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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Fr 21. Okt 2022, 09:43
von buxtebrawler
Deliria över Nürnberg, Pt. II:
buxtebrawler hat geschrieben: Sa 29. Jan 2011, 23:08 Bild
The Good, the Bad and the Ugly
Ein mysteriöser Fremder namens Joe, der mexikanische Revolverschütze Tuco und Sentenza, ein sadistischer Krimineller, sind auf der Jagd nach einer Geldkassette. Inhalt: 200.000 Dollar. Die drei Desperados haben nichts miteinander gemein - werden aber zu Komplizen, wenn es die Situation erfordert. Doch jeder verfolgt nur ein Ziel: die Geldkassette. Und keiner von ihnen ist bereit, zu teilen...
Sergio Leones dritter Italo-Western und Abschluss der „Dollar-Trilogie“ aus dem Jahre 1966 ist für mich DER Italo-Western schlechthin: perfektes Drehbuch, perfekte Besetzung mit Clint Eastwood, Eli Wallach und Lee van Cleef in den Hauptrollen, perfekter Soundtrack von Maestro Ennio Morricone, perfekte Regiearbeit. Die Geschichte dreht sich um eine wenig heldenhafte Dreierkonstellation bestehend aus vollkommen unterschiedlichen Charakteren, deren Wege sich auf der Jagd nach einer auf einem Friedhof vergrabenen Geldkassette immer wieder kreuzen und sie mal zu unerbittlichen Gegnern machen und mal zu verschworenen Zweckgemeinschaften zusammenschweißen. Zwischen dem schweigsamen Kopfgeldjäger „Blondie“ (Clint Eastwood) und dem impulsiven, temperamentvollen Ganoven Tuco (Eli Wallach) entwickeln sich dabei Ansätze einer ungewöhnlichen Männerfreundschaft, die hinter dem Ziel, dem Fund des Geldschatzes, in den entscheidenden Momenten aber immer zurückstecken muss. So geht man sich gegenseitig an die Gurgel, nur um im nächsten Moment umeinander besorgt zu sein und an einem Strang zu ziehen. Unmöglich scheint aber die Entwicklung einer derartigen Beziehung zum kaltblütigen „Angel Eyes“ Sentenza (Lee van Cleef), einem kaltblütigen Auftragskiller, der ebenfalls hinter dem Geld her ist. Neben menschlicher Raffgier dominieren Schweiß und Dreck Leones Werk, das ironischerweise gerade dadurch das Glanzlicht des Genres darstellt. Verklärende Romantik nach US-Manier gibt es hier nicht; die Antihelden wurden losgelassen, um mit dem Zigarillo im Mundwinkel, der Pistole im Anschlag und dem Teufel im Leib endgültig den Beweis anzutreten, dass Europa die besseren Western hervorbringt und sich mit diesem Beitrag so fest ins kollektive Populärkulturbewusstsein einzubrennen, dass selbst, wer den Film nicht kennt, ganz bestimmt schon einmal auf irgendeine Art mit ihm konfrontiert wurde.

Eastwood gefällt sich sichtlich in der Rolle des unterkühlten, aber mit Intelligenz und trotz zusammengekniffener Augen Weitblick ausgestattetem, geheimnisvollen Meisterschützen und van Cleef erfüllt den Part des wandlungsfähigen, brutalen Unholds mit Bravour, doch beide verblassen (sofern davon überhaupt die Rede sein kann) neben Eli Wallach, der die Rolle seines Lebens spielt und den Film theoretisch auch ganz allein hätte tragen können. Als dauerfluchender, verschlagener und bauernschlauer Mexikaner und mit seinem ausgeprägten Mienenspiel wird er zum heimlichen Sympathieträger für den Zuschauer, der keine eindeutige Identifikationsfigur vorgesetzt bekommt, sondern individuelle Charaktere mit Fehlern, charakterlichen Schwächen und einem ausgewiesenen Gespür fürs große Geld. Wallach sorgt zudem für den humoristischen Teil des Films, aber ohne sich in Overacting zu verlieren oder eine Komödie draus zu machen. Immer, wenn das Drehbuch Gefahr läuft, zu sehr ins Komödiantische abzudriften, zieht es die Reißleine und bekommt rechtzeitig die Kurve. Generell spielt die Mimik eine große Rolle; so kommt es zu zahlreichen Mimikduellen, für die kein gesprochenes Wort notwendig ist. Veredelt von einer Kameraführung, die sich beständig zwischen den Polen Panorama und Close-Up, gern und ausgiebig auf die charakteristischen Augenpartien der Protagonisten, bewegt und dafür sorgt, dass man die Gesichter des kontrastreichen Trios nie wieder vergisst, wird eine poetische Gänsehautszene nach der anderen geschaffen, während die Dialoge wohldosiert und auf den Punkt gebracht geschrieben wurden. Ohne jemals zur Selbstzweckhaftigkeit, zum „Style over Substance“ zu geraten, wird die Kraft der Bilder voll ausgereizt. Ein geschwätziger Film ist das ganz bestimmt nicht, dennoch oder gerade deshalb wirkt das gesprochene Wort doppelt schwer und einige Aussprüche prägen sich ins Langzeitgedächtnis ein und werden zumindest beim Genrekenner zu geflügelten Worten. Die Handlung ist episodenartig aufgebaut und jeder Teilabschnitt verfügt jeweils über seine eigene Dramaturgie und eine Pointe, eingebettet in ein großes dramaturgisches Ganzes. Dadurch wird gewährleistet, dass „The Good, the Bad and the Ugly“ trotz seiner beachtlichen Länge zu keiner Sekunde langatmig wird. Die einzelnen Pointen und Höhepunkte hätten gleich für mehrere Filme gereicht, andere Filmemacher schaffen es nicht einmal, auch nur eine einzige in dieser Qualität zu fabrizieren. Im wahrsten Sinne des Wortes im Vorbeigehen vollbringt man es gar, neben der hochgradig unkitschigen, illusionslosen und sarkastischen Charakterzeichnung, Kritik am sinnlosen US-amerikanischen Bürgerkrieg unterzubringen, die sich in dem Moment, als selbst die Teilnahme an selbigem nur eine weitere Zwischenstation auf dem Weg zum persönlichen, egoistischen Ziel darstellt, hervorragend in die Handlung einfügt und das Militär-Brimborium mit seiner „Kameradschaft“ und den vermeintlich hehren Zielen vollkommen abwegig, sogar albern erscheinen lässt. Nach langem, beschwerlichen Weg durch karge Wüsten, in denen die Sonne unnachgiebig brennt, kommt es auf dem staubigen Friedhof zu einem finalen Showdown, dem aber zusätzlich noch eine Schlusspointe folgt, bis das geplättete Publikum mit Blick auf den davonreitenden, „lachenden Dritten“ aus diesem Meisterwerk entlassen wird. Es hat gerade einen spannenden und zugleich poetischen, einen epischen und doch kurzweiligen, einen zynisch-ernsten obgleich erheiternden Film gesehen, der auch heute noch in der Lage ist, Menschen nicht nur für sein aus der heutigen Filmwelt verbanntes Genre, sondern für die faszinierende Welt des Films allgemein zu begeistern, ja, sich in sie zu verlieben. „The Good, the Bad and the Ugly“ ist mit Sicherheit einer der besten Filme aller Zeiten, vielleicht sogar der beste. Ein zeitloser Klassiker.
:nick:

"Ein Zombie hing am Glockenseil" schaue ich mir die Tage noch mal zu Hause an, um dann endlich auch mal etwas darüber zu schreiben.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Do 27. Okt 2022, 17:45
von buxtebrawler
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Halloween Ends

„Lass uns einfach alles abfackeln!“

Regisseur David Gordon Greens „Halloween”-Trilogie, die 2018 startete, sämtliche vorausgegangenen Fortsetzungen ignorierte und stattdessen an John Carpenters Original anknüpfte, endet mit „Halloween Ends“, der ein Jahr nach dem zweiten Teil „Halloween Kills“ im Oktober 2022 in die Kinos kam. Erneut fungierten Green und Danny McBride als Drehbuchautoren, als Co-Autoren traten diesmal mit Paul Brad Logan und Chris Bernier gleich zwei Schreiber in Erscheinung.

