10/10, 5/10, 1/10 (ein Review bei der ofdb)...die Meinungen gehen also ziemlich auseinander...als höchst intelektueller Gelehrter habe ich Folgendes dazu zu sagen
:
Handlung:
Zeugs geschieht…manchmal.
Kritik:
Ich liebe es, wenn Filme ihr Hauptaugenmerk auf das Visuelle legen und damit versuchen Stimmung aufzubauen, während sie die Handlung eher in den Hintergrund rücken. Hier haben wir jedoch einen Film, welcher vor visuellen Stilmitteln überquillt, während er auf Handlung ganz verzichtet. Die Frage lautet nun: Funktioniert es, oder ist all zuviel doch ungesund?
Die ersten paar Szenen, in denen unsere Hauptcharakterin noch ein Kind ist, wirken dabei einfach noch wie eine stilisierte Vorgeschichte, bei der all die surrealen Einstellungen dazu dienen, das ungewohnte Weltbild eines Kindes auszudrücken. Doch dieser Stil endet und endet nicht. Irgendwann gab ich’s dann auf, auf eine Handlung zu warten, lehnte mich zurück und ließ einfach die Bilder auf mich wirken. Dies war eine wunderbare Erfahrung, die abstrakten Bildkompositionen konnten ungehindert Einzug in mein Hirn nehmen, wo sie meinen Geist mit Farben, Formen und Bewegungen in halluzinatorische Stimulierungen versetzten. Doch es endete nicht. Zirka zwanzig Minuten konnte ich mich gehen lassen und mit „Amer“ die Filmerfahrung meines Lebens machen, aber es wurde einfach zu viel. Nach einer gewissen Zeit beginnen einen die Bildkompositionen zu langweilen und man vermisst einfach eine Handlung oder einen roten Faden.
Warum ist das so? Nun, bei den Gialli zum Beispiel, mit denen „Amer“ ja so eifrig verglichen wird, benutzen Regisseure wie Argento oder Bava ihr Talent, was Kamera und Beleuchtung betrifft, um die Stimmung, welche im Film vorherrscht auf die Zuseher zu projizieren. Wenn in einem Argento-Film jemand Angst hat, schafft es der Meister uns auch Angst zu machen, wenn jemand erleichtert oder verwirrt ist, versucht der Regisseur auch das Publikum zu erleichtern oder zu verwirren. Die visuellen Stilmittel sind nicht dazu da, dass wir per se „fühlen“, sondern „mitfühlen“, was wesentlich einfacher zu bewerkstelligen ist. Dadurch, dass wir keinen blassen Schimmer haben, was bei „Amer“ eigentlich abgeht und was die Personen gerade empfinden, können wir ihre Gefühle nicht teilen. Sicher, manchmal können wir den Gemütszustand der Personen erkennen oder wir werden von den visuellen Eindrücken auch ohne Figurenvorlage in Stimmungen versetzt, aber dies fordert von den Zusehern eine ungeheure Menge an Konzentration, die sie wahrscheinlich nicht die ganze Laufzeit über aufbringen können. Dies bewirkt, dass „Amer“ streckenweise zu einem der tollsten Spektakel, die jemals über meine Wohnzimmerwand gelaufen sind wird, nur um dann, wenn ich nicht mehr in der Lage bin mich von der Bilderflut überrollen zu lassen, für einige Zeit einfach langweilig und verwirrend zu wirken.
Bei den Stilmitteln selbst, die verwendet werden, sind einige darunter, die ich besonders liebe und bei vielen neueren Filmen vermisse. So gibt es herrlich farbiges Licht, welches seinen farbpsychologischen Zweck zu erfüllen weiß; es gibt diese vielen Detailaufnahmen, die uns auch schon in Argentos Werken in klaustrophobische Zustände versetzten; Geräusche werden sehr laut und eindringlich eingespielt, dies vermittelt das Gefühl von geschärften Sinnen und versetzt uns in die Stimmung besonderer Anspannung (angespannt aus Aufmerksamkeit, Angst, Lust, etc. je nachdem wie es genutzt wird), ein Trick, den ich besonders von den Filmen des Tinto Brass her kenne.
