Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo
Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo
Deutschland 1981
Regie: Uli Edel
Natja Brunckhorst, Thomas Haustein, Jens Kuphal, Rainer Woelk, Jan Georg Effler, Christiane Reichelt,
Daniela Jaeger, Kerstin Richter, David Bowie, Eberhard Auriga, Peggy Bussiek, Lothar Chamski
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OFDB
Das Buch
Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo habe ich damals gelesen. Damals, das müsste so 1979 rum gewesen sein, auf der Höhe der, ich nenne es jetzt mal so, Popularitätswelle, als die Artikelserie im Stern lief, und das Buch danach sämtliche Bestsellerlisten Deutschlands im Sturm nahm. Weder dem Buch noch dem Bericht konnte man damals entkommen, und selbstverständlich waren die eigenen Eltern, ich war gerade 13 und damit im gleichen Alter wie Christiane F. in ihrer Erzählung, an vorderster Front und schenkten mir das Buch vor einem Urlaub als Lektüre. Also las ich das Buch. Und las es wieder. Und wieder. Insgesamt habe ich Christiane F. fünfmal gelesen, womit es in meiner persönlichen Rangliste gleichauf mit Tolkiens
Der Herr der Ringe und Kästners
Das fliegende Klassenzimmer steht.
Wieso liest man so ein Buch fünfmal? Vor allem innerhalb von geschätzt 10 Jahren oder weniger? Ist die Schilderung der absoluten Selbstzerstörung nicht abstoßend genug? Oder ist die eigene Demütigung der Erzählerin am Ende sogar anziehend? Nun, zum einen ist trotz der drastischen und eindringlichen Schilderung sicher eine gewisse Identifikation da gewesen. Die damalige eigene Scene in der relativ kleinen Stadt, obwohl bei weitem nicht so extrem im Drogenkonsum, konnte in der persönlichen Sicht mit den dort dargestellten Personen durchaus gleichgestellt werden. Die Worte, die man dort bei den seltsam aussehenden Leuten lernte, waren stark. Waren anders. Großstädtisch und abgeklärt. Die Eltern verstanden einen nicht mehr. Was ebenfalls stark war. Die Faszination einer Welt ohne Erwachsene und mit Regeln, die man nach einem gewissen Muster scheinbar durchaus selber bestimmen konnte, war da und ließ mich jahrzehntelang nicht mehr los. Es ist kein Traumleben das in diesem Buch geschildert wird, ganz bestimmt nicht. Aber es schildert unglaublich anschaulich eine Parallelwelt voller Farben und Glücksmomente, die es in unserer Stadt damals jedenfalls so nicht gab. Zumindest nicht für uns. Eine gewisse Anziehung war also auf jeden Fall gegeben. Und gleichzeitig war ich 13 oder 14 oder 15 – Also noch viel zu jung für Discos wie das
Sound. Geheime Orte voller geheimer Rituale, die mich Jahre später selber wesentlich geprägt haben, aber in dieser Zeit vor allem unglaublich verlockend waren ...
Und gleichzeitig glaube ich auch, dass später, als wir in die große Stadt umgezogen waren, mich dieses Buch durchaus davon abgehalten hat, komplett in die Scheiße zu rutschen. Unbewusst zwar, aber Möglichkeiten hätte ich genug gehabt. Anderen ging es genauso, aber bei denen war entweder das Buch nicht im Schläfenlappen eingebrannt, oder die Gravitation war größer als der Ekel. Wer weiß …
Kürzlich gab es nun also den Film. Mehr als 40 Jahre nach seinem Entstehen habe ich WIR KINDER VOM BAHNHOG ZOO tatsächlich das erste Mal gesehen! Und was soll ich sagen – Der Film ist eine riesige gottverdammte Zeitreise! Wäre ja schließlich bei einem Film aus dem Jahr 1981 auch merkwürdig, wenn dem nicht so wäre. Aber die Bilder sind nach den vielen vergangenen Jahren und den vielen bunten Entwicklungen teilweise wie ein Schock. Die Klamotten, die Gesichter, wie sich die Jugendlichen geben und wie sie sich ausdrücken, das Grau in den Städten, die Musik, und überhaupt das ganze Außenrum. Heute sind die Städte erheblich bunter geworden, und vor allem auch erheblich grüner. Das kann man sich mittlerweile gar nicht mehr vorstellen, dass die Städte in Deutschland damals so grau waren, und nur durch die altmodischen Neonreklamen und die bunten Autos aufgehübscht wurden. Der Punk, der genau in dieser Zeit hochkam, hat das Grau, den Beton und das Neon dann zum Stilmittel erklärt, aber bis dahin war das Leben in den Städten – Grau. Keine Bäume, jede Menge Hochhäuser, viel Verkehr (ja, damals schon, zumindest tagsüber), und da ist man in verwaschenen Jeans mit Schlag, in Stiefeletten und mit grünem Parka durchgelaufen auf der Suche nach einem kleinen Stückchen Glück. Oder