„Michael Myers tötet Babysitter, keine Kinder!“

Seit Michael Myers (James Jude Courtney), maskierte Inkarnation des absolut Bösen, die US-amerikanische Kleinstadt Haddonfield das letzte Mal in Atem hielt und zahlreichen Bewohnerinnen und Bewohnern selbigen für immer nahm, sind vier Jahre ins Land gezogen. Allyson (Andi Matichak) lebt mit ihrer Großmutter Laurie Strode (Jamie Lee Curtis) zusammen. Laurie hat unlängst beschlossen, ihr Leben nicht mehr von ihrer Angst vor Michael bestimmen zu lassen, und verarbeitet ihre Erlebnisse in einem Buch, an dem sie gerade arbeitet. Von einigen Bewohnerinnen und Bewohnern Haddonfields wird Laurie jedoch wie eine Aussätzige behandelt und ihr mehr oder weniger unverblümt zumindest eine Mitschuld an Michaels Mordserien gegeben, worunter auch Allyson leidet. Damit hat sie etwas mit dem jungen Corey Carpenter (Rohan Campbell, „The Hardy Boys“) gemeinsam: Diesem wirft man vor, ein kindermordender Psychofreak zu sein, seit vor einigen Jahren ein kleines Kind während seines Babysittings durch einen Unfall ums Leben kann. Als Allyson und Corey sich kennenlernen, funkt es zwischen den beiden. Doch bald erschüttern neue Morde die Kleinstadt. Michael Myers scheint zurück zu sein…

Wie beendet man die – oder vielmehr eine – „Halloween“-Reihe? Der zu empfehlende „Halloween VI“-Producer’s Cut fand eine akzeptable, relativ elegante Lösung, ohne Myers zu entmystifizieren. Green und sein Team verfolgen einen anderen Ansatz, aber der Reihe nach: Der Prolog zeigt den Unfall, an dem Corey beteiligt war, auf eine garstige, schwarzhumorige Weise. Dass man sich vorher gemeinsam John Carpenters „Das Ding aus einer anderen Welt“-Remake anschaut, ist sowohl als Hommage an Carpenter, den Erfinder der „Halloween“-Reihe, zu verstehen als auch als Referenz an dessen „Halloween“-Original aus dem Jahre 1978, in dem noch Christian Nybys „Das Ding…“-Original vom Bildschirm flimmerte. Lauries anschließend aus dem Off erklingende Reflektionen entpuppen sich als Zeilen ihres Buchmanuskripts, an dem sie gerade schreibt.

Das Haddonfield, das Laurie beschreibt und das wir im weiteren Verlauf neu kennenlernen werden, wirkt wie verkatert, gefangen in einer Tristesse, gegen die man eher gequält anzulächeln versucht, unter seiner Oberfläche schwer traumatisiert und vernarbt. Der überdrehte Radiosprecher gibt vor, für ein wenig Fröhlichkeit zu sorgen, ergeht sich jedoch in Sarkasmus und Zynismus. Feierlichkeiten werden ebenso wie Spaziergänge oder schlicht jede Form von Öffentlichkeit zu gefährlichen Situationen für den stigmatisierten Corey, der gemobbt wirbt, als arbeite man sich an ihm stellvertretend für Michael Myers ab (in zweifacher Hinsicht gar?). Doch was sich zunächst als durchaus sensible Außenseiterromanze mit Selbstermächtigungstopos präsentiert, gerät zunehmend zu einer Verquickung aus psychologischem Drama und Horrorfilm. Ohne zu viel zu spoilern, sei verraten, dass Corey eine Wandlung durchläuft, bis er als Identifikationsfigur oder Sympathieträger nichts mehr taugt. Dem geschuldet funktioniert der Film zeitweise nicht mehr richtig für mich, nämlich so lange, wie Corey längst Täter geworden ist, einem aber weiterhin auf emotionaler Ebene als Opfer präsentiert wird. Möglicherweise ist das daraus resultierende Unwohlsein aber auch intendiert.

Von Versuchen wie in „Freitag der 13. – Ein neuer Anfang“, einen anderen Killer unter der Maske zu etablieren, scheint „Halloween Ends“ zumindest inspiriert, sich zugleich daran erinnernd, wie wenig so etwas bisher vom Publikum goutiert wurde. Also bekommt man es hier mit gleich zwei durchgeknallten, blutrünstigen Killern zu tun, die zuweilen als eine Art Team zusammenarbeiten. Die Folgen sind starke, brutale Szenen und deftige Morde. Zwar wurde gerade in der ersten Filmhälfte das Tempo etwas herausgenommen, dennoch sind die Gewaltspitzen wohldosiert – weniger inflationär, dafür länger nachwirkend. Auf Protagonistinnenseite sind nur noch Großmutter und Enkelin übrig, dafür aber in bekannter Stärke, auch wenn Alysson zwischenzeitlich schwach zu werden droht.

Deutlich geschwächt jedenfalls ist Michael Myers, der sich die meiste Zeit versteckt hält und unter dessen abgeranzter Maske sich die verbrannte Haut eines altes Mannes abzeichnet. Neue Kraft scheint er durch seinen unerwarteten Verbündeten zu beziehen, bis sich dieser gegen ihn richtet, ihm sogar die Maske entwendet. Die Boshaftigkeit zu vieler Haddonfielderinnen und Haddonfielder scheint das ultimativ Böse reanimiert zu haben, das sich nun neue Wege, möglicherweise aufgrund der Schwächung des bisherigen Körpers einen neuen „Wirt“ sucht. Vollständig aufgearbeitet und entschlüsselt wird das glücklicherweise nicht, so bleibt die mystische Stimmung erhalten. Dies trifft auch auf die Szenen um den demaskierten Myers zu, denn wie schon im einen oder anderen Film zuvor vermied man es, sein Gesicht im Detail mit der Kamera abzufahren. Er bleibt eine schattenhafte, mystische Gestalt, die hier ein Ende nimmt, dessen Fortsetzung schon nach „Jason Goes to Hell – Die Endabrechnung“-Manier erfolgen müsste, um überhaupt möglich zu werden.

Das wird nicht geschehen, eher würde man einen weiteren Neustart wagen. Einen „Halloween“-Strang beenden zu müssen, scheint mir immer eine etwas undankbare Aufgabe zu sein, zu unterschiedlich sind die Erwartungshaltungen der Fan-Gemeinde. Die Bösartig- und weitgehende Unkapputbarkeit Michael Myers‘ ist weitestgehend undefiniert und unerklärt, was ja gerade einen großen Teil der Faszination der Filme ausmacht. Damit einher gehen individuell unterschiedliche Vorstellungen und Interpretationen der Zuschauerinnen und Zuschauer, während sich Autoren und Regisseur zumindest ein Stück weit festlegen müssen, wollen sie das Monstrum einmal nachhaltig besiegen.

„Halloween Ends“ geht die Halloween-Gemütlichkeit, die beispielsweise seinerzeit ein „Halloween 4“ in herausragender Weise bot, nahezu komplett ab, die Ausrichtung gen Psychodrama wird nicht jedem schmecken und das Finale schon gar nicht. Green und die Autoren bemühen sich um psychologische Finessen, Subtext und ein wenig Tiefgang. Durch Coreys erstmaliges Auftauchen in diesem Film – in den vorausgegangenen war nie die Rede von ihm – wirkt das aber auch ein wenig erzwungen, während all die Entwicklungen reichlich schnell vonstattengehen, eigentlich Stoff und Entwicklungspotenzial über mehrere Filme hinweg geboten hätten und dadurch mitunter etwas oberflächlich wirken, bei zugleich spürbar heruntergefahrenem Tempo in Bezug auf die eigentliche Hauptfigur Michael Myers und deren Gräueltaten.

