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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Mi 21. Sep 2022, 18:17
von buxtebrawler
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Frau Jordan stellt gleich [Staffel 3]

„Ich glaube, Frauen sind gerade nicht so das Thema!“

Die dritte Staffel der deutschen SitCom „Frau Jordan stellt gleich“ des Streamingdienstes „Joyn“ der ProSieben/Sat.1-Gruppe nach einem Konzept Ralf Husmanns („Stromberg) wurde am 18. November 2021 veröffentlicht, ihre TV-Ausstrahlung folgte im Juli 2022. Erneut umfasst die Staffel zehn neue aufeinander aufbauende, jeweils rund 25-minütige Episoden. Informationen zu Drehbüchern und Regie liegen mir diesmal keine vor.

„Nicht alles, was ein Mann zu ‘ner Frau sagt, heißt automatisch Sex.“

Eva Jordan (Katrin Bauerfeind, „König von Deutschland“), Gleichstellungsbeauftragte im Stadthaus einer fiktionalen deutschen Kleinstadt, hat hingeschmissen und arbeitet mittlerweile für eine Werbe- und Event-Agentur. Die Leitung des Gleichstellungsbüros hat nun die naive Renate (Mira Partecke, „Golden Twenties“) inne, die sich nur schwer gegen die am Sinn des Büros zweifelnde und kaum Mittel bewilligende Bürgermeisterin Sommerfeld (Adina Vetter, „Blutgletscher“) durchzusetzen weiß. Renates Mitarbeiterin, die aufbrausende Lesbierin Yvonne (Natalia Belitski, „Stillstehen“), ist inzwischen in festen Händen, sogar die Adoption eines Kinds ist eine Option geworden. Ihr Kollege und Immer-mal-wieder-Liebhaber Eva Jordans, der Softie Philipp (Alexander Khuon, „3 Zimmer/Küche/Bad“), wird plötzlich zu Unrecht der sexuellen Belästigung einer Bauamtsmitarbeiterin bezichtigt. Neu im Stadthaus ist der Antidiskriminierungsbeauftragte David Ohlert (Malick Bauer, „Tatort: Funkstille“), der Evas ehemaliges Büro bezogen hat. Als Eva zunehmend von einem Agenturkunden (Ulrich Brandhoff, „Käthe und ich“) bedrängt wird, der sie offenbar für mehr als nur die eine Nacht will, beschließt sie, ins Stadthaus zurückzukehren…

„Flirten, saufen oder Elektroschocks!“

Das ärgerliche Ende der zweiten Staffel wird also rasch als bewusst eingesetzte Provokation erkennbar und entsprechend aufgebrochen, denn natürlich ist die Gleichstellung weiterhin relevant. Alte Konflikte verschärfen sich hier, neue keimen auf, und weiterhin werden zahlreiche aktuelle gesellschaftliche Themen aufgegriffen und ebenso humorvoll wie klug verhandelt. Manches Mal schießt jemand deutlich übers Ziel hinaus, auch innerhalb des Gleichstellungsbüros. Klischees werden aufgebaut, um sie genüsslich wieder einzureißen. Die karikierende Herangehensweise der Handlung an ihre Themen spitzt diese vortrefflich zu, zuweilen enthält jede Dialogzeile eine satirische Spitze. Dies geht mit einem offenbar leider auch der kurzen Laufzeit der Episoden geschuldeten sehr hohen Tempo einher, aufgrund dessen manch Phänomen lediglich angerissen wird. Vielmehr dominieren bald Geklüngel und Opportunismus im Stadthaus – eine Art Mikrokosmos großer Politik – das episodenübergreifende Narrativ. Das ist ein bisschen schade, denn „Frau Jordan stellt gleich“ war eigentlich immer dann am besten, wenn konkrete Gleichstellungsaufträge das Fundament einer Episode bildeten.

Dennoch ist es ein Genuss, Eva Jordan dabei zuzusehen, wie sie mit den Waffen einer Frau kämpft, sich und ihre Methoden zu hinterfragen gezwungen wird und dennoch selbstbewusst erneut gegen Bürgermeisterin Sommerfeld in den Ring steigt. Wie diese das Gleichstellungsbüro und den Antidiskriminierungsbeauftragten gegeneinander auszuspielen versucht, geht derweil ein wenig unter, hätte gern deutlicher herausgestellt werden dürfen. Wer sich für aktuelle Debatten um Themen wie Gleichstellung bzw. -berechtigung, (Anti-)Diskriminierung und damit einhergehende Befindlichkeiten, Fettnäpfchen und Widersprüche interessiert und zum Lachen nicht in den Keller geht, dürfte auch mit dieser Staffel seine Freude haben und eventuell sogar den einen oder anderen Denkanstoß mitnehmen. So ziemlich alle aktuellen Themen werden zumindest kurz angerissen, auch privilegierte Weiße, die sich stellvertretend für andere in ihren „Gefühlen“ verletzt und sich „unwohl“ fühlen. Auch wer gern Politpossen verfolgt, ist hier an der richtigen Adresse, und das Ensemble ist einmal mehr Zucker. Husmann und sein Team scheinen die Gesellschaft recht aufmerksam zu beobachten, beherrschen Situationskomik und Sprachwitz und bringen diese Serie zu einem guten Abschluss, der sich dennoch die theoretische Möglichkeit einer Fortsetzung offenhält.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Do 22. Sep 2022, 15:15
von buxtebrawler
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Beverly Hills Cop

„Gehen Sie doch mal in medias res!“ – „Wohin soll ich gehen?!“

Drehbuchautor Danilo Bach hatte bereits im Jahre 1977 das ursprüngliche Drehbuch zu diesem Film vorgelegt. Konzipiert war es als ernster US-Actionreißer für einen ernsten Schauspieler in der Hauptrolle. Nach einigem Hin und Her wollte Sylvester Stallone diese bekleiden, der jedoch weitaus mehr Actionszenen zu drehen verlangte und damit das Budget gesprengt hätte. Nur zwei Wochen vor Drehstart wurde er durch den jungen Schwarzen Eddie Murphy ersetzt, der sich nach erfolgreicher Karriere als Stand-up-Comedian einen guten Namen als Schauspieler in den Filmen „Nur 48 Stunden“ und „Die Glücksritter“ gemacht hatte, wo er jeweils als Teil eines Duos agierte. Im 1984 veröffentlichten „Beverly Hills Cop“ hatte er schließlich seine erste alleinige Hauptrolle inne und bekam unter der Regie Martin Brests („Die Rentner-Gang“) viel Raum zur Improvisation innerhalb der nun zur Action-/Cop-Komödie umfunktionierten Handlung.

