Die seltsame Farbe Deines Körpers Tränen. Damit meinen Hélène Cattet und Bruno Forzani in ihrem zweiten Spielfilm natürlich nichts anderes als das Blut, das ihren Protagonisten in den erdenklichsten und unerdenklichsten Szenarien auf die vorstellbarste und unvorstellbarste Art und Weise abgezapft wird. Zugleich weist der, je nach Standpunkt, sperrige und/oder poetische Titel auf das filmische Verfahren hin, das schon ihr Langfilmdebut AMER dominiert hat. Ganz in surrealistischem Sinne werden Dinge, Menschen, Versatzstücke von was auch immer in einer Weise neu miteinander kombiniert, die vor allem hübsch anzuschauen ist und, falls überhaupt, erst auf den zweiten – oder dritten – Blick vom Zuschauer verlangt, dass er irgendeine klar verständliche Botschaft oder kohärente Geschichte aus ihr extrahiert. Seltsame Farben. Dein Körper. Seine Tränen. Das sind drei Schlagworte, die einander nicht unbedingt bedingen, und zusammenmontiert doch ihren (sprachlichen) Reiz haben. Im Chor klingen sie besser als das schnöde Substantiv Blut. Cattet und Forzani codieren, verschlüsseln bis zu dem Punkt, wo Code und Schlüssel wichtiger werden als das, wozu sie ursprünglich einen Zugang hatten schaffen sollen.
Dabei scheint L’ÉTRANGE COULEUR DES LARMES DE TON CORPS einer narrativen Struktur zunächst wesentlich stärker verpflichtet zu sein als das bei AMER der Fall gewesen ist. Letzterer reihte, wie man weiß, kaleidoskopartig drei Episoden aus dem Leben der Protagonisten Anna aneinander. Ein traumhaftes Erlebnis in ihrer Kindheit, das mit dem Tod ihres Großvaters, einer mysteriösen Uhr und ihrer Erstmenstruation zusammenhängt. Ein sonnendurchflutetes Erlebnis in ihrer Teenagerzeit, bei dem sie von ihrer Mutter recht brüsk in die Schranken ihrer Sexualität verwiesen wird. Ein gewalttätiges Erlebnis ihres Erwachsenendaseins, als sie ihr inzwischen leerstehendes Geburtshaus wiedersieht und mitten hinein in ein gialloeskes Blutbad stolpert. Dass AMER keine normale Geschichte erzählen, sondern vielmehr die Geschichte von Annas Sexualität in genrekonforme Bilder packen möchte, dürfte spätestens dann klar sein, wenn die erste Episode und die zweite sich nicht zwangsläufig aufeinander aufbauen, sondern eher wie zwei eigenständige Kurzfilme wirken, die mehr oder minder zufällig ineinander übergehen. AMER braucht jedoch nicht nur, weil seine Bilder so stark sind, gar keine Geschichte, um zu funktionieren. Das, was Anna begegnet, dürfte so ziemlich jedem Betrachter vertraut sein. Jeder hatte irgendwann seine erste Monatsblutung respektive seinen ersten nächtlichen Samenerguss. Jeder hat irgendwann einmal mit seiner Sexualität und mit seinen Eltern gehadert. Sicher, die wenigsten von uns dürften jemals von einem schwarzbehandschuhten Killer gehetzt worden sein, doch sollte man AMERs Szenarien sowieso nicht allzu wörtlich nehmen. Der Killer selbst ist ebenfalls nur wieder ein Symbol – sei es nun für die unterdrückte dunkle Seite von Annas Sexualität oder die in die Außenwelt projizierten negativen Gefühle, die ihr ihre Mutter einpflanzte -, für was auch immer. AMER ist prädestiniert dafür, auf der Couch eines Psychoanalytikers Platz zu nehmen. Freud und Lacan hätten ihre wahre Freude an ihm gehabt.