Das ist alles passabel gelöst, zweifelsohne unterhaltsam anzusehen und bei entsprechend geeichter Erwartungshaltung sicherlich auch nicht zwangsläufig enttäuschend. Allein schon das Großmutter-Tochter-Gespann durch seine Konflikte zu begleiten und Jamie Lee Curtis einmal mehr schauspielerisch glänzen zu sehen, während Andi Matichak ihre Rolle beim Erwachsenwerden begleitet, ist das Eintrittsgeld wert. Bliebe aber die Frage, ob man überhaupt jeden Ast des „Halloween“-Baums unbedingt zu Ende erzählen muss…

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Fr 28. Okt 2022, 13:51
von buxtebrawler
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Spione am Werk

„Ich finde es kindisch, im Zeitalter der Atombombe politische Ideale zu haben.“

Auf die „Picasso“-Dokumentation des französischen Ausnahmeregisseurs Henri-Georges Clouzot folgte im Jahre 1957 mit „Spione am Werk“ eine Art Agenten-Thriller, der sich in seiner Machart stark von anderen Filmen dieses Bereichs unterscheidet. Diese französisch-italienische Schwarzweiß-Verfilmung basiert auf dem Roman „Der Mitternachtspatient“ des Tschechen Egon Hostovský.

„Schon bei dem Gedanken an dieses Milieu wird mir schlecht!“

Dr. Malic (Gérard Sety, „Die Liebe der Lady Chatterley“) leitet eine psychiatrische Klinik, die zurzeit lediglich zwei Patienten betreut. Die finanzielle Situation ist daher äußerst angespannt. Das Angebot des US-amerikanischen Geheimagenten Colonel Howards (Paul Carpenter, „Der dritte Mann“) kommt da gerade recht: Bringt Dr. Malic den aus seiner Heimat geflohenen ostdeutschen Atomwissenschaftler Dr. Hugo Vogel konspirativ in seiner Klinik unter, winken ihm fünf Millionen Francs. Dr. Malic ist zwar skeptisch, kann das Geld aber insbesondere zur Behandlung der erstummten Lucie (Vera Clouzot, „Die Teuflischen“) mehr als gut gebrauchen. Doch schon am nächsten Tag wurde das gesamte Klinikpersonal gegen US-Agentinnen und -Agenten ausgetauscht, die nun de facto die Leitung für sich beanspruchen. Als Alex (Curd Jürgens, „Teufel in Seide“) auftaucht, hält man ihn für besagten Dr. Vogel, doch nicht jeder ist hier derjenige, der er vorgibt zu sein, und Dr. Malic findet sich inmitten des Kalten Kriegs wieder, der auch für ihn nicht ungefährlich ist – schon gar nicht, je mehr er selbst versucht, Licht ins Dunkel zu bringen…

Allerlei Verrücktheiten passieren hier, wodurch „Spione am Werk“ zunächst satirisch wirkt, als seien endlich die wahren Verrückten in der Nervenheilanstalt. In dieser spielt Clouzots Verfilmung hauptsächlich. Dr. Malic sieht sich dort falschen Verdächtigungen ausgesetzt sieht und weiß gar nicht so recht, wie ihm geschieht. Die Handlung setzt ein großes Verwirrspiel um Alex‘ wahre Identität an, was zum Kernstück des Films avanciert. Leider versteht es Clouzot nicht, dieses dramaturgisch fesselnd zu inszenieren; mit abnehmenden Humor bzw. Gewöhnung an Dr. Malics absurde Situation schwindet mein Interesse an der Handlung, zu der ich keinen rechten Zugang mehr finde. Die enorme Dialoglastigkeit ist ermüdend und die ellenlangen untertitelten Sprachpassagen der ungekürzten deutschen Fassung zehren an den Nerven.

Wie schon Clouzots „Die Teuflischen“-Verfilmung ist „Spione am Werk“ mit rund zwei Stunden zu lang geraten, zudem zu geschwätzig und unpointiert. Das sah man offenbar auch beim deutschen Verleih seinerzeit so und straffte die Kinofassung um rund 20 Minuten. Als völlig aus der Art schlagender Agenten-Thriller ist „Spione am Werk“ zweifelsohne filmhistorisch interessant, als Unterhaltungsprogramm hingegen dem starken Schauspielensemble zum Trotz eher hartes Brot.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Mi 2. Nov 2022, 18:11
von buxtebrawler
Polizeiruf 110: Hexen brennen

„Plötzlich wird hier alles anders!“

Anlässlich der Halloween-Feierlichkeiten sendete die ARD am 30. Oktober 2022 die Mystery-Krimi-Episode „Hexen brennen“, die unter der Regie Ute Wielands entstand. Die Verfilmung eines Drehbuchs Wolfgang Stauchs ist nach „Hetzjagd“ und Black Box“ ihr dritter Beitrag zur öffentlich-rechtlichen „Polizeiruf 110“-Krimireihe. Angesiedelt wurde er im Magdeburger Umland, sodass Claudia Michelsen in ihrer Rolle als Kriminalhauptkommissarin Doreen Brasch ermittelt.

„Ihr Schädel wurde mit einem Folterwerkzeug zerquetscht!“

Kurz nach Halloween werden am Brocken nahe des Dorfs Thalrode die verbrannten Überreste der 32-jährigen Tanja Edler gefunden, die zuvor offenbar grausam zu Tode gefoltert worden war. Vor ungefähr einem Jahr war sie zurück ins Dorf gekommen, um das Hotelrestaurant ihrer Familie zu übernehmen. In Thalrode freundete sie sich mit der ansässigen Ärztin Peggy Sasse (Yvonne Johna, „Deckname Luna“) an, die einen spirituellen Frauenheilkreis leitet, deren Mitglieder von den Männern des Dorfs kritisch beäugt, mitunter gar für Hexen gehalten werden. Hatte man versucht, Tanja der Hexerei zu überführen? Oder sollte es lediglich so aussehen, das Motiv aber war ein anderes? Besonders negativ tut sich der sehr weltliche, tendenziell reaktionäre Allgemeinmediziner Hans Petersen (Michael Schweighöfer, „Otto – Der Katastrofenfilm“) hervor, der in Sasse eine Konkurrentin sieht. Aber auch der daueraggressive Reiko (Pit Bukowski, „Als wir träumten“) – Tanjas Bruder – und ihr Ex-Freund Paul Kopp (Helgi Schmid, „Polizeiruf 110: Der Tag wird kommen“), verschroben wirkender Inhaber des örtlichen „Hexenladens“, machen sich verdächtig. Als auch Sasses verkohlter Leichnam aufgefunden wird, kristallisieren sich vor den Häusern der Opfer abgelegte tote Hunde als Unglücksboten oder Warnungen heraus. Mithilfe des hinzustoßenden Kriminalrats Uwe Lemp (Felix Vörtler) ist nun Eile geboten, um ein nächstes Opfer zu verhindern…

„Gott ist ein Waschlappen!“

Deutschland verfügt über mehrere mystische Orte, der Brocken im Harz ist einer davon und wird gern mit Hexenspuk in Verbindung gebracht. Warum also nicht einmal dieses Gebirgsgestein aufgreifen, um einen Mystery-Krimi drumherum zu spinnen? Aus diesem Ansatz machen Autor Stauch und Regisseurin Wieland eine Episode mit einerseits klassischer Täter- und Motivsuche, die sie andererseits mit Mystery-Elementen anreichern: Sowohl durch die Nähe zum Brocken als auch die Kleingeistigkeit manch Dorfbewohners ist die Hexenthematik in Thalrode allgegenwärtig, hier einmal mehr als Metapher sowohl für starke, unabhängige Frauen als auch für Naturverbundenheit und Spiritualität. Ein wenig befremdlich, wenn nicht gar unfreiwillig komisch wirken die Rituale der Damen dann aber schon.

