...und erneut habe ich mir einen italienischen Horrorfilm vorgeknöpft, den ich vor vielen Jahren, während meiner ersten Begeisterungswelle dem stiefelländischen Schauerkino gegenüber, ein-, wenn nicht sogar zweimal gesichtet hatte, den ich seitdem zwar als soliden Slasher in Erinnerung behielt, der mich nun aber erst bei unserer Wiederbegegnung regelrecht umgeblasen hat, so, als wäre mir eine Nachteule in vollem Flug gegen den Kopf geflattert, und hätte mich zu Boden gerissen...
Das hat, denke ich, vor allem mit der Gewandung des Killers zu tun, einem ehemaligen Schauspieler, der seit geraumer Zeit in einer Psychiatrie residiert, und der sich, um eine Theatertruppe Stück für Stück zu dezimieren, in die Schale einer besagten Nachteule schmeißt. Diesmal sind die Bezüge zum klassischen Surrealismus nicht auf meinen eigenen Mist gewachsen, sondern Michele Soavi droppt sie selbst 1996 in einem Interview, das im Band "Spaghetti Nightmares" von Luca M. Palmerini und Gaetano Mistretta abgedruckt ist, und wo er den Namen Max Ernst als Inspiration nennt - und tatsächlich stechen die Querverbindungen, die zwischen DELIRIA und insbesondere Ernsts Collage-Roman "Une semaine de bonté ou Les septs éléments capitaux" aus dem Jahre 1932 bestehen, wenn man erst einmal auf die richtige Spur gelangt ist, ins Auge wie ein Bunuel'sches Rasiermesser.
Wie Ernst beide früheren Collageromane - namentlich: "La femme 100 têtes" (1929), sowie "Rêve d’une petite fille qui voulut entrer au Carmel" (1930) - entsteht das Projekt auf Grundlage eines exorbitanten Fundus an Illustrationen von Groschenromanen und Enzyklopädien des 19. Jahrhunderts, die der deutschstämmige Surrealist primär verfremdet, indem er Bilddetails austauscht oder hinzufügt: So tauchen plötzlich Gürteltiere in geschlossenen Räumen auf; der männliche Part eines sich küssenden Liebespaars trägt riesige Fledermausflügel - oder aber die ursprünglich menschlichen Köpfe von Figuren werden durch diejenigen von Vögel ersetzt, wie man es in folgenden Beispielen schön (oder eher: furchterregend) sehen kann. (Gerade das Bild mit der mörderischen Krähe hat mir als Teenager Alpträume versetzt, als ich es zum ersten Mal als Cover einer Ausgabe mit Erzählungen Poes zu Gesicht bekommen habe - wahrlich Nachtmahrmaterial!; der Adler (?), der einer stürzenden nackten Frau ein Messer durch den Fuß rammt, ist natürlich auch nicht ohne.) Eine Handlung im konventionellen Sinne darf man dabei natürlich nicht erwarten, vielmehr funktionieren Ernsts Collageroman nahezu völlig ohne Worte als rein assoziative Bilderfolge. Vögel freilich spielen auch sonst in Ernsts Oeuvre eine wichtige Rolle - man denke allein an sein alter ego "Loplop", ein vogelähnliches Geschöpf, das das Ernst'sche Werk vor allem in den 20ern und 30ern begleitet, und in "Une Semaine de Bonté" gar als Erzählinstanz fungiert, oder aber an ein späteres Gemälde wie "La Toilette de la mariée" (1940), in dem dann auch endlich eine Eule, von denen es im Collageroman leider keine gibt, in Erscheinung tritt:
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Mir scheint Soavis Meucheleule indes, auch wenn er dazu im besagten Interview nichts verlauten lässt, mindestens genauso sehr von Ernsts Collagen inspiriert zu sein wie von einem ersten Versuch, die Vogel-Mensch-Hybriden des Künstlers fürs Kino fruchtbar zu machen. 1963 nämlich dreht Georges Franju, dessen frühe Kurzfilme wie vor allem die Schlachthausdokumentation LE SANG DES BÊTES (1949), wie ich finde, Surrealismus in Reinform darstellen, einen Spielfilm namens JUDEX, der schon allein im Titel auf ein Serial von 1916 gleichen Namens verweist: Inszeniert von Louis Feuillade, der zuvor mit LES VAMPIRES (1915/16) und insbesondere FANTÔMAS (1914/15) zwei absolute Favorites des Surrealistenkreises gedreht hat, ist JUDEX so was wie die familienfreundliche Variante der früheren Serien: Während bei FANTÔMAS ein anarchistischer Superverbrecher im Zentrum steht, der Moral nicht mal erkennen würde, wenn man sie ihm auf die Nase binden würde, agiert Held Judex ganz im Sinne des Gesetzes. Franju wiederum gestaltet seinen Film sowohl als Hommage wie auch als Update der Serie aus den 10er Jahren, und streut zusätzlich die eine oder andere Anspielung an die klassische Avantgarde in seinen nostalgischen Reigen - darunter eine Sequenz, in der Judex sich verkleidet als Vogel unter einen Maskenball mischt, wo auch seine Gegner und seine Liebste als Piepmätze weilen, und die versammelten Gäste mit ein paar Zauberkunststücken verblüfft. Diese gerade mal fünfminütige Episode dürfte zu den Glanztaten Franjus überhaupt zählen: Untermalt von einem Orchesterscore Maurice Jarres wirkt das Ganze sowohl bizarr wie absurd-komisch, vor allem aber ergreifend poetisch, und bildet zumindest für mich so etwas wie das märchenhaft-naive Gegenstück zu Soavis späterer Metzelorgie:
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Gewissermaßen schließt Soavi direkt hier an, wenn auch, wie gesagt, natürlich unter anderen Vorzeichen, denn unter seiner Vogelmaske verbirgt sich kein Rächer der Enterbten, kein Retter der Witwen und Waisen, kein Robin Hood der Großstadt, sondern eine Killermaschine, die emotionslos und absolut kontingent alles und jeden niedermetzelt, der ihr vor die diversen Waffen läuft. Eingesperrt im Theaterhaus, während draußen der Regen strömt, finden sich unsere Helden gefangen wie Fische in einem Aquarium wieder, (daher wohl auch der Alternativtitel AQUARIUS?), wobei der Plot so simpel wie effektiv ist, und nicht mit satirisch-selbstreflexiven Seitenhieben auf die schönen Künste, atmosphärisch dichten Nägelkau-Momenten, und weiteren zarten surrealistischen Anflügen geizt: Ich denke zum Beispiel an die Prämisse, wie der Killer es überhaupt ins Theater schafft, nämlich dadurch, dass zwei Castmitglieder in die nächstgelegene Psychiatrie fahren, da eine von ihnen über Fußgelenkschmerzen klagt, und, hey, auch eine Nervenheilanstalt ist ein Krankenhaus, oder?