„Ich piss‘ Ihnen gleich an die Birne!“

Polizist Axel Foley (Eddie Murphy) ermittelt verdeckt in seiner Heimat Detroit und will einen Zigarettenschmuggler auffliegen lassen. Doch die Aktion misslingt gründlich und bereitet eine Menge Blechschäden. In ihrem Anschluss wird Foleys Freund Victor Mikey Tandino (James Russo, „Unheimlich“), gerade zu Besuch aus Beverly Hills, bei Foley zu Hause von einem Profikiller erschossen. Foley möchte die Spur des Mörders nach Beverly Hills verfolgen, wovon sein Vorgesetzter Inspector Todd (Gilbert R. Hill) rein gar nichts hält. Kurzerhand nimmt Foley Urlaub, möchte angeblich nur seine Freundin Jenny (Lisa Eilbacher, „Der Millionen-Dollar-Junge“) dort besuchen. Natürlich verfolgt er seinen eigentlichen Plan, doch die Kollegen an der Westküste zeigen sich nicht sonderlich kooperativ – vielmehr sollen die Detectives John Taggart (John Ashton, „Weißer Haß“) und Billy Rosewood (Judge Reinhold, „Gremlins – Kleine Monster“) Foley beschatten, wodurch sich jedoch die Wege immer wieder kreuzen…

„In Beverly Hills pflegen wir uns genau nach den Vorschriften zu richten.“

Die Exposition eröffnet direkt mit einer Verfolgungsjagd und Autocrashs, bevor es, von einem coolen ‘80er-Pop/Rock-Soundtrack begleitet, nach Beverly Hills geht, wo Axel Foley mit seiner proletarischen Herkunft, seiner Hautfarbe, seinem losen Mundwerk und seinen unkonventionellen Ermittlungsmethoden einen starken Kontrast zum noblen Umfeld darstellt. Und dies lässt man ihn deutlich spüren; so muss er sich erst echauffieren, bevor er als Schwarzer überhaupt ein Zimmer im Nobelhotel bekommt. Als er dem verdächtigen Schurken Victor Maitland (Steven Berkoff, „A Clockwork Orange“) unangenehme Fragen stellt, wird er durch eine Glasscheibe geworfen, verhaftet und auf dem Polizeirevier misshandelt.

Zwar wird aus den Themen Rassismus und Polizeibrutalität bedauernswerterweise nicht mehr gemacht, doch aus dem Detroiter-Bulle-versus-kalifornische-Schickimicki-Cops-Sujet entwickelt sich eine reizvoll absurde Situation, die in Kombination mit Foleys Spruchfeuerwerken die Handlung mehr als passabel schultert. Foley ist letztlich immer einen Tick schlauer und mischt schließlich die örtliche Polizei so lange kräftig auf, bis sie endlich mit ihm zu kooperieren bereit ist. Diesen gegenseitigen Annäherungsprozess zu beobachten, hält den Film spannend und unterhaltsam. Inwieweit Polizeichef Lieutenant Andrew Bogomil korrupt ist und deshalb so lange wie möglich etwaige Ermittlungserfolge zu verhindert versucht, bleibt hingegen leider ungeklärt. Dies hätte den Film um eine interessante Komponente erweitert.

Murphy legt seine Rolle übercool an, was etwas arg übertrieben ist und zulasten jeglichen Anflugs von Realismus geht. Sein pfeilschnelles, überdrehtes Gequatsche kann zuweilen auch nerven. Dass niemand angesichts ausufernder Schießereien mit Maschinenpistolen und anderem schweren Gerät im Showdown Todesangst verspürt, sondern mitunter noch immer zu frechen Sprüchen aufgelegt ist, nimmt ihm einigen Nervenkitzel. Doch der Humor mit seinem politisch unkorrekten Sprachwitz weiß überwiegend zu gefallen. Letztlich handelt es sich bei „Beverly Hills Cop“ um die Geschichte eines Underdogs, der erfolgreich gegen die verbrecherische Oberschicht revoltiert und sich gegenüber manch Lackaffen, ignoranten Schnöseln und Dienst-nach-Vorschrift-Bürokraten zu behaupten weiß –Seitenhiebe gegen eine snobistische Gesellschaft Los Angeles‘ inklusive.

Der Film kommt trotz Andeutungen in diese Richtung – immerhin trifft Foley seine alte Freundin Jenny wieder – ohne Romanze aus, dafür spielen Frauen aber auch generell nur eine untergeordnete Rolle. Ungeachtet diverser inhaltlicher Härten bleibt der Anteil visueller Gewalt überschaubar, Erschießungen finden fast sämtlich offscreen statt. Die Schauspieler hatten sichtlich Spaß an ihren karikierend überzeichneten Rollen, was sich aufs Publikum überträgt. „Beverly Hills Cop“ traf seinerzeit den populärkulturellen Nerv der Zeit, bereicherte die Musiklandschaft um Harold Faltermeyers „Axel F.“-Synthie-Ohrwurm, avancierte zu einem Kassenschlager, zog zwei Fortsetzungen nach sich – und lässt sich nicht nur innerhalb von ‘80er-Retrospektiven noch immer gut gucken.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Di 27. Sep 2022, 12:05
von buxtebrawler
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Rote Lippen, Sadisterotica

„Ein seelenloses Werk – mein nächstes wird viel besser...“

In der zweiten Hälfte der 1960er inszenierte der umtriebige spanische Filmemacher Jess Franco drei Spielfilme für Adrian Hovens Produktionsfirma „Aquila“: „Necronomicon – Geträumte Sünden“, „Küss mich, Monster“ und dessen erster Teil, „Rote Lippen, Sadisterotica“, um den es hier gehen soll. Diese Detektiv-Thriller-Komödie mit Horror- und Erotikanleihen wurde 1967 gedreht, fand aber erst 1969 ihren Weg in die Lichtspielhäuser.

In einem idyllischen spanischen Urlaubsparadies verschwinden immer wieder junge Frauen spurlos, weshalb Anwalt Radeck (Adrian Hoven, „Necronomicon – Geträumte Sünden“) das Detektivbüro „Rote Lippen“ mit der Aufklärung der Fälle betraut. Dieses besteht aus den beiden sexy Spürnäschen Diana (Janine Reynaud, „Killer ohne Gesicht“) und Regina (Rosanna Yanni, „Die Vampire des Dr. Dracula“). Nach und nach kommen die Damen dem geheimnisvollen Künstler Klaus Tiller auf die Spur, der einer morbiden Skulpturleidenschaft frönt, wobei er vom ihm ergebenen Wolfsmenschen Morpho (Michel Lemoine, „Tödliche Nebel“) unterstützt wird. Polizei, Interpol und ein irrer Museumswächter bzw. Fotograf (Jess Franco) mischen auch noch mit, doch die „Roten Lippen“ verstehen es, sich zu behaupten…

Radeck, Morpho, Inspektor Tanner, ein „Flamingo-Club” – das Franco’sche Namensvokabular ist vollständig vertreten, Franco höchstpersönlich einmal mehr in einer Nebenrolle zu sehen und Produzent Hoven spielt auch wieder selbst mit. Der Film mit dem seltsamen deutschen Namen, der wirkt, als habe man sich nicht entscheiden können und zwei potenzielle Titel einfach kommagetrennt aneinandergereiht, suhlt sich im Swingin‘-Sixties-Pulp der albernen Art. Franco erzeugt hübsche Bilder, schwächelt aber bei Dramaturgie und Narration. Auf einer Brautmodenschau überredet die Chefin eines der Mannequins, sich mit ihrem Verflossenen Radeck auf ein Gespräch zu treffen. Auf diesen Prolog, der genaugenommen schon eine Menge verrät, folgt der Vorspann, in dem zu beschwingter Jazzmusik „Küss mich, Monster“ als Verweis auf die back to back gedrehte Fortsetzung gehaucht wird.