„Der Hund ist nicht der Hexen Freund…“

Den offenbar tatsächlich übersinnlichen Mystery-Aspekt liefern aber zwei sich nicht unbedingt ähnlich sehende, jedoch stets identisch gekleidete Mädchen, denen Kommissarin Brasch immer wieder begegnet und die letztlich helfen werden, die Mordserie zu beenden. Hinzu kommen eine Klangkulisse mit (mehr oder weniger) unheimlich flüsternden Stimmen, die durch die Dorfgassen wabern, und „Wir machen unser Dorf schöner“-Maßnahmen wie Pentagramm-Graffiti an den Häuserwänden. Die Figuren sind indes recht stereotyp und schon bald kann man den Eindruck gewinnen, es lebten ausschließlich Bekloppte in Thalrode. Spätestens, als die leider etwas blass bleibende und sicherlich mehr könnende Michelsen in ihrer Rolle als bemüht selbstbewusst auftretende, dennoch von kaum jemandem ernstgenommene Kommissarin auf der Stelle zu treten beginnt, wird deutlich, dass ihr ein(e) Partner(in) an ihrer Seite fehlt. Zur Hälfte der Laufzeit stößt dann glücklicherweise tatsächlich Krimimalrat Lemp hinzu, der zumindest ein wenig mehr Dynamik einbringt.

„Der Ort hat ‘ne merkwürdige Energie…“

„Hexen brennen“ ist sichtbar um Atmosphäre bemüht, tut sich damit jedoch schwer. Zu lichtdurchflutet sind die meist am Tage spielenden Szenen, gruselige Schauwerte sucht man vergeblich. Der Handlung fehlt es etwas an Tempo, dafür wird viel geredet. Der Spannungsgehalt pendelt sich, wenn überhaupt, im Mittelfeld ein, enttäuscht jedoch mit einem hanebüchenen Finale und einer ebensolchen Auflösung. Wie man es als deutsche Sonntagskrimiinstitution zu Halloween deutlich besser macht, haben die Kolleginnen und Kollegen vom hessischen „Tatort“ mit „Fürchte dich“ einst eindrucksvoll bewiesen – wenngleich der Vergleich etwas hinkt, da die Frankfurter(innen) statt in den Mystery-Bereich zu gehen sich mit Anlauf und Gebrüll ins Horrorgenre stürzten. Dennoch hätte ich mir aus Magdeburg einen packenderen Beitrag gewünscht.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Di 8. Nov 2022, 17:50
von buxtebrawler
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Stranger Things

Staffel 4:

Make a deal with God


„'86, Baby!“

Nach zwei Jahren Produktionszeit hatte das lange Warten ein Ende und die ersten sieben Episoden der vierten Staffel der ‘80er-Rollback-Mystery/Science-Fiction/Horror/Coming-of-Age-Serie „Stranger Things“ der Zwillingsbrüder Matt und Ross Duffer wurden im Frühjahr 2022 vom US-Video-on-Demand-Streaming-Dienst Netflix bereitgestellt, die letzten beiden Episoden folgten einige Wochen später. Es soll sich um die vorletzte Staffel handeln, die fünfte und finale Staffel ist bereits bestätigt.

„Wir sind Außenseiter und Freaks!“

Die Episoden weisen nun Spielfilm- und sogar Überlänge auf; deren erste entführt zunächst ins Jahr 1978 im Hawkins-Laborinstitut und zu einem Jungen, den wir als „Nummer 010“ kennenlernen. Dr. Brenner (Matthew Modine) führt seine Experimente an Kindern mit telekinetischen Fähigkeiten durch, bis plötzlich alle Kinder außer 011 (also Elfie (Millie Bobby Brown)) getötet werden. Nach dem Prolog eröffnet Elfie aus dem Off, ihre Worte entpuppen sich als geschriebener Brief an ihren Freund Mike (Finn Wolfhard). Wir schreiben nun den 21. März 1986: Elfie ist mit Familie Byers nach Kalifornien gezogen und hat an der dortigen Highschool einen schweren Stand, wird als Außenseiterin gemobbt. In Hawkins hat Max (Sadie Sink) gerade eine Beziehung mit Lucas (Caleb McLaughlin) hinter sich, der sich von seiner Clique entfremdet und den Schulbasketballern anschließt. Dustin (Gaten Matarazzo), mittlerweile angehender Hacker, und Mike gehören dem „Hellfire Club“ an, einen AD&D-Pen-and-Paper-Rollenspielclub, der vom etwas älteren Heavy-Metal-Fan Eddie (Joseph Quinn, „Operation Overlord“) geleitet wird. Und eine dunkle Macht hat es auf die Heranwachsenden Hawkins‘ abgesehen…

Max hört gern Kate Bush, ihr Hit „Running Up That Hill” erklingt erstmals im Zusammenhang mit einer emotionalen Erfahrung Elfies und sorgt direkt für Gänsehaut. Er wird im weiteren Verlauf der Staffel immer mal wieder zu hören sein und eine wichtige Rolle spielen. Die überaus liebenswerte Figur Eddie, optisch eine Mischung aus Lips von Anvil und Eddie van Halen, wird famos als provokanter, aber auch intelligenter Rüpel mit Dio-Aufnäher auf seiner Jeans-Weste eingeführt, der im „Hellfire Club“ einen supertheatralischen Rollenspielleiter mimt. Zu seinem Dunstkreis zählt ein weiterer, korpulenter Metaller mit punkiger Frisur. Wer in den 1980ern gern Metal hörte, wird hier bestens abgeholt. Die Versuche der „Hellfire“-Mitglieder, Gäste für eine Clubparty zu gewinnen, erinnern an den Mike-Krüger-Evergreen „Wir feiern heut' 'ne Party“… Klasse gelöst ist eine Parallelmontage des Basketball-Meisterschaftsspiels, an dem Eddie teilnimmt, und einer Rollenspielpartie seiner bisherigen Clique. Die Cheerleaderin Chrissy (Grace Van Dien, „Charly Says“), die mit einem der tonangebenden Basketball-Cracks liiert ist, ereilen unheimliche Visionen, eine Terrorszene auf dem Schulklo erinnert an Pennywise‘ Vorgehen in „Es“. Die mit viel Humor gespickte Episode endet mit purem Horror für Chrissy und einem Aufenthalt in der unterhalb Hawkins‘ angesiedelten Upside-Down-Parallelwelt – und nach Chrissys Tod hängt Eddie knietief mit drin. Der Horroranteil ist auch grafisch überraschend hart ausgefallen, bewegt sich irgendwo zwischen „Es“ und „A Nightmare on Elm Street“ und ist ein gelungener Paukenschlag eines genialen Staffeleinstiegs, der zudem Hinweise darauf enthält, dass Hopper (David Harbour) noch leben könnte.

So steigt die zweite Episode dann auch mit einer Rückblende zu Hoppers vermeintlichem Tod ein und bringt Gewissheit: Er lebt! Mit diesem Prolog sind alle drei parallel verlaufenden Handlungsstränge eingeführt: Hopper im russischen Gefangenenlager, Elfie und die Byers in Kalifornien, der Rest der Clique mitsamt neuen Freunden und Feinden in Hawkins. Mike besucht Elfie in Kalifornien, wodurch sich die Grüppchen wieder ein wenig einander annähern und durchmischen. Steve (Joe Keery) und seine lesbische Freundin Robin (Maya Hawke) arbeiten jetzt in einer Videothek. Eine Rückblende zeigt, wie Hopper von den Russen gefoltert wird. In der Gegenwart erhält Joyce (Winona Ryder) eine Nachricht aus Russland, aus der sich die vage Hoffnung ergibt, Hopper aus dem Knast gegen die Zahlung von 40.000 Dollar herausholen zu können. Für eine kräftige Dosis ‘80er-Popultur sorgt Elfies und Mikes Besuch einer Rollschubahn, in der u.a. Falco und Baltimora („Tarzan Boy“, yeah!) gespielt werden. Die Rollschuhbahn wird zum Ort organisierter Demütigung Elfies. Doch das ist nichts gegen die Horrorvisionen, die nun auch Nachwuchsjournalist Fred (Logan Riley Bruner, „Alex Strangelove“) heimsuchen. Zusammen mit Nancy (Natalia Dyer) versucht er etwas über Chrissys Tod herauszufinden, wobei Eddies Onkel den Namen Victor Creel ins Spiel bringt: Dieser soll seine Familie vor einigen Jahren umgebracht haben. Eddie ist indes untergetaucht, wird jedoch von seinen Freunden gefunden und ins Upside Down und den damit zusammenhängenden Vorgängen in Hawkins eingeweiht. Der monströse Antagonist (Jamie Campbell Bower, „Sweeney Todd“), der Chrissy auf dem nicht vorhandenen Gewissen hat, wird „Vecna“ getauft und gesellschaftliche Paranoia gegen Rollenspieler und Metal-Fans zu einem Teil der Handlung gemacht. Damit greift „Stranger Things“ auf kluge Weise reale gesellschaftliche Stimmungen auf, die (nicht nur) in den 1980ern „dämonische“ Musik, Horrorfilme, Comics etc. und deren Produzent(inn)en respektive Konsument(inn)en als Sündenböcke für soziale Missstände heranzogen, was letztlich sogar den einen oder anderen Musiker vor Gericht brachte. Andererseits verfällt die Serie leider wieder in Kalter-Krieg-Klischees, indem sie Sowjets als gefühlskalte, brutale Monster darstellt – auch ein Teil der Populärkultur der 1980er-Jahre, jedoch keiner, der reproduziert werden sollte. Technisch indes ist das alles auf höchstem Niveau und mit sehr viel Sorgfalt und Liebe zum Detail von den Duffers persönlich inszeniert, womit die diese ersten beiden Episoden umfassende Exposition weitestgehend geglückt ist.