Leider kommen mit dieser Flut von filmischen Kunstgriffen auch ein paar Nachteile: Einerseits verlieren einige Stilmittel durch Überbenutzung ihre Wirkung, so die erwähnten Detailaufnahmen. Hätte man sie nur in der Anfangssequenz, die wir aus der Perspektive eines Kindes sehen und in den besonders intensiven Szenen genutzt wäre es fein gewesen, doch jede zweite Einstellung ist eine Detailaufnahme und irgendwann wirkt es dann einfach nicht mehr stimmig sondern überkandidelt. Zweitens kommen einfach zu viele verschiedene visuelle Effekte zum Zug. Neben den oben genannte, welche ich sehr schätze, gibt es noch unzählige andere, wie eine auf den Kopf gestellte Kamera oder Stillshots in die hineingezoomt wird (meiner Meinung nach der dümmste und unstimmigste visuelle Kunstgriff aller Zeiten). Durch diese Übernutzung verliert der Film nach einiger Zeit einfach seine Magie, die uns in der ersten halben Stunde so fesselte und scheint gezwungen surreal.
Um genauer festzustellen, warum „Amer“ nicht gänzlich zu überzeugen weiß, werde ich ihn nun noch mal ganz offen mit den Gialli und anderen italienischen Genrefilmen vergleichen. Nun werdet ihr sagen, das ist unfair von mir, der Film ist kein Giallo, also warum sollte ich ihn mit diesem Genre in einen Hut stecken? Ganz einfach: 1. Der Film wurde als Neo-Giallo beworben; 2. das Cover sieht nach einem italienischen Film der 70er aus; 3. bei Interviews mit den Regisseuren fallen Worte wie „Giallo“ und „Argento“; 4. die Regisseure kopieren einige Szenen aus Argento-Filmen; 5. der Soundtrack besteht aus Scores für italienische Filme, vorzugsweise von Stelvio Cipriani (Anmerkung: Und darüber habe ich mich sehr gefreut, besonders als plötzlich die Musik von „Der Tod trägt schwarzes Leder“ zu hören war, wurde mein Herz sondergleichen erwärmt). Ich vergleiche „Amer“ also nicht mit den Gialli, weil ich mir so einen Film erwartet hätte und nun enttäuscht bin ihn nicht bekommen zu haben, sondern ich vergleiche „Amer“ mit den Gialli, weil man mir diesen Vergleich auf die Nase bindet…also:
Das italienische Exploitationkino zeichnete sich dadurch aus, einfache Handlungen mit visuellen Meisterleistungen zu verbinden. Nur selten sind die Skripts von Gialli, Italowestern oder anderen Genres sonderlich originell, aber sie bieten eine schöne Basis. Wir bekommen Charaktere und eine Geschichte. Die Regie baute dann auf dieses Fundament auf, wendete visuelle Stilmittel an und machte mit diesen die Charaktere sympathisch und übertrug ihre Emotionen auf uns. Durch die unfassbaren Talente eines Argento, Bava oder Leone wurden einfache Geschichten spannend gemacht. Bei „Amer“ wurde dieses Fundament weggelassen. Es wird versucht Stimmung und Spannung aufzubauen ohne das Medium der Handlung zu haben um sie zu vermitteln. Zugegeben manchmal funktioniert es, manchmal reißen uns die Bilder in ihren Bann, aber da uns keine einfache Geschichte als Hilfe geboten wird, ist dieser Bann immer nur von kurzer Dauer. Um es metaphorisch auszudrücken: Die Regisseure errichteten hier eines der kunstvollsten und beeindruckendsten Bauwerke aller Zeiten, aber es bricht in sich zusammen, weil sie auf den profanen hässlichen Betonuntergrund verzichtet haben. Oder um es mit den Worten des verehrten Schiller zu sagen: „Wohl steht das Haus gezimmert und gefügt, doch ach – es wankt der Grund auf den wir bauten.“.
Dies ist unsagbar schade, denn wenn die Regisseure nicht diesen Drang gehabt hätten avantgardistisch mit ihrem kleinen Lobgesang auf den 70er-Jahre-Italofilm zu werden, hätten sie wohl eines der spektakulärsten und spannendsten Filmerlebnisse der letzten Jahre schaffen können. Betrachten wir einfach beispielsweise die finale Verfolgungsjagd in der sich die Protagonisten vor einem Killer in Sicherheit bringen will: Diese ist unsagbar kunstvoll in Szene gesetzt, doch wir sind nicht bereit sie auch gebührend aufzunehmen, da ihr eine Stunde belanglosen Entwicklungs-irgendwas-Zeugs-Nonsens vorrausgegangen war.
Fazit: „Amer“ bietet uns beeindruckende visuelle Kompositionen, die uns in einen Rausch der Sinne bringen könnten, doch da es keine konventionellen Erzähltechniken gibt, die uns bei der Verarbeitung der gewaltigen Bilderfluten helfen könnten, schwankt der Film stets zwischen übersinnlicher Erfahrung und langweiliger Möchtegernkunst. 7/10