Der haarige Primitivo Morpho entführt das Modell und bringt es zu Napoleon alias Jess Franco. Wiederholt wird ein Frauenaugenpaar hinter einer schwarzen Maske in Großaufnahme gezeigt. Jemand Weibliches hat sich bei Napoleon eingeschlichen und entwendet ein Kunstwerk. Auf diese Weise werden die Detektivinnen eingeführt, die schließlich die vierte Wand durchbrechen und direkt zu den Zuschauerinnen und Zuschauern sprechen. Nachdem Tiller Napoleon umgebracht, weil dieser bei der Polizei war und etwas ausgequatscht haben könnte, zweifelt indes niemand mehr an dessen Schuld, was der Dramaturgie nicht gut bekommt. Als man die Gemengelage durchschaut hat – die Maskierten sind die Detektivinnen, die von Radeck engagiert worden sind, weil so viele Mädels verschwinden –, geht es schon nicht mehr um ein Whodunit? und auch nur noch bedingt um eine Motivsuche, denn das Geheimnis seiner Skulpturen riecht man zehn Meter gegen den Wind.

Dafür darf man Diana und Regina dabei zusehen, wie sie mit den Waffen der Weiblichkeit arbeiten: „Antworte auf meine letzte Frage und du darfst mir alles ausziehen!“ Dumm nur, dass Tiller kaltblütig alle tötet, die etwas verraten könnten. Die Ausrichtung des Films bleibt dennoch locker und komödiantisch, die Urlaubskulissen tragen ihren Teil zur Wohlfühlstimmung bei – die wiederum nicht so recht zu Tillers Umtrieben passen will. Eine erotische Striptease-Nummer mit einer sich am Boden räkelnden Tänzerin fällt sehr kurz und züchtig aus, die darauffolgende Tanzszene zeigt aber dann mehr bzw. weniger: mehr sekundäre Geschlechtsorgane, weniger sie verhüllenden Stoff. Das ist ziemlich gut gefilmt und ausgeleuchtet, ansonsten gibt's im Film aber außer viel Bein und großen Dekolletés in dieser Hinsicht nicht viel zu sehen.

Tillers Kunst fordert auch weitere Opfer, Francos Kunst hingegen arbeitet in einer Szene mit extremer Unschärfe, um einen Nebelgranateneinsatz zu simulieren. Gigolo Vittorio (Manolo Otero, „Simon Bolivar“), der sich für eine der „Roten Lippen“ interessiert, erhält eine Gesangseinlage, und die Detektivinnen erhalten auch etwas: Unterstützung vom Interpol-Mann Francis McClune, bei dem es sich um niemand Geringeren als Chris Howland handelt. Die Pointe des Films, die zwei Identitäten in einer Person zusammenführt (keine Ferkelei bei dieser Formulierung intendiert!), ist dann tatsächlich gar nicht übel, wird aber von der dilettantischen Schussszene am Ende konterkariert.

„Rote Lippen, Sadisterotica” ist vornehmlich ein kurioser Franco-Streifen, der kurzweilig und kokett unterhalten will, was ihm zumindest zeitweise auch gelingt, der mit einem interessanten Ensemble aufwartet und der 60s-Pulp durch die Franco-Brille präsentiert. Dem gegenüber stehen aber Spannungsarmut, Timing-Probleme, banale Albernheiten und eine krude Geschichte, die aus manch Genreklassiker zusammengeklaubt wurde, deren exploitatives Potenzial aber kaum ausgeschöpft, stattdessen irritierend seicht dargereicht wird. Wer nicht gerade ein ausgeprägtes Faible für die Fetischklamotten hat, die die Detektivinnen hier zur Schau tragen, dürfte den Film eher im leicht unterdurchschnittlichen Mittelfeld europäischer Genrefilmunterhaltung längst vergangener Zeiten ansiedeln. Andere Franco-Vehikel sind jedenfalls weitaus memorabler.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Di 27. Sep 2022, 16:21
von buxtebrawler
Tatort: Murot und das Gesetz des Karma

„Das Gesetz des Karma funktioniert überall.“

Mit dem elften Fall des Wiesbadener LKA-Kriminalhauptkommissars Felix Murot (Ulrich Tukur) debütierte der Hamburger Regisseur Matthias X. Oberg („Unter der Milchstraße“) innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe. Zusammen mit Lars Hubrich verfasste er auch das Drehbuch. Die Erstausstrahlung erfolgte am 25. September 2022, doch am 9. September 2022 wurde „Murot und das Gesetz des Karma“ bereits auf dem Ludwigshafener Festival des deutschen Films gezeigt, wo er für den Rheingold-Publikumspreis nominiert wurde.

Nachdem Felix Murot im Continental-Hotel vor Vertreterinnen und Vertretern der Versicherungsbranche einen Vortrag zum Thema Cyberkriminalität gehalten hat, lernt er an der Lobbybar die attraktive junge Eva (Anna Unterberger, „Die Toten von Salzburg“) kennen und isst mir ihr zu Abend. Jedoch handelt es sich um eine Trickdiebin, die ihn kurzerhand mittels K.O.-Tropfen außer Gefecht setzt. Als er wieder zu sich kommt, fehlt seine Brieftasche. Seine Kollegin Magda Wächter (Barbara Philipp), die ihn schon lange zu erreichen versucht hat, berichtet ihm außerdem von einem Mord, der im selben Hotel stattgefunden hat: IT-Spezialist Martin Landrot (Dirk Martens, „Die Liebe des Hans Albers“) wurde erstickt. Was er nicht weiß: Jene Eva hatte Landrot kurz zuvor um dessen Laptop erleichtert. Dieser sollte eigentlich für viel Geld dem Kriminellen Xavier (Thomas Schmauser, „Nach fünf im Urwald“) ausgehändigt werden, einem gefährlichen Handlanger Schöllers (Philipp Hochmair, „Blind ermittelt“), Chef des dubiosen Finanzunternehmens „Delphi Invest“. Auf dem Laptop befindet sich brisantes Material, das Schöller unbedingt zurückbraucht. Nachdem Xavier Landrot erstickt hat, befindet er sich fieberhaft auf der Suche nach dem Laptop, bis er schließlich auf Evas Spur kommt – die sich wiederum als Tochter einer alten Urlaubsbekanntschaft Murots entpuppt. Ihm gibt Eva für alles die Schuld, was nach dem Beziehungs-Aus im Leben ihrer Mutter schieflief…

Murot-„Tatort“-Episoden verfolgen keinen folgenübergreifenden Stil, sondern sind jedes Mal anders, dabei häufig aus der Reihe fallend, experimentell, künstlerisch ambitioniert oder kontextuell mit anderen Filmen in Verbindung stehend. Als Überbau über der eigentlichen Handlung steht diesmal das spirituelle Konzept des Karmas, von dem Murot annimmt, es könne ihn verfolgen. Es präsentiert sich als Verwicklung mehrerer Zufälle, die sich gegen einen wenden, und erklärt somit den von ihnen stark abhängigen Handlungsaufbau, der zwar in der Realität verwurzelt, doch ihr zugleich entrückt scheint, ohne ins Surreale abzudriften. Das macht „Murot und das Gesetz des Karma“ in Kombination mit schwarzhumorigen Versatzstücken zu einer Kriminalgroteske, der mit üblichem Logikverständnis kaum beizukommen ist.