„Schnappen wir uns den Freak!“

In den weiteren Episoden bleibt die alte Clique bis zum Finale getrennt. Lucas gerät zunehmend in Loyalitätskonflikte zwischen seinen alten Freunden und den Mitgliedern des Basketballteams, die für Eddie, Dustin und Konsorten nur Verachtung übrighaben und zur Jagd auf Eddie blasen, da Teamkapitän Jason (Mason Dye, „Natural Selection“) Eddie für den Mörder seiner Freundin Chrissy hält. Neben Vecna gibt es somit einen weiteren Gefahrenherd (vgl. Henry Bowers & Co. in „Es“), zu dem sich gleich noch einer gesellt, denn die US Army wiederum hält Elfie für verantwortlich für Chrissys Tod. Dr. Sam Owens (Paul Reiser) schreitet ein und erklärt sich bereit, in den geheimen Laboratorien wieder mit Elfie zusammenzuarbeiten, damit sie ihre übersinnlichen Kräfte zurückerhält und im Kampf gegen das neue Unheil helfen kann. Im russischen Strafgefangenenlager muss sich Hopper neben den unmenschlichen Aufsehern mit Demogorgon und Demodogs herumschlagen, während in Hawkins die Victor-Creel-Spur bzw. der Familienmord mit Vecna zusammenzuhängen scheinen. Ein Gespräch mit Victor Creel, von niemand Geringerem als Robert Englund („A Nightmare on Elm Street“) gespielt, wirft ein neues Licht auf die Taten, aufgrund derer er in der Psychiatrie sitzt. Der Besuch bei ihm erinnert an „Das Schweigen der Lämmer“, die Figur wird mit Rückblenden in die 1950er verbunden. Vecna hat es derweil auf Max abgesehen, die in akuter Lebensgefahr schwebt. Dass ähnliche Vorfälle bereits vor 30 Jahren geschehen sind, ist eine weitere Reminiszenz an Stephen King’s „Es“. Eine gruselige Wanduhr fungiert als wiederkehrendes Unglücksbotenmotiv. Das Finale der dritten Episode sticht mit seiner Aussage über die Kraft von Musik und Freundschaft äußerst angenehm hervor.

„Hawkins ist in Gefahr!“

Yuri (Nikola Djuricko, „Leeches“), Karikatur eines verschlagenen, korrupten Russen und eine Art Comic Relief, spielt im Handlungsstrang um Hopper im weiteren Verlauf eine immer größere Rolle, ebenso der abtrünnige Gefängnisaufseher Enzo (Tom Wlaschiha, „Game Of Thrones“). Zusammen mit Hopper, Joyce und Murray (Brett Gelman) bildet man bald eine Schicksalsgemeinschaft, die sich untereinander alles andere als grün ist. Aus dem gegenseitigen Misstrauen entwickelt sich zusätzliche Spannung, während Murray über sich hinauswächst. Der zunehmend gefällige, anbiedernde Humor, mit dem diese Sequenzen versehen wurden, ist insbesondere in Episode 6, wo er besonders dominant wirkt, leider etwas übertrieben und konterkariert die düstere Stimmung. Andererseits wird Hopper mittels Einblicken in seine Vergangenheit, die u.a. von einem Vietnamtrauma und dem Verlust seiner Tochter negativ geprägt ist, tiefergehender charakterisiert. Die Darstellung der Sowjets hingegen zeichnet diese noch monströser, als sie es selbst unter Stalin gewesen sind… Zugegebenermaßen bekommt aber auch manch US-Institution ihr Fett weg. Einen Action-Höhepunkt offeriert die vierte Episode in Form einer wilden Schießerei, der sich Jonathan (Charlie Heaton), Mike und Will (Noah Schnapp) ausgesetzt sehen, nachdem sie zwischen die Fronten aus Geheimagenten und Militär gerieten.

„Hawkins steht ein Krieg bevor!“

Weiteres Licht ins Dunkel bringen Elfies Erinnerungen, die aus verschütteten Ecken ihres Unterbewusstseins mit technischer Hilfe hervorgeholt werden, womit diese Staffel wieder ganz am Beginn anknüpft und das komplexe Handlungsgeflecht zunehmend aufschlussreiche Formen annimmt. Das ist erzählerisch prima gelöst, geht jedoch mit einer Retraumatisierung Elfies nach einem Vertrauensmissbrauch einher. Dustins Hacker-Freundin Suzie (Gabriella Pizzolo) wird ebenso eine nicht unwichtige Rolle zuteil wie Jonathans langhaarigem Pizzabäcker- und Kifferkumpel Argyle (Eduardo Franco, „Booksmart“), einer neuen Figur, die leider übertrieben komödiantisch angelegt wurde und den subtileren Witz vorausgegangener Staffeln vermissen lässt. Besuche des leerstehenden, unheimlichen Creel-Hauses wiederum bieten angenehmen Geisterhausgrusel.

„Was ist das Internet?“

Da die letzten beiden Staffelepisoden erst zu einem späteren Zeitpunkt von Netflix bereitgestellt wurden, erfüllt die siebte Folge die Funktion eines Präfinals, das die Hintergrundgeschichte um entscheidende Informationen sehr sorgfältig erweitert und zu Vecnas Origin Story avanciert, die hervorragend erdacht und umgesetzt wurde. Das Finale hat es dann auch wahrlich in sich, eingeläutet durch spektakuläre Zuspitzungen, Abschiede, Wiedersehen und eine volle Kelle Action. Metallicas „Master Of Puppets“ rundet den Soundtrack kongenial ab, die extralange Episode 9 beschwört die Kraft der Liebe, geht nicht zimperlich mit liebgewonnenen Figuren um und endet mit einem, jawoll: Cliffhanger! Denn eine finale fünfte Staffel ist, wie eingangs erwähnt, längst angekündigt.

„Furchterregende Zeiten...“

Dieser vierten Staffel ist es überaus respektabel gelungen, mehrere parallel verlaufende Handlungsstränge über die Gesamtdistanz miteinander zu verknüpfen, ohne in seifenopernhafte Gefilde abzudriften. Der immer wieder eingestreute Humor trifft hingegen weniger meinen Geschmack und ist mir zuvor seltener negativ aufgefallen, von einer Klamotte ist „Stranger Things“ aber auch weiterhin meilenweit entfernt. Größtes Übel ist die mehr als despektierliche Darstellung der Sowjets, die offenbar eine der Schattenseiten der 1980er – den sich im US-Kino in propagandistischer Form niederschlagenden Kalten Krieg – erneut zu kultivieren und zu glorifizieren versucht. Thematischer Überbau ist hingegen weiterhin die Kraft der Freundschaft, diesmal besonders stark einhergehend mit Vertrauensfragen: Ständig muss Elfie abwägen, wem sie vertrauen sollte und wem besser nicht – ob in Kalifornien, in Hawkins oder im Labor (in letzterem herrschen interessanterweise Arbeitsbedingungen wie bei Amazon).