L’ÈTRANGE COULEUR DES LARMES DE TON CORPS setzt demgegenüber auf weniger Archetypisches. Wie gesagt, zunächst wirkt es, als ob Frau Cattet und Herr Forzani uns etwas erzählen wollen. Ein Mann, Michael, kehrt von einer langen Reise zurück. Von seiner Liebsten, Edwige, fehlt in der gemeinsamen Wohnung jede Spur. Er begibt sich auf die Suche nach ihr, und zwar innerhalb der Grenzen seines Wohnhauses. Dieses gleicht einem wahren Labyrinth. Hinter jeder Wohnungstür wartet eine andere bizarre Episode darauf, betrachtet zu werden. Spätestens nach einer Viertelstunde ist klar: auch Cattets und Forzanis Zweitling ist ein Film für die Augen, nicht für den Verstand. L’ÈTRANGE COULEUR DES LARMES DE TON CORPS sieht erwartungsgemäß phänomenal aus. Er wirkt wie ein Kompendium all der kreativen Einfälle, die das Regie-Duo in den letzten Jahren bereits in AMER oder ihren zahlreichen Kurzfilmen verarbeitet haben, und ergänzt diese durch neue. Kaum eine Szene gehorcht einer vertrauten Konvention. Das, was Regisseure wie Dario Argento, Mario Bava, Lucio Fulci im italienischen Genrekino bereits verwirklichten, wird hier bis zur Spitze und weit darüber hinaus getrieben. Beides, das rauschhafte Feiern des Styles über die Substanz, sowie die einen zuweilen nahezu erschlagende Überdosis an farbenfroher, tollwütiger Ästhetik ist sowohl Segen als auch Fluch des Films.
Was AMER schon mehr als zaghaft angedeutet hat, wird in L’ÈTRANGE COULEUR DES LARMES DE TON CORPS, je nach Rezipient, zur Geduldsprobe oder zum ultimativen Trip ohne Drogenzusatz. Während AMER gerne und häufig durch seine inflationären Detailaufnahmen und bewusst ungewöhnliche Schnitt- und Montagetechniken Verwirrung stiftet, hat er doch durch die Konzentration auf Hauptfigur Anna sowas wie einen roten Faden, den man so gut wie nie aus den Augen verliert. Dieser fehlt Cattets und Forzanis Körpertränenfarbenstudie. Obwohl Michael auch so etwas wie eine Hauptfigur ist, geht sein Identifikationspotential schnell in den hoch und höher schlagenden visuellen Wellen unter. Cattet und Forzani schießen sich erneut ein auf endlose Großaufnahmen, zusätzlich bringen sie die Chronologie der Ereignisse durcheinander, wechseln, meine ich, zwischen mehreren Traum- bzw. Realitätsebenen, verwischen Grenzen von Zeit, Raum und manchmal sogar Personen. Zugegeben: ich habe ab etwa der zwanzigsten Minuten kaum noch verstanden, worum es hier eigentlich gehen soll. Haben Cattet und Forzani somit vorgehabt, mir irgendetwas verständlich zu machen, sind sie gnadenlos gescheitert. Wollten sie mir einfach nur ihr Können darin beweisen, ein optisches Feuerwerk nach dem andern abzufackeln, hätten sie erfolgreicher nicht sein können.
L’ÈTRANGE COULEUR DES LARMES DE TON CORPS funktioniert als Experimentalkino, das nur zeigen, nichts sagen möchte. Wohl kaum eine cineastische Verfremdungsmöglichkeit bleibt unangetastet in ihm. Man kann ihn fasziniert anstarren, sich berauschen oder entführen lassen in Bewusstseinsregionen, die man normalerweise nicht über eine Leinwand betritt. L’ÉTRANGE COULEUR DES LARMES DE TON CORPS funktioniert definitiv nicht als Spielfilm, der unterhalten soll, der einen inhaltlich fesselt, der einem irgendwelche Aufschlüsse über die eigene bekannte sogenannte Realität gibt. Er wirkt wie eine Zusammenführung verschiedener Kurzfilme, die letztlich bloß eint, dass sie allesamt dem gleichen durchgeknallten Konzept folgen, und kann deshalb, über eine Laufzeit von weit über eineinhalb Stunden hinweg, sein Publikum, in der falschen Stimmung erwischt, wohl schneller ermüden als ihm lieb ist.