Jener Humor speist sich in erster Linie aus der Figur Xavier, die als eiskalter Mörder eingeführt wird, sich im weiteren Verlauf jedoch als Prügelknabe entpuppt, dem, unter Schöllers Knute stehend, auf seiner Laptop-Suche stets übel mitgespielt wird. Eva hingegen erweist sich nicht nur als äußerst wehrhaft gegenüber Xavier, sondern auch als wandlungsfähige, schlaue Diebin, die erkennt, welche Chance der Laptop für sie und ihre Freundin (Marlina Mitterhofer, „Tatort: Liebe mich!“) bedeutet, mit der sie außerhalb auf dem Lande zusammenlebt. Anna Unterberger schlüpft in zahlreiche verschiedene Kostüme und somit Rollen, die sie allesamt brillant verkörpert. Ihre Ausstrahlung erinnert des Öfteren an ihre Schauspielkollegin Alice Dwyer. In Personen eines indischen Arztes (Mohammad-Ali Behboudi, „Julia muss sterben“) und eines Bauchredners bereichern weitere skurrile Gestalten diesen „Tatort“.

Die Szenen, die sich mit Murots Vergangenheit auseinandersetzen, sind von unangenehmer Melancholie geprägt und verleihen der Episode zeitweise eine tiefergehende Gefühlsebene. Da Murot glaubt, es könne sich bei Eva um seine Tochter handeln, beraumt er einen Vaterschaftstest an, dessen Ergebnis jedoch bis zum Schluss offenbleibt. Star des Falls ist Eva, die zur Sympathieträgerin avanciert, während Xavier zum fast schon bemitleidenswerten Opfer degradiert wird und Murot diverse charakterliche Schwächen offenbart. Regisseur Oberg und sein Team tauchen diese Episode in eine beeindruckende, jedoch nie aufdringlich artifizielle Ästhetik, die wiederum von der Einfachheit der Super-8-Urlaubsvideoausschnitte kontrastiert werden, die Murots damalige Freundin zeigen (und offenbar einem realen YouTube-Video entnommen wurden). Das sonnig-frühherbstliche Ambiente spiegelt die Stimmung gut wider. Ein klassischer Spannungsbogen ist nicht unbedingt Obergs Anliegen, was die meiste Zeit aufgrund des recht hohen Unterhaltungspotentials kein Problem ist und lediglich in der Mitte zum einen oder anderen Durchhänger führt – stets dann, wenn man sich den klassischen Krimithemen wie hier dem Inhalt des Laptops und den Gründen für Schöllers Interesse widmet…

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Fr 30. Sep 2022, 16:11
von buxtebrawler
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Die Teuflischen

„Ich mach' immer Nacktbäder in der Sonne!“

Auf seinen fulminanten „Lohn der Angst“ folgte im Jahre 1955 mit „Die Teuflischen“ ein waschechter Psycho-Thriller des „französischen Hitchcock“ Henri-Georges Clouzot. Der Film basiert auf dem (in deutscher Ausgabe) gleichnamigen Roman Pierre Boileaus und Thomas Narcejacs (im Original „Celle qui n'était plus“).

„Vielleicht sind meine Ansichten etwas reaktionär, aber die Freundschaft zwischen den beiden Frauen, das geht zu weit!“

Michel Delasalle (Paul Meurisse, „Das Frauenhaus von Marseille“) ist nicht nur Direktor eines abgeschieden gelegenen französischen Provinzinternats, sondern auch ein echter Widerling. Seine Mitmenschen und Untergebenen behandelt er schlecht und seine herzkranke Ehefrau Christina (Véra Clouzot, „Lohn der Angst“) betrügt er mit der extrovertierten Lehrerin Nicole (Simone Signoret, „Licht und Schatten“). Doch tun sich eines Tages beide Frauen zusammen, um ein Mordkomplott gegen Michel auszuhecken: Er soll mittels K.O.-Tropfen im Whisky betäubt und anschließend in der Badewanne ertränkt werden, woraufhin seine Leiche im Schul-Swimmingpool drapiert wird. Für Alibi und Zeugen ist gesorgt. Nach Durchführung der Tat verschwindet Michels Leiche jedoch spurlos, dafür mehren sich die unheimlichen Anzeichen, dass Michel auf dem Gelände der Lehranstalt herumspukt…

„Ein Mensch kann nicht alles ‘runterschlucken – das gilt nicht nur fürs Essen.“

Beide Frauen könnten gegensätzlicher kaum sein, doch was sie zu einen scheint, ist der Hass auf Michel. Die Skrupel der zurückhaltenderen, kränklichen Christina hilft die entschlossenere Nicole fortzuwischen. Die trotz aller Gegensätze zunächst erfolgreiche Zusammenarbeit wurde von Clouzot und seinen Schauspielerinnen unter Zuhilfenahme des Suspense-Prinzips derart packend inszeniert, dass man dabei fast vergisst, durch seine eindeutige Sympathievergabe – eine andere lässt der Film nicht zu – als Zuschauerin oder Zuschauer quasi zum Mordkomplizen gemacht zu werden. Damit einher geht naturgemäß eine eher eindimensionale Charakterisierung Michels, die hin und wieder auftauchenden Nachbarn fungieren gar als Comic Reliefs.

Als die eigenartigen, möglicherweise paranormalen Phänomene Einzug in die Handlung halten, versteht es Clouzot gut, diese in wahrlich gruseligen Szenen zu visualisieren. Sein Gespür für die Erzeugung von Spannung und Nervenkitzel kommt ihm dabei zugute, wenngleich er sich im weiteren Verlauf etwas zu sehr darauf verlässt und manch belanglosere Sequenz dafür dramaturgisch etwas schleifen lässt, indem er sie zu breit auswalzt. Die Täterinnen bekommen es mit dem Gewissen zu tun und drohen gar, sich miteinander zu überwerfen. Das macht „Die Teuflischen“ auch auf über Mystik und Grusel hinausgehender psychologischer Ebene interessant. Ein sich als Privatdetektiv gerierender pensionierter Polizist (Charles Vanel, „Lohn der Angst“) sorgt für weitere Unruhe und Stress bei den Damen, bis die Nerven blankliegen.

Den Showdown inszeniert Clouzot nach Art eines Horrorfilms, worauf eine überraschende Wendung folgt und sogar noch eine Art Pointe im Epilog. Ganz am Schluss wird per Texttafel darum gebeten, den Ausgang des Films nicht zu spoilern, was hier selbstverständlich nicht geschieht – das wäre in der Tat Frevel. Unabhängig von seiner grandiosen Wendung und seiner Pointe wirkt „Die Teuflischen“ die meiste Zeit wie ein Parabel auf das einen einholende schlechte Gewissen aufgrund der Schwere der Schuld. Etwas mehr Tempo hätte dem Film dennoch gutgetan, Clouzot – bzw. der Schnitt – erzählen ihn etwas arg langsam und die Überlänge von rund 112 Minuten wird durch die Geschehnisse nicht gerechtfertigt, will sagen: dafür passiert dann doch etwas zu wenig.

Tragischerweise verstarb Véra Clouzot, die die herzkranke Christina spielte und mit dem Regisseur verheiratet war, wenige Jahre später tatsächlich an einem Herzleiden. „Die Teuflischen“ erfreut sich in Kennerkreisen dafür einer ungebrochenen Beliebtheit als die Mystery- und Psycho-Thriller-Subgenres mitdefinierender Klassiker, der offenbar eine Art Blaupause für spätere britische und US-amerikanische Filme dieser Art darstellte, die ähnliche Stoffe etwas knackiger präsentierten.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Do 13. Okt 2022, 15:53
von buxtebrawler
Tatort: Weißblaue Turnschuhe

„Den Lumpen find‘ ich!“

Wäre die erst im Jahre 1974 erstausgestrahlte Episode „3:0 für Veigl“ wie ursprünglich geplant bereits 1972 gesendet worden, wäre „Weißblaue Turnschuhe“ von Regisseur Wolf Dietrich („Luftkreuz Südost“) der dritte Fall des Münchner Oberinspektors Melchior Veigl (Gustl Bayrhammer) geworden. So aber avancierte sie zu seiner Episode, geschrieben von Herbert Rosendorfer und Niklas Frank. Dietrich debütierte mit dieser Arbeit innerhalb der öffentlich-rechtlichen „Tatort“-Krimireihe, drei weitere Inszenierungen folgten zwischen 1978 und 1980. Die Erstausstrahlung flimmerte am 24. Juni 1973 über die Bildschirme.

„Keine Diskussion – so gut wie gelöst!“

Eine ältere Dame wird am hellichten Tage während eines Friedhofsbesuchs die Handtasche gestohlen. Der rücksichtslose Täter entkommt weitestgehend unerkannt mit seiner kargen Beute, lediglich an seine Turnschuhe in den Landesfarben erinnert sich das Opfer. Veigl kommt dem Täter, dem obdachlosen Tunichtgut Franz Sondermeier (Karl Obermayr, „Eros-Center Hamburg“), rasch auf die Schliche – und findet Schmuck bei ihm, der nicht der Seniorin gehörte. Anschließend tritt Veigl zusammen mit seinem Saarbrücker Kollegen Kommissar Liersdahl (Dieter Eppler) seinen Urlaub am Chiemsee an, wo Liersdahl aus einem Zeitungsartikel über einen Einbruch zitiert. Veigl vermutet, dass dieser etwas mit dem Schmuck zu tun hat, unterbricht seinen Urlaub und sucht den Hof der Einbruchsopfer auf. Dieser wurde mittlerweile an einen Herrn Schilling (Nikolaus Schilling, „Pippi in Taka-Tuka-Land“) veräußert, der ihn jedoch nicht bewohnt. Es gelingt Veigl, Sondermeier auch dieser Tat zu überführen. Oberwachtmeister Lenz (Helmut Fischer) macht derweil den einschlägig vorbestraften Schilling ausfindig, der sich verdächtig verhält. Möglicherweise hat dieser etwas mit der bisher unaufgeklärten Entführung des Millionärs Schneck (Ulrich Beiger, „Die Klosterschülerinnen“) zu tun, und es scheint mit einem Herrn Zimmermann (Edd Stavjanik, „2 Girls vom roten Stern“) einen in Buenos Aires lebenden Hintermann zu geben. Führt diese Verkettung von Zufällen endlich zur Überführung der Schneck-Entführer…?

„Ich ess‘ jetzt noch ein Sardellenbrot!“

Wie in „3:0 für Veigl“ beginnt die Handlung bereits, während noch die Vorspannmusik läuft. Die gezeigte Entführung entpuppt sich als Lehrfilm, der die Schneck-Entführung nachstellt und den Veigl gerade vor auffallend tumben Polizisten zeigt. Der anschließende Handtaschendiebstahl findet jedoch in der filmischen Gegenwart statt, und wieder erklingt die Vorspannmelodie, wird gar der Vorspann fortgesetzt, wenn auch nur kurz. Kapriziös, was man sich in München erlaubte. Offenbar konnte man sich seinerzeit mit dem einfachen Konzept, den Vorspann zu zeigen und anschließend die Handlung ablaufen zu lassen, in Bayern partout nicht anfreunden – weshalb auch immer.

„Do legst di nieder…“

Das aufgelöste 83-jährige Diebstahlsopfer wird bei der Polizei vorstellig und bringt alles Weitere dank ihrer Erinnerung an die Turnschuhe des Täters ins Rollen. Ironischerweise hätte Lenz viel lieber im Fall Schneck weiterermittelt, statt Strauchdieben nachzustellen – ahnt er doch nicht, dass genau dieses Angeln nach einem kleinen Fisch später zum großen Karpfen führen wird. Nachdem Schilling in die Handlung eingeführt wurde, wird dessen Treiben parallel zur Polizeiarbeit gezeigt, wodurch dem Publikum ein Wissensvorsprung gewährt wird. Auch Zimmermann kommt ins Spiel, vor dem Schilling ganz klein mit Hut wird: Er hat Angst vor ihm.

Am Schluss kommt ein wenig Action ins Spiel und Lenz übertrumpft gar seinen Vorgesetzten Veigl. Letzterer agiert nach seinem drömeligen Einstand in „Münchner Kindl“ nichtsdestotrotz aufgeweckt, autoritär und resolut sowie mit guter Kombinationsgabe, nun also ganz wie ein echter Fernsehbulle. Seine Dialoge mit Lenz und die Kabbeleien mit dem (siegreichen) Kriminalwachtmeister Brettschneider (Willy Harlander) sind humorgespickt und er trinkt gern Schnaps und Bier. Fast alle für diesen Fall erdachten Rollen sind gut konstruierte und ebenso gespielte Typen, denen man gern 77 Minuten lang folgt, auf eine Leiche wird jedoch erneut verzichtet: Wie in Veigls Debüt gibt es weder Mord noch Totschlag. Damit ist der in einem kalten April spielende Fall harmlos, aber unterhaltsam und sein Humor sympathisch, „Kommissar Zufall“ jedoch ebenso wie der nördlich des Weißwurstäquators mitunter Verständnisprobleme bereitende Dialekt allgegenwärtig.

Der „Tatort: Weißblaue Turnschuhe“ pendelt sich in etwa auf dem Niveau heutiger Vorabendserien ein, was nicht despektierlich gemeint ist. Veigl und seinem Dackel sei die im Abspann gezeigte Fortsetzung des Urlaubs gegönnt.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Fr 14. Okt 2022, 16:14
von buxtebrawler
Tatort: Die Rache an der Welt

„Wir sind hier eine Universitätsstadt!“

Mit Kommissarin Charlotte Lindholms (Maria Furtwängler) 30. Fall, dem fünften nach ihrer Versetzung nach Göttingen und an der Seite ihrer Kollegin Anaïs Schmitz (Florence Kasumba), debütierte Regisseur Stefan Krohmer („Dutschke“) innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe. Er inszenierte ein Drehbuch Daniel Nockes. Seine Premiere feierte der „Tatort: Die Rache an der Welt“ am 15. September 2022 auf dem Internationalen Filmfest Oldenburg, die TV-Erstausstrahlung folgte am 9. Oktober 2022.