Damit orientiert sich „Stranger Things“ einmal mehr stark an Stephen King’s „Es“, was sich auch im Epilog widerspiegelt. Aber auch andere populärkulturelle Anspielungen und Referenzen der 1980er sind allgegenwärtig, meist beweisen die Duffers ein recht geschmackssicheres Händchen. Den einem bereits in den vorausgegangenen drei Staffel an Herz gewachsenen Jungmiminnen und -mimen zuzuschauen, bereitet einmal mehr Freude, wobei Millie Bobby Brown auch als Heranwachsende ihre Elfie grandios verkörpert, indem sie sie sowohl Beschützerinstinkte als auch Ehrfurcht hervorrufen lässt (und dankenswerterweise zur Kurzhaarfrisur zurückfindet). Mitunter fühlt man sich als väterlicher Freund, der die Clique beim Erwachsenwerden begleitet.

Das Creature Design ist großartig, denn Vecna ist auch optisch herrlich fies anzusehen; die düsteren Kulissen um ihn herum müffeln natürlich hier und da nach CGI, das jedoch auf recht hohem Niveau. Demogorgon und Demodogs kennt man ja und werden zunächst fast etwas inflationär eingesetzt, dafür erhält der Demogorgon gegen Ende noch einen wahrlich nervenaufreibenden Auftritt. Mit dieser Staffel ist „Stranger Things“ weiterhin zurecht das Aushängeschild Netflix‘, Sucht-, Wohlfühl-, Grusel-, Nostalgie- und Melancholie-Faktor gehen diese unverschämt funktionale Verschmelzung miteinander ein, hinter der aber viel konzeptionelle und technische Arbeit steckt – denn diese Serie ist mehr als ein bloßer Abklatsch alter Erfolgsmodelle aus dem phantastischen Film der 1980er. Hoffen wir also auf einen würdigen Abschluss mit der fünften Staffel, in der die Russen und Sowjets vielleicht auch etwas besser wegkommen (wenngleich es gerade denkbar schlechte Zeiten dafür sind…).

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Fr 11. Nov 2022, 16:29
von buxtebrawler
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Iron Sky - Wir kommen in Frieden!

Space Nazis must die!

„Seid ihr die völkischen Beobachter?!“

Der finnische Regisseur Timo Vuorensola, der zuvor mit den „Star Wreck“-Science-Fiction-Parodien aufgefallen war, arbeitete von 2010 bis 2012 an der Science-Fiction-Actionkomödie „Iron Sky“, die in finnisch-australisch-deutscher Koproduktion entstand. Geplant worden war das Projekt bereits seit 2006, mit Teaser-Trailern hatte man schon vor Drehbeginn für Aufsehen und Promotion gesorgt. Vom Gesamtbudget in Höhe von rund 7,5 Millionen Euro wurden 900.000,- EUR durch Crowdfunding finanziert. Im Internet bestand die Möglichkeit, eigene Ideen an Vuorensola und sein Team heranzutragen, von denen einige für den fertigen Film berücksichtigt wurden. Grundlage der Handlung sind die Thesen einiger Schwachsinniger, eine Nazi-Kolonie habe sich mittels Reichflugscheiben kurz vor Kriegsende auf die dunkle Seite des Mondes abgesetzt, was der Film persifliert.

In der nahen Zukunft des Jahres 2018 steckt die US-amerikanische Präsidentin (Stephanie Paul, „Crazylove“) im Kampf um ihre Wiederwahl und startet aus diesem Grunde eine neue Mondmission. Dieser gehört u.a. das schwarze Fotomodell James Washington (Christopher Kirby, „Matrix Reloaded“) an. Washington wird prompt von den Mondnazis festgenommen, die auf der dunklen Mondhälfte eine hakenkreuzförmige Festung errichtet und seinen Raumfahrtkollegen bereits ermordet haben. Unterm aktuellen Führer Wolfgang Kortzfleisch (Udo Kier, „Hexen bis aufs Blut gequält“) baut man fleißig Helium-3 ab und will mit dem jahrzehntelang entwickelten Kampfschiff „Götterdämmerung“ Mutter Erde erobern, es mangelt aber noch an Rechenleistung. Da entdecken sie das Smartphone Washingtons und sind fasziniert, jedoch gibt der Akku den Geist auf. Auf der Erde aber muss es diese Dinger in rauen Mengen geben, also reisen Kommunikationsschlumpfnazi Klaus Adler (Götz Otto, „Alien Autopsy – Das All zu Gast bei Freunden“) und die naive, sexy Lehrerin Renate Richter (Julia Dietze, „Robert Zimmermann wundert sich über die Liebe“) auf den blauen Planeten, um unter einem Vorwand so viele Mobiltelefone wie möglich einzusammeln. Darüber hinaus hegt Adler noch ganz andere Pläne: Er möchte Kortzfleisch als Führer ablösen und Richter zur Mutter machen… Ist die Erde vor der nächsten Nazi-Invasion noch zu retten?

Zur Mondnazi-Verballhornung gesellen sich Persiflagen auf Propaganda-Mechanismen, auf US-amerikanische Politik (die Präsidentin ist der ehemaligen reaktionären Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin nachempfunden) und nicht zuletzt auf den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der als unfähig und unwillens dargestellt wird. Der Humor ist also durchaus hintergründig und wird unter anderem in vielen spritzig-witzigen Dialogen transportiert. Es ist bei Weitem nicht jeder Schuss aufs Zwerchfell ein Treffer, aber die Grundausrichtung stimmt und verbindet Naziverarsche mit aktuellen politischen Ärgernissen, stark geprägt vom US-Krieg „gegen den Terror“ nach den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001. Wenn am Ende ein Krieg um neue Rohstoffe entbrennt, befinden wir uns mitten in der Realität. Dem voraus gehen eine beachtlich getrickste actionlastige Weltraumschlacht sowie zahlreiche Kinohommagen, beispielsweise an Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ und „Dr. Seltsam“, „Der große Diktator“, „Krieg der Welten“ und „Der Untergang“.

Der Soundtrack der slowenischen, gern mit faschistischer Ästhetik spielenden Band Laibach zitiert Wagner, „Die Wacht am Rhein“ sowie zahlreiche Nationalhymnen und bildet die perfekte Untermalung für „Iron Sky“. Naziszenen wurden farbentsättigt, um sich bildästhetisch Spielfilmen der 1930er und ‘40er Jahre anzunähern. Statt Blackfacing gibt es hier eine „Albinisierung“ oder auch „Arisierung“ zu sehen und Kortzfleisch hat Schwierigkeiten, seinem Volk das „Heil Hitler“ abzugewöhnen. So weit, so gut. Ein grundsätzliches Problem jedoch: Für einen Science-Fiction-Film, der „Iron Sky“ ja nun einmal auch ist, ist er aufgrund seiner Fokussierung auf während des Drehs zeitgenössische politische Ereignisse wenig zeitlos. Der Faktor an Slapstick und eher flachem Humor ist relativ hoch, aber wenn man sich nun schon in trashige und naziploitative Gefilde begibt, darf man gern etwas derber zur Sache gehen und das Groteske auch über die Ausgangssituation hinaus stärker suchen. Dafür unterhält das Ensemble, das sichtlich Spaß beim Verkörpern seiner schrägen Rollen hat, mehr als passabel und ist nicht zuletzt die tolle Optik, ja, generell die gute Ausstattung überaus respektabel.