Farbe. Oder beidem. Drogen waren eine Möglichkeit an beides zu kommen, und ich habe in meinem Leben mehr als einen Freund und viele Bekannte an Drogen verloren. WIR KINDER VOM BAHNHOF ZOO zeigt mit seinen Bildern von der Gropiusstadt und der Berliner Innenstadt genau diese Suche genau dieser Menschen, die damals unterwegs waren. Fast könnte man Gänsehaut bekommen bei so viel Authentizität. Klar, der Film ist aus dieser Zeit, aber er verschönt nichts und er hält auch nichts unter dem Deckel. Der Film zeigt eine Jugend in Deutschland, die damals gar nicht so ungewöhnlich war. Selbstverständlich gab es auch andere, die Angepassten und die Strebsamen, aber die hat man nicht gesehen. Gesehen hat man die Freaks und die Punks, die Drogenabhängigen und die Ausgestoßenen. Diese Jugendlichen prägten ab etwa der Mitte der 70er-Jahre die Stadtbilder und sie prägten, so ganz nebenher, auch die Leben der nachfolgenden Generationen. Denn ich glaube nicht, dass ich der einzige war, der von den coolen Typen und dem lässigen Gehabe auf dem großen Platz in der Stadtmitte so angezogen wurde. Vielleicht ging es zuerst auch nur ums Zuschauen, ums Dabeisein, bis man dann mit der Scene irgendwann eins wurde …
Es ist menschlich, sich an dem Untergang anderer zu ergötzen. Damit haben sich Generationen sogenannter Journalisten ihre Brötchen verdient, und die Schlangen von Schaulustigen an jedem noch so läppischen Autounfall sprechen die gleiche Sprache. Was aber den Film WIR KINDER VOM BAHNHOF ZOO vor allem auszeichnet ist, dass er sich genau diesem Voyeurismus verschließt. Es gibt keine unappetitlichen Sexszenen zu sehen, Natja Brunckhorst ist nur einmal kurz von hinten nackt zu sehen, und es gibt generell überhaupt keine exploitativen Momente. Es gibt Spritzen die in Armen stecken, es gibt Tote, und es gibt einen Entzug, und das sind sehr wohl alles Szenen die damals genauso wie heute abschrecken und unter die Haut gehen. Dafür ist die Liebesszene zwischen Christiane und Detlev so zart und liebevoll gefilmt, dass sie wirklich berührt, und für einen kurzen Moment sogar die Zeit stillstehen könnte für das glückliche unglückliche Pärchen. Aber aus Christianes Erfahrungen auf dem Babystrich wird kein exploitatives Kapital geschlagen, genauso wenig wie etwa aus dem Tod Axels. Die Kamera sieht entweder weg oder ist betont unaufdringlich, fast als ob sie peinlich berührt sei. Der daraus entstehende Respekt gegenüber den dargestellten Personen dürfte wohl der Hauptgrund sein, warum CHRISTIANE F. damals so erfolgreich war, und auch heute noch so berührt. Obwohl wir sehr nahe bei den Charakteren sind, und das Schicksal etwa von Babsi als Deutschlands (damaliger) jüngster Drogentoter sehr nahe geht, wird das Thema nicht sensationell ausgeschlachtet. Es findet keine Fleischbeschau statt, in keinster Weise, und das gibt dem Film seinen Realismus und seinen Ernst, auch über 40 Jahre nach seinem Entstehen. Was bleibt ist ein auf grausige Art faszinierender Gang durch eine andere Zeit und eine andere Welt, die einmal diejenige war die ich striff. In der andere gelebt haben. Und aus der einige, die ich kannte, nicht mehr zurückgekommen sind.
Für den Zuschauer steht die Zeit trotz dieser eingefrorenen Momentaufnahme nicht still, und stellenweise ist das Zusehen schon sehr hart. Die abschließende Kamerafahrt durch den Gang auf dem Bahnhof Zoo, bei der die Gesichter der Junkies ohne Kommentar in Großaufnahme abgefahren werden und ihr Leben als Schlaglicht gezeigt wird, das greift die Substanz genauso an wie die Schicksale von Christianes Freunden Alex und Bernd, die ohne die Drogen supernette und normale Jugendliche hätten sein können. Die Lebensdaten im Abspann versetzen dem Zuschauer dann noch den letzten Schlag, und dies sind Dinge, die man dann auch erst einmal verdauen muss. Erinnerungen an vergangene Freunde oder gar Geliebte kommen hoch. Lebt die eine noch? Von dem anderen weiß ich dass er tot ist. CHRISTIANE F. weckt diese Erinnerungen und macht nachdenklich. Wie kann man seine eigenen Kinder von Drogen fernhalten, wenn deren unglaubliche Faszination stärker ist als alles andere? Vielleicht sind die Bilder dieses Films sogar eine Möglichkeit, aber ob ein 40 Jahre alter Film bei den heutigen Jugendlichen noch diese Wirkung haben kann, das vermag ich nicht zu sagen. Bei mir altem Sack hatte er auf jeden Fall eine sehr durchschlagende Wirkung …
7/10