Seit einiger Zeit wird Göttingen von einem Triebtäter heimgesucht, der Frauen auflauert und sie sexuell missbraucht. Da er seine Opfer mit einem Wikingerdolch bedroht, wird er „der Wikinger“ genannt. Eines Tages wird die Leiche der jungen Studentin Mira, die sich in der Flüchtlingshilfe engagierte, gefunden. Ein Zeuge sah noch einen „fremdländisch“ anmutenden jungen Mann auf dem Fahrrad fliehen. Ist der „Wikinger“ nun auch zu Mord übergegangen? Oder hat der ausländerfeindliche Ressentiments offenbarende Zeuge recht und es handelt sich um einen Ausländer, möglicherweise gar einen der Flüchtlinge, die Mira betreute? Während Anaïs Schmitz den „Wikinger“ für dringend tatverdächtig hält, ermittelt Charlotte Lindholm zu Schmitz‘ Unverständnis auch unter den Flüchtlingen…

Inspiriert von der realen Ermordung einer Freiburger Studentin durch einen afghanischen Täter im Jahre 2016, versucht sich „Die Rache an der Welt“ am Themenkomplex Vorurteile, Rassismus und Frauenhass, ohne sich dabei zu verheben. Diffizile Fragen nach ethischer Verantwortbarkeit von auf einer möglichen Täterherkunft und zweifelhaften Zeugenaussagen basierenden Ermittlungsmethoden werden über weite Strecken verhandelt und die Figuren aus allen Spektren ambivalent und differenziert dargestellt. Die sich ebenfalls für Flüchtlinge einsetzende ehemalige Mitbewohnerin (Mala Emde, „Brecht“) Miras schimpft über die Frauenfeindlichkeit mancher von ihnen, während andere Flüchtlinge offenbar gerade gut genug für „Flüchtlingsfolklore“ in Form spannender Geschichten von Marginalisierung, Verfolgung, Entbehrung und noch Schlimmeren sind oder gar zu Love Interests avancieren, die von Helferinnen belästigt werden, während deren eigentliche Partner aus einem eigenartigen Verständnis von Anteilnahme und Offenheit heraus seltsam teilnahmslos zuschauen.

Hier tut sich manch Abgrund auf, wobei die leicht überzeichneten Figuren für Typen von Mitmenschen stehen, die sonst eher selten bis gar nicht im „Tatort“ (oder anderswo in Film und Fernsehen) stattfinden. Parallel zu den Kommissarinnen erzählt die Handlung von Jelena, dem gesuchten Munir Kerdagli (Eidin Jalali, „Futur Drei“) sowie dem Weltrekordversuch der Flüchtlingsheimbewohner im Dauerfußball, was lange Zeit statt zu einem wirklichen Wissensvorsprung fürs Publikum zu interessanten Einblicken in soziale Milieus und den dortigen Umgang miteinander führt. Die Täterjagd nimmt mehrere zu Unrecht Verdächtige ins Visier und gestaltet sich durchaus spannend, zumal darüber hinaus auch andere Figuren infragekommen, was zum Miträtseln anregt – wenngleich dieser „Tatort“ darauf gar nicht sein Hauptaugenmerk richtet. Vielmehr verkörpern die ohnehin stets sehr gegensätzlichen Lindholm und Schmitz zwei unterschiedliche Herangehensweisen, von denen die eine sich einem Rassismusverdacht ausgesetzt sieht und die andere Gefahr läuft, aus falsch verstandenem Antirassismus heraus wichtige Spuren zu übersehen. Dabei kracht’s dann naturgemäß auch mal untereinander.

Das sind Themen, Diskurse und Konflikte, die nicht nur im Kriminalitäts- und Polizeikosmos relevant sind, sondern sich mühelos auf die Gesellschaft übertragen lassen. Kombiniert werden sie sowohl mit klassischer Ermittlungsarbeit als auch klaren Grenzüberschreitungen durch Lindholm, für deren Verständnis die Handlung zeitweise zu werben versucht. Und das ist der Punkt, an dem ich wirklich Bauchschmerzen bekomme: Nein, mehr als fragwürdige Vorfahr- und damit Herkunftsanalysen auf DNA-Spurenbasis sollten kein Bestandteil von Polizeiarbeit sein, allein schon aufgrund ihrer extremen Ungenauigkeit. In diesem Punkt hat sich „Die Rache an der Welt“ dann tatsächlich verrannt.

Alles andere jedoch ist ein weitestgehend gut nachvollziehbarer, kluger Beitrag zu einem gesellschaftlichen Diskurs, der, in Krimiform gegossen, passabel unterhält, vor allem aber zum Nachdenken anregt. Die Welt und die Menschen sind nun einmal nicht nur schwarz oder weiß – trotz des Komissarinnenduos, dessen Gegensätzlichkeit die Kamera auf eine ästhetisierende Weise einfängt, die beiden Schauspielerinnen schmeichelt.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Di 18. Okt 2022, 14:56
von buxtebrawler
Deliria över Nürnberg, Pt. II:

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Vier Fliegen auf grauem Samt
buxtebrawler hat geschrieben: Do 9. Dez 2010, 12:35 „Vier Fliegen auf grauem Samt“ aus dem Jahre 1971 ist der dritte Giallo des italienischen Meisterregisseurs Dario Argento und zählt somit noch zu seinen Frühwerken, die aufgrund ihrer (Original-)Titel gern als „Tiertrilogie“ zusammengefasst werden. Atmosphärisch geht es hier wesentlich düsterer zu als noch in seinem Debüt „Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe“, die kreative Kameraarbeit ist auch hier deutlich als sein Markenzeichen vernehmbar und erfreut mit schönen Kamerafahrten und anderen innovativen Stilelementen. Zwar wurde die Handlung auch hier wieder mit einigen fragwürdigen humoristischen Einlagen aufzupeppen versucht, was noch immer den Anschein des Überflüssigen in sich birgt, aber nicht mehr so sehr nervt wie im Debüt. Als einer der kauzigen Nebendarsteller darf hier uns’ Buddy Spencer bewundert werden, was zu einem angenehmen Wiedererkennungseffekt führt. Einen seiner ersten großen Spielfilmtritte hat Hauptdarsteller Michael Brandon in der Rolle des Musikers Roberto, der in eine seltsame Mordserie verwickelt wird und – natürlich – Ermittlungen auf eigene Faust anstellt. Ihm zur Seite steht Mimsy Farmer als seine Frau Nina. Die zurückhaltend eingesetzte Filmmusik stammt erneut von Ennio Morricone. Das Drehbuch hat mit einer drögen Krimihandlung nicht mehr viel gemein und verfügt über einige kreative Kniffe wie z.B. die Rolle der Privatdetektivs und dessen fulminanter Abgang. Zudem wurde es um Elemente aus dem Bereich des Phantastischen angereichert, was zur mysteriösen, bisweilen gruseligen Stimmung des Films hervorragend passt und es dem Zuschauer erleichtert, die unwahrscheinlichen Abläufe und Handlungsstränge als eine Art Parallelwelt mit eigenen Gesetzmäßigkeiten zu akzeptieren, statt sie auf vermeintlichen Realismus hin abzuklopfen. Ein weiterer Baustein in diesem Gebilde sind die beklemmenden, immer wiederkehrenden Traumsequenzen Robertos, die stark abstrahiert sein im Schlaf arbeitendes Unterbewusstsein dabei zeigen, wie es ihm bei der Lösung des Rätsels behilflich zu sein versucht. In Sachen grafischer Brutalität hat sich Argento mit „Vier Fliegen auf grauem Samt“ weiter gesteigert und einige kunstvoll inszenierte Morde zu bieten, die in ihrer Schockwirkung einwandfrei gelungen umgesetzt wurden. Die Maske des Täters sorgte zumindest bei mir für zusätzliche Gänsehaut. Die Enthüllung des Mörders und seines psychologisch-traumatischen Motivs weiß zu überzeugen und kann durchaus als Kritik an Frauenfeindlichkeit aufgefasst werden. Zwar kommt man ihm gemessen an anderen Gialli schon relativ schnell auf die Spur und die Wendungen überschlagen sich auch nicht unbedingt im Finale, was meinem Sehvergnügen aber keinen Abbruch tat. Sowohl „Die neunschwänzige Katze“ (Argentos Zweitwerk) als auch „Vier Fliegen auf grauem Samt“ sind sicherlich keine Überflieger, aber wirklich gute Filme abseits des Mainstreams, die mich spannend und ansprechend unterhalten.
Obiges notierte ich im Jahre 2010. Abgesehen davon, dass es sich beim in der Netzhaut einbrennenden letzten gesehenen Bild vor dem Tode offenbar um unfreiwilige Science-Fiction, sprich: einem Irrtum, dem (nicht nur) Argento damals aufsaß, handelte (wenn auch einen sehr charmanten!), ist mir im Zuge der Kino-Wiederaufführung der hohe komödiantische Anteil aufgefallen, der die düstere Stimmung immer wieder konterkariert und den Film streckenweise zu einer Art Comedy-Giallo macht. Zudem scheint die Tatperson ihren Plan unfassbar verkompliziert durchzuführen, während zugleich die psychologische Brücke, die sie am Ende zu ihrem Opfer schlägt, eher schwach motiviert wirkt und ebenfalls kaum nachzuvollziehen ist. Ihr auserkorenes Opfer erscheint nach der Pointe etwas dröge, hätte es anhand jenes Netzhautbilds doch viel eher auf die Tatperson schließen können. Toll sind dagegen die Superzeitlupen, die im Kino erst so richtig ihre Wirkung entfalten.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Do 20. Okt 2022, 10:45
von buxtebrawler
Deliria över Nürnberg, Pt. II:

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Der Clan der Killer

„…voll mit Hasch wie ein türkischer Reisebus!“

Der italienische Regisseur Tulio Demicheli („Dracula jagt Frankenstein“) erweiterte den Kanon im Mafiamilieu spielender Gangsterfilme um den im Jahre 1973 veröffentlichten „Der Clan der Killer“, der mit Robert Mitchums mäßig talentiertem Sohn Christopher in der Hauptrolle aufwartet, in den Nebenrollen aber wesentlich interessanter besetzt ist.

Während der junge Erwachsene Ricco (Christopher Mitchum, „Summertime-Killer“) seine zwei Jahre für „Betteln mit der Pistole“ im Knast absaß, wurde sein Vater (Luis Induni, „The Loreley's Grasp“), ein Mafioso, von Konkurrent Don Vito (Arthur Kennedy, „Crawlspace“) umgebracht. Riccos Freundin Rosa (Malisa Longo, „Das Mädchen Julius“) krallte sich der Unhold gleich auch noch, sie dient ihm seither als Bettgespielin. Zu seinem Vater hatte der schlurfige Ricco ohnehin kein gutes Verhältnis, doch dass Don Vito ihm Rosa gestohlen hat, geht zu weit. Eigentlich möchte er zwar keine Familienfehde heraufbeschwören, trifft sich aber dennoch heimlich mit Rosa und rückt Don Vito zunehmend auf die Pelle. Dieser wiederum reagiert ungehalten und hetzt seine Killer auf Ricco, der sich nun zunehmend zur Wehr setzen muss. Zur Seite steht ihm dabei die sexy Falschgeldverbreiterin Scilla (Barbara Bouchet, „Milano Kaliber 9“), die nicht mit ihren Reizen geizt…

Die Handlung um einen jungen Mann, der eigentlich weder etwas mit der Mafia noch mit Gewalt und Tod zu tun haben möchte, letztlich aber keine Wahl hat und gnadenlos in den zerstörerischen Abgrund hineingezogen wird, hätte ausreichend Stoff für ein (vielleicht sogar kluges) Drama geboten. Nicht so unter Demichelis Regie. Die Geschichte bleibt eher Beiwerk und wird mitunter etwas holprig erzählt. So ist die Rückblende, die ein Streitgespräch zwischen Ricco und seinem Vater zeigt und eine Art Generationskonflikt skizziert, nicht ohne Weiteres als solche erkennbar und sorgt eher für Verwirrung. Im Auftakt starb Riccos alter Herr nämlich bereits im Kugelhagel, bewies dabei aber ordentliche Nehmerqualitäten (die offenbar in der Familie liegen, wie der Schluss zeigen wird).

Vielmehr setzt man auf Schauwerte – womit sicherlich nicht Mitchums zwei Gesichtsausdrücke gemeint sind, sondern zum einen die beiden Damen, von denen Longo häufiger nackt als bekleidet ist und Bouchet nicht nur durch Kamerazooms auf ihre, nun ja, für bestimmte Teile des Publikums sicherlich interessantesten Körperpartien eingeführt wird, sondern auf offener Straße im Scheinwerferlicht der Fieslingskarre auch einen Striptease hinlegen und sich barbusig auf der Motorhaube räkeln darf. Zum anderen sind es die grafisch expliziten Härten, womit ich nicht in erster Linie die Schießereien und schon gar nicht Mitchums bescheidene Karatekünste meine, sondern Don Vitos Sitte, Gegenspieler und Abtrünnige im Säurebad seiner Seifenfabrik zu entsorgen (weshalb er sich vor seiner eigenen Seife ekelt), sie mitunter gar zuvor kastrieren zu lassen, wenn sie „seiner“ Rosa zu nahegekommen sind.

Derartige Szenen werden wiederum kontrastiert von der komödiantischen Inszenierung besagter Striptease-Szene und der humorigen Einführung Riccos Schwester (Paola Senatore, „Mädchen im Knast“) und seinem Schwager (Luigi Antonio Guerra, „Wer macht was mit wem, und warum nicht mit mir?“), die gern mal ihre Tankstellenkunden ignorieren, um sich miteinander im Bett zu vergnügen. Zudem sorgt manch eigenartiger Dialog für Amüsement oder Stirnrunzeln. Im großen Showdown wird dann – ganz wie eingangs – noch einmal kräftig herumgeballert und trotz zahlreicher Kugeln im Leib erst mit reichlich Verzögerung das Zeitliche gesegnet. Mitchum mit schulterlangen blonden Haaren und Milchgesicht nimmt man seine Rolle bis zum bitteren Ende nicht ab und bleibt damit aller angedeuteten Tragik zum Trotz emotional eher unbeteiligt.

Diese Mischung aus grimmigem „Gangsteriesco“ und eher trashigem Sunnyboy-Sleaze weiß ein geeichtes Publikum gut zu unterhalten, formal betrachtet handelt es sich jedoch – gerade angesichts starker Genre-Konkurrenz – nicht wirklich um einen guten Film im klassischen Sinne. Gewinnerin des Films ist Barbara Bouchet, die hier nicht nur als Stripperin, sondern auch als freche Betrügerin aus der Halbwelt wirklich Zucker ist.

Die deutsche Kinofassung wurde um einige grafische Härten erleichtert; möglich, dass die ungekürzte Fassung bei Freundinnen und Freunden garstiger Spezialeffekte noch gewinnt.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Do 20. Okt 2022, 15:30
von buxtebrawler
Deliria över Nürnberg, Pt. II:

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La calda vita – Das heiße Leben

„Mach dir eine Kompresse!“

Die im Februar 1964 veröffentlichte italienisch-französische Koproduktion „La calda vita – Das heiße Leben“ ist eine von Regisseur Florestano Vancini („Die lange Nacht von Ferrara“) inszenierte Verfilmung des (mir unbekannten) dritten Romans einer Trilogie des italienischen Autors Pier Antonio Quarantotti Gambini, der (laut Bretzelburger) in seinen Büchern veränderte Geschlechterverhältnisse im Nachkriegsitalien darstellte und verarbeitete. Das Liebes-/Coming-of-Age-Drama erzählt eine Dreiecksgeschichte, die zu einer Vierecksgeschichte gerät, in deren Mittelpunkt die Heranwachsende Sergia (Catherine Spaak, „Süße Begierde“) steht.

„Man sollte nicht immer die Wahrheit sagen…“

Die junge, attraktive Sergia entstammt einer Mittelschichtfamilie und hat eine große Schwester, Liuli (Halina Zalewska, „Auf eine ganz krumme Tour“), die offenbar gern mit den Männern spielt und einen entsprechenden Ruf genießt. Als Sergias gleichaltrige Freunde Max (Fabrizio Capucci, „Das süße Leben“) und Fredi (Jacques Perrin, „Z“) mit ihr für ein paar Tage auf eine idyllische Insel in der Nähe fahren wollen, wo sie angeblich das Ferienhaus eines Onkels bewohnen können, lehnt sie zunächst dankend ab, um schließlich, als sich ein Familienzwist um Liuli abzeichnet, doch einzuwilligen. Auf dem felsigen Eiland vergnügt man sich beim Wasserski und genießt unbeschwert die Sonne. Der aus einer ärmlichen Familie stammende, kleinkriminelle und aufbrausende Max und der zurückhaltendere, weniger problembehaftete Fredi verfolgen jedoch den Plan, Sergia ins Bett zu kriegen. Sie wollen sie sich gewissermaßen teilen: Erst darf der eine ran, dann der andere. Dabei haben sie jedoch die Rechnung ohne Sergia gemacht, die sich nicht ohne weiteres herumkriegen lässt. Als der Eindruck entsteht, Fredi habe Sex mit Sergia gehabt und wolle sie nun für sich behalten, zerstreiten sich die Jungen. Sergia unternimmt allein einen Tauchausflug und lernt dabei Guido (Gabriele Ferzetti, „Die mit der Liebe spielen“) kennen, den eigentlichen Besitzer des Ferienhauses, das Max und Fredi kurzerhand aufgebrochen hatten. Guido könnte ihr Vater sein, fühlt sich von der frechen Sergia dennoch (oder gerade deshalb?) angezogen. Kraft seiner Erfahrung lässt er sich auf keines ihrer Spielchen ein, zeigt ihr rasch mittels einer gewissen Autorität die Grenzen auf und beweist seine Dominanz. Den Jungs ist er nicht böse, zu viert geht man nun im Feriendomizil dem schönen Leben nach. Doch unter der Oberfläche brodelt es vor Eifersucht und gekränktem Stolz, denn alle drei Vertreter des männlichen Geschlechts haben nun Interesse an Sergia…

„Glaubst du, dass ich ein Mädchen bin, das man so nimmt…?“

Der auf technisch recht hohem Niveau gedrehte „La calda vita“ nimmt sowohl mit den malerischen, sonnendurchfluteten Landschaften, dem blauen Meer und der anfänglich sommerlich-leichten Stimmung als auch mit Catherine Spaaks makellosem Körper und ihrer entwaffnenden Mimik gleich gefangen, untermalt von einem wiederkehrenden musikalischen Motiv in unterschiedlicher Instrumentierung. Er erzählt die Geschichte einiger weniger, dafür umso schicksalhafterer Sommertage und macht deren Emotionen von Zuneigung über Triebhaftigkeit, Eifersucht, Wut und Verzweiflung bis hin zur aus alldem resultierenden Trauer und Melancholie spürbar. In ihrem Zentrum steht Sergia stellvertretend für eine bereits vor der sexuellen Revolution selbstbestimmter und -bewusster auftretende Generation junger Frauen, die sich gegen patriarchale Verhaltensmuster zu behaupten wissen. Das ist etwas, womit keiner der hier involvierten Jungen bzw. Männer so richtig umgehen kann, am wenigsten Max, der erst seinen besten Freund zu harpunieren droht und schließlich den Freitod wählt.

„Nun erzähl mir bloß keinen Fortsetzungsroman!“

Sergia hingegen durchläuft mehrere Reifeprozesse: Ihre sexuelle Initiation durch einen väterlichen Liebhaber, einen schmerzhaften, schockierenden Verlust in Form von Max‘ Tod sowie die Emanzipation von den Wünschen und Erwartungshaltungen anderer, weshalb sie auch Guidos Eheofferte überaus reflektiert abschlägt und, mittels Flughafen-Metapher versinnbildlicht, in ein eigenständiges Leben aufbricht. Für Vertreterinnen und Vertreter patriarchalisch, reaktionär oder orthodox-religiös geprägter Moralvorstellungen dürfte diese Geschichte ein Affront gewesen sein, ebenso die Inszenierung einer unbekleideten Spaak, deren Geschlechtsorgane dennoch im Verborgenen bleiben. Damit umging Vancini die Zensur und erzeugte zugleich eine subtile Erotik, die sich (Fußfetischisten aufgemerkt!) auch in Großaufnahmen Sergias zarter Mädchenfüße niederschlägt. Ihr zwischen offenherzig und abweisend pendelndes Auftreten scheint ihre ohnehin schon starke Anziehungskraft weiter zu beflügeln, zugleich bringt es die Herren um den Verstand.

„Die Welt pfeift auf uns!“

Im Geschlechtermiteinander der westlichen Hemisphäre heutzutage, zwischen Freundschaft, zwanglosem Sex bis hin zur Partnersuche und zum Eheversprechen, scheinen Angehörige aller Geschlechter Sergias Verhaltensweisen kultiviert zu haben, sie zuweilen bewusst einzusetzen und, selbst mit ihnen konfrontiert, damit umzugehen gelernt zu haben. Vielleicht trug dieser kleine Film in prärevolutionären Zeiten bereits ein Stück weit dazu bei; in jedem Falle ist er ein vergessener, aber sehenswerter Mosaikstein in der Entwicklung zum erotischen Film. Meinen Nerv traf diese Inszenierung, wenngleich sie Gefahr läuft, aus heutiger Perspektive etwas unspektakulär zu wirken, zumal sie möglicherweise in Richtung Rape-and-Revenge-Thriller oder ähnliche Gefilde tendierende Erwartungshaltungen komplett unterläuft. Dass nicht jede Kritik an den einzelnen Figuren ausformuliert wird, sondern sich indirekt, mitunter auch erst in der Reflektion, erschließt, passt hingegen zur reduzierten Form des Films, der fast gänzlich mit nur einem Schauplatz und einem sehr übersichtlichen Ensemble auskommt, unter dessen hübscher Oberfläche aber mehr steckt, als man auf den ersten Blick vermuten würde.

Mindestens 7,5 von 10 Spaak’schen Gesangseinlagen lasse ich da gern an meine Ohren und hoffe auf eine ungekürzte deutschsprachige Heimkino-Veröffentlichung nicht nur dieses, sondern aller frühen Catherine-Spaak-Filme. Würde doch eine hübsche Box abgeben, oder?