Hier wäre noch mehr drin gewesen, aber verkehrt ist „Iron Sky“ ganz sicher nicht.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Di 15. Nov 2022, 15:02
von buxtebrawler
Tatort: Als gestohlen gemeldet

„Nicht die Spur einer Spur!“

Die fünfte Münchner „Tatort“-Episode um Kriminaloberinspektor Veigl (Gustl Bayrhammer) wurde am 16. Februar 1975 erstausgestrahlt. „Als gestohlen gemeldet“ wurde nach einem Drehbuch Erna Fentschs von Regisseur Wilm ten Haaf inszeniert, womit er nach „Cherchez la femme oder Die Geister am Mummelsee“ zum zweiten von insgesamt sieben Malen für die öffentlich-rechtliche Krimireihe tätig geworden war.

„Ihr seid vielleicht ‘n paar komische Heinis!“

Bauern finden am Wegesrand den mit einer Schädelfraktur bewusstlos daliegenden Kfz-Meister Otto Jirisch (Felix Franchy, „Schüler-Report - Junge! Junge! Was die Mädchen alles von uns wollen!“). Kriminaloberinspektor Veigl muss nun zusammen mit seinen Kollegen Lenz (Helmut Fischer) und Brettschneider (Willy Harlander) herausfinden, ob es Jirisch sich die Verletzungen bei einem Verkehrsunfall zugezogen hat oder er Opfer einer Straftat wurde. Man befragt die Inhaberin der Kfz-Werkstatt Frau Stumm (Gisela Uhlen, „Hotel der toten Gäste“), die nach dem Tod ihres Mannes Herrn Jirisch die Hauptverantwortung für den Betrieb übertragen hatte und ein libidinöses Verhältnis mit ihm eingegangen war, deren Tochter Gigga (Susanne Uhlen, „Birdie“), die das alles seltsam kaltzulassen scheint, sowie die renitente, betrunkene Hessin Mathilde Jahn (Beate Hasenau, „Feind im Blut“), zu der eine Spur führte. Richtig schlau wird die Münchner Polizei aus alldem jedoch nicht, Täter- und Motivsuche geraten ins Stocken, zudem erliegt Jirisch im Krankenhaus seinen Verletzungen und kann somit selbst keine Auskunft mehr geben. Doch Veigl kombiniert im entscheidenden Moment richtig, als er eher beiläufig von einer möglichen Versicherungsbetrugsmasche Jirischs erfährt…

Letzteres stellt sich erst nach ungefähr zwei Dritteln heraus. Bis dahin wird viel, kräftig und dialogreich ermittelt, wobei sich diesmal besonders Brettschneider hervortut. Leider ist all das nicht sonderlich spannend erzählt, wobei ein Teil der Dialoge ohnehin in unverständlichen Bayrisch untergeht. Dieses spezielle Motiv des Versicherungsbetrugs, in das letztlich mehrere Personen verwickelt sein werden, mag in der damaligen Zeit eine nicht uninteressante, mehr oder weniger gewiefte Variante dargestellt haben, ist aus heutiger Sicht jedoch eher unspektakulär. Dies hat man möglicherweise auch bei diesem „Tatort“ geahnt und die Handlung daher gegen Ende noch mit einer (Achtung, Spoiler!) Affäre Jirischs mit Gigga angereichert. In diesem Zuge werden Nacktfotos Jirischs und Giggas gefunden und offensiv in die Kamera gehalten, was sich unangenehm selbstzweckhaft anfühlt, aber an Jirisch-Darsteller Franchys zahlreiche Rollen in deutschen Sexreports und Erotikklamotten erinnert.

In der Tat ist Susanne Uhlen als geheimnisvolle heranwachsende Gigga indes einer der wenigen Lichtblicke dieses reichlich drögen Stücks deutscher TV-Krimigeschichte. Trivium: Susanne Uhlens Filmmutter war auch im echten Leben ihre Mutter. Einige eingestreute Rückblenden visualisieren Teile der Vorgeschichte, der Hamburger Hauptkommissar Trimmel (Walter Richter) leistet Amtshilfe und das Ende übertreibt in seinem Fatalismus. Durchschnittskost mit irgendwie unpassendem Ausgang, die südlich des Weißwurstäquators möglicherweise besser ankommt als bei einem Fischkopp wie mir.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Mi 16. Nov 2022, 18:20
von buxtebrawler
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Der Rabe

„Ich zeige Ihnen einen exzellenten Wundbrand!“

Die zweite Arbeit des französischen Regisseurs Henri-Georges Clouzot in den 1940ern ist nach „Der Mörder wohnt in Nr. 21“ das Kriminaldrama „Der Rabe“ aus dem Jahre 1943, dessen Drehbuch Clouzot zusammen mit Henri Chavance verfasste.

„Ich weiß es nicht. Ich weiß nichts mehr.“

Mehrere Bewohnerinnen und Bewohner einer französischen Kleinstadt sehen sich anonymen Verleumdungen in Form von Schmähbriefen ausgesetzt, stets mit „Le Corbeau“ unterzeichnet. So wird der Mediziner Rémy Germain (Pierre Fresnay, „Der Mann, der zuviel wußte“) beschuldigt, illegale Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Der jungen Frau Laura (Micheline Francey, „Das Geheimnis der blauen Limousine“) wird ein außereheliches Verhältnis vorgeworfen. Schon bald ist kaum eine bekanntere Person mehr davor sicher, in den Dreck gezogen zu werden. Man verdächtigt sich gegenseitig; unter anderem gerät Lauras Schwester Marie (Héléna Manson, „Das unheimliche Haus“) in Verdacht, die Briefeschreiberin zu sein. Doch Germain trägt tatsächlich ein Geheimnis mit sich herum…

Clouzots Portrait eines sozial dysfunktionalen Kleinstadtgefüges entstand während der Zeit der Besatzung Frankreichs durch Nazideutschland und kann als bissiger Kommentar auf das verängstigte und untereinander unsolidarische Verhalten der französischen Gesellschaft während dieser schweren Zeit verstanden werden. Die Nazis missbrauchten „Der Rabe“ gar als antifranzösischen Propagandafilm, was Clouzots Reputation nach Kriegsende zusätzlich schadete. Seine Landsmänner sahen sich durch den Film verunglimpft, verhängten ein Arbeitsverbot gegen Clouzot und steckten Hauptdarsteller Pierre Fresnay für einige Woche hinter Gitter. Bereits 1947 jedoch wurde Clouzot rehabilitiert und der Film vom Publikum selbstkritisch reflektiert, was ihn zu einem Kassenerfolg werden ließ und ihm positive Kritiken einbrachte.

Im Stile eines Film noir zeichnet Clouzot – trotz des Verzichts auf einige noir-typische Elemente, allen voran ein urbanes Ambiente – das Bild einer Gesellschaft, in der denunziatorische Briefe einer Einzelperson genügen, um nachhaltig Missgunst und Zwietracht zu säen und die Menschen dazu zu treiben, sich gegenseitig zu zerfleischen. Die Saat geht auf, denn irgendetwas bleibt immer hängen, was „Der Rabe“ auch zu einer Fallstudie über die Brisanz übler Nachrede und Denunziantentums macht. Die Wurzel allen Übels scheint sich in den Menschen selbst zu befinden, die sich wie die Ärzte in Zynismus üben, regelrecht übergriffig um Zuwendung buhlen, wie es Denise (Ginette Leclerc, „Louise“) gegenüber Germain tut, und es generell an gegenseitiger Wertschätzung und Respekt mangeln lassen. Damit weist „Der Rabe“ starke gesellschaftssatirische Züge auf, die Clouzot schwer vom deutschen Expressionismus beeinflusst inszeniert. Die Dialoglastigkeit gereicht seinem Film nicht zum Nachteil.

Im Speziellen erinnert „Der Rabe“ an bis heute aktuelle, unsägliche Hetzkampagnen gegen Abtreibungen durchführende Ärztinnen und Ärzte, Clouzots Film hat aber ganz generell leider kaum an Aktualität eingebüßt. Nicht nur deshalb ist „Der Rabe“ unbedingt sehenswert – ein ebenso düsteres wie erhellendes Juwel europäischer Filmkunst der 1940er.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Fr 18. Nov 2022, 13:36
von buxtebrawler
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Unter falschem Verdacht

Nach „Der Rabe“, der ihn beinahe seine Karriere gekostet hätte, verfilmte der französische Regisseur Henri-Georges Clouzot im Jahre 1947 den Roman „Légitime Défense“ des Autors Stanislas-André Steeman unter dem Titel „Quai des Orfèvres“. Das Kriminaldrama kam 1949 als „Unter falschem Verdacht“ auch in die deutschen Kinos.

Pianist Maurice Martineau (Bernard Blier, „Carmen“) und seine Frau Marguerite Chauffournieur (Suzy Delair, „Der Mörder wohnt in Nr. 21“), die unter dem Künstlernamen Jenny Lamour als Sängerin auftritt, sind beliebte Figuren im Pariser Varieté. Doch der Ruhm seiner Frau zieht zahlreiche Verehrer an, womit der eifersüchtige Maurice große Probleme hat. Als der vermögende und einflussreiche Georges Brignon (Charles Dullin, „Les Misérables“), eine Größe als Geschäftsmann im Erotikbereich, Jenny ein Angebot unterbreitet, verliert Maurice endgültig die Nerven und droht Georges in einem Lokal vor allen Gästen, ihn umzubringen. Als Georges am nächsten Tag tatsächlich tot aufgefunden wird, ist Maurice Hauptverdächtiger. Polizist Antoine (Louis Juvet, „Der betrogene Betrüger“) hat jedoch auch Jenny und deren Freundin, die alleinstehende Fotografin Dora Monier (Simone Renant, „Der Satan und die Hochzeitsreise“) mit libidinösem Interesse an Jenny, im Blick. Gegenüber Dora behauptet Jenny, Georges ermordet zu haben. Sagt sie die Wahrheit…?

„Unter falschem Verdacht“ dürfte einer derjenigen Filme sein, welche Clouzot seinen Ruf als „französischer Hitchcock“ einbrachten. Wie bereits in „Der Rabe“ arbeitet er mit Versatzstücken des Film noir, insbesondere Jenny Lamour weist typische Femme-fatale-Charakterzüge auf. Als Täterin scheint sie früh festzustehen, die Handlung entwickelt sich jedoch in eine andere, Spannung erzeugende Richtung, wenngleich diese dramaturgisch und auch in Sachen Suspense noch in einer anderen Liga als die prominenteren Vertreter Hitchcocks anzusiedeln sind. Der Krimianteil gerät schließlich zunehmend in eher vertraute Fahrwasser und der Ausgang der Geschichte hat nicht viel mit den eher düsteren, pessimistischen Pointen anderer Clouzot-Werke oder echter Film-noir-Beiträge gemein. Dafür bietet der dialoglastige Film aber ebenso interessante wie unterhaltsame Einblicke in ein vergangenes Entertainment-Milieu und hält mit der Figurenkonstellation innerhalb des Mikrokosmos, den er gekonnt etabliert, bei der Stange. Über jeden Zweifel erhaben ist auch die hervorragende Schwarzweiß-Fotografie, die nicht zuletzt das nuancierte Schauspiel des Ensembles eindrucksvoll in Szene zu setzen versteht.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Mi 23. Nov 2022, 17:49
von buxtebrawler
Tatort: Katz und Maus

„Ich will Sie nicht töten…“

Der für Karin Gorniak (Karin Hanczewski) und Peter Michael Schnabel (Martin Brambach) 14., für Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) achte Dresdner „Tatort“ führt nach einem Drehbuch Stefanie Veiths und Jan Cronauers unter der Regie Gregory Kirchhoffs („Ostfriesisch für Anfänger“) in die Untiefen von Verschwörungserzählungen und daraus resultierender Gewalt. Die im August des Jahres 2021 gedrehte Episode wurde am 20. November 2022 erstausgestrahlt.

„Merken Sie eigentlich nicht, wie die Leute durch das Internet verblöden?!“

Seit ihm seine jugendliche Tochter Zoe (Alida Bohnen, „Wilsberg: Überwachen und belohnen“) aufgrund seines gewalttätigen Verhaltens abgehauen ist, ist Michael Sobotta (Hans Löw, „Der Sommer nach dem Abitur“) noch schlechter drauf. Er glaubt den Verschwörungserzählungen des Falschmeldungsportals „Grinsekatze“ im World Wide Web und somit auch, dass im Keller eines Dresdner Bistros 150 Kinder gefangen gehalten werden, darunter vermutlich seine Zoe. Er entführt die Reporterin Brigitte Burkhard (Elisabeth Baulitz, „Der Bergdoktor“) des unseriösen, reißerischen Revolverblatts „Flash“, zieht sich eine Mausmaske übers Gesicht und dreht ein Video, das er im Netz veröffentlicht. Darin stellt er ein Ultimatum: Innerhalb von 24 Stunden müssen die Kinder befreit werden, anderenfalls töte er Burkhard. Die Kommissarinnen Karin Gorniak, Leonie Winkler und deren Vorgesetzter Peter Michael Schnabel ermitteln auf Hochtouren, um Identität und Aufenthaltsort Sobottas ausfindig zu machen und das Leben der Geisel zu retten, kommen jedoch zu spät: Sobotta erschießt die Schmierenjournalistin vor laufender Kamera. Seine nächste Geisel wird ausgerechnet Schnabel…

„Polizei und Staat machen doch gemeinsame Sache mit diesen Leuten!“

Auch dieser „Tatort“ setzt sich kritisch mit einem aktuellen gesellschaftlichen Phänomen auseinander, in diesem Falle dem der schon länger nicht mehr witzigen Verschwörungserzählungen, die durchs Internet kolportiert werden, seit dieses jedem Deppen offensteht und mit einfachen technischen Mitteln mediale Beiträge produziert und weit verbreitet werden können. Schon längst resultieren daraus reale Gefahren, wenn manipulierbare Konsumentinnen und Konsumenten den Quatsch für voll nehmen und sich auf dieser Grundlage zu Gewalttaten bis hin zu Morden genötigt sehen. Einen solchen Typus Mensch verkörpert Sobotta, eindringlich und vollkommen humorfrei von Hans Löw dargestellt. Die „Grinsekatze“ (Paul Ahrens, „Polizeiruf 110: Seine Familie kann man sich nicht aussuchen“) ist ein junger Bursche, der gegenüber der Polizei kaum einen Hehl daraus macht, in erster Linie kommerzielle Interessen zu verfolgen. Der Kinder-im-Bistro-Unfug ist abgeleitet vom Pizzagate, das Web-Forum „4π“, in das Sobotta seine Videos onlinestellt, ist natürlich an „4chan“ angelehnt und „Flash“ ist unschwer erkennbar das „Tatort“-Äquivalent zu den verkommenen Erzeugnissen des Springer-Konzerns.

„Das ist nicht meine Tochter.“

Der Prolog führt zunächst Burkhard ein, die bei einem fingierten Verkehrsunfall überfallen und entführt wird. Hübsche Bilder des abendlichen Dresdens werden im Vorspann abwechselnd mit an einer Wand angebrachten Kinderfotos und Zeitungsausschnitten gezeigt, wobei letzteres bereits filmtypische Hinweise auf einen Psycho sind. Täter- und Motivsuche sind lediglich seitens der Polizei Bestandteil dieses „Tatorts“, die Zuschauerinnen und Zuschauer genießen durch eine gleichberechtigte Aufteilung der Handlung auf die Polizei und den Täter einen entsprechenden Wissensvorsprung. Die Polizei wiederum hat nach Sichtung des Videos nur noch 16 Stunden Zeit, was gezwungenermaßen einiges an Tempo in die Dramaturgie bringt. Gorniak ermittelt in Kommentarspalten, wo abstruseste Theorien ausgetauscht werden, womit auch dieser Schreckensbereich des WWW abgehakt wäre. Herr Burkhard (Kai Ivo Baulitz, „Hit Mom – Mörderische Weihnachten“) pflegt ein sexuelles Verhältnis zu einem Mann, weshalb seine Frau die Scheidung will. Das macht ihn kurz ein bisschen verdächtig, dieser rote Hering wird jedoch schnell fallengelassen.

Die immer wieder eingeblendeten Kinderfotos stehen für ungeklärte Vermisstenfälle in Sachