Handlungsstränge zusammen, wodurch sie auch die nötige Sensibilität für den Umgang mit dem Tod aufbringt. Kuriosum der Episode ist’s, dass Jean für ihre Radiosendung eine Co-Therapeutin an die Seite gesetzt bekommt: O.
Leider rutscht die Staffel mit Episode 5 vollends ins Unrealistische ab, als ein Kinobesuch, bei dem sich alle Welt plötzlich einen uralten Schwarzweiß-Schinken ansieht (?!), zur Farce gerät. Zudem tut man so, als müsse Otis es Maeve unbedingt sagen, dass er während ihrer Abwesenheit einmal versehentlich mit Ruby in deren Bett eingeschlafen ist – in voller Montur und ohne, dass irgendetwas passiert wäre. Welch ein Blödsinn. Die Debatte zwischen Otis und O vor Schulpublikum bleibt hinter den Erwartungen zurück und ist geprägt von persönlichen Anschuldigungen.
Phantastische Elemente führt die sechste Episode ein, indem Eric religiöse Träume und Visionen hat, was hart an der Kitschgrenze kratzt. Auch Jackson wird von surrealen Visionen geplagt. Fragen wirft zudem auf, weshalb zur Hölle ein Video existiert, das O als Kind Ruby drangsalierend zeigt und plötzlich ohne weitere Erklärung aus dem Hut gezaubert wird. Und weshalb suggeriert die Serie, dass sich eine 17-Jährige für etwas rechtfertigen müsse, was sie als dummes Kind getan hat, und ist damit enorm nachtragend? Herbeigezaubert wird auch eine sexuelle Störung Otis‘, der beim Sex an irgendein Kindheitstrauma mit seiner Mutter denken muss. Der Fokus wird jedoch auf die Trauerfeier für Maeves und Seans Mutter gerichtet, die ebenfalls zwischen Farce und Kitsch changiert. Der Geschwisterkonflikt zwischen Jean und Joanna droht sich zuzuspitzen, als sich derjenige, mit dem Joanna sich nun trifft, als Jeans Ex und Vater der kleinen Joy entpuppt. Ja, bei der Dramaturgie hilft auch der Zufall kräftig mit und erinnert verstärkt an Seifenopern der nervigen Sorte.
Episode 7 beginnt mit einer Rückblende in Jeans und Joannas Kindheit, die Einblicke in die Entstehung der eigenartigen Beziehung der beiden zueinander gewährt. Im weiteren Verlauf werden sie sich böse in die Haare kriegen. Wieder greift man in die Zauberkiste und holt einen dritten sich zur Wahl stellenden Sexualtherapeuten hervor, womit die Handlung immer beliebiger wirkt. Das Plädoyer für Barrierefreiheit auf Grundlage des defekten Fahrstuhls, der Isaac vor unlösbare Probleme stellt, wird damit vermengt, mehr Rücksicht auf Schwerhörige oder Taube zu nehmen. So gut das alles gemeint ist und so sehr diese Episode zum friedlichen Protest und zivilen Ungehorsam aufruft, umso schwülstiger und kitschiger wird „Sex Education“ leider auf seinem Weg zum Finale. Um doch noch einmal tiefgehende Gefühle zu präsentieren und die Zuschauerschaft emotional zu packen, treffen Maeve und Otis Entscheidungen, was ihre Beziehung betrifft, und erhalten eine schöne, romantische Sexszene – die im Gegensatz zu den meisten anderen dieser Serie tatsächlich ohne Klamotten stattfindet. Für gewöhnlich suggeriert „Sex Education“, man behalte beim Koitus seine Kleidung an. Das eigentlich todtraurige Ende ist filmisch gut gemacht.
Das extralange Finale rückt eine Nebenhandlung in den Fokus, indem sie sich auf die Suche nach dem/der verschwundenen Cal konzentriert. Mit Absagen an die homophobe Kirche und an toxische Positivität (endlich!) punktet man noch einmal, bevor ein vollumfängliches Happy End den Reigen schließt: Alle finden immer die richtigen Worte und ändern sich zum Positiven, womit „Sex Education“ endgültig im herbeifantasierten Blümchen-Bienchen-Lala-Wunderland angekommen ist.
Diese vierte Staffel ist eine überaus ambivalente Angelegenheit. Auf der einen Seite haben wir gut weiterentwickelte vertraute und nicht uninteressante neue Figuren, mittels derer die Serie jedoch ein deutlich überdurchschnittliches Gewicht auf Transsexuelle legt. Mit O ist sogar erstmals eine asexuelle Figur dabei. Die Serie ist weiterhin superb geschauspielert und ihre sexpositive Ausrichtung in diesen immer prüder werdenden Zeiten nach wie vor erfrischend. Um Unaufdringlichkeit bemüht, aber auch ohne Rücksicht auf Realismus, ist die Handlung ein unmissverständliches Plädoyer für Diversität und Akzeptanz, Offenheit, Body Positivity und Solidarität sowie gegen falsche Angst vor Therapien und Vorsorgeuntersuchungen, gegen Rassismus, Ableismus und Klassismus. Das bedeutet aber auch, salopp formuliert: Adipöse haben keinerlei Problem, Sexualpartner zu finden und der Gelähmte bekommt die heißeste Blondine. Eine schöne Scheinwelt, in die sich „Sex Education“ da hineinmanövriert hat und ganz Seifenoper-typisch auch nicht davor zurückschreckt, Figuren wie Jeans Schwester zu erfinden, von denen vorher nie die Rede gewesen ist, um die Handlung irgendwie voranzubringen.
Licht und Schatten halten sich in dieser letzten Staffel die Waage – und die übertrieben lauten Musikeinlagen nerven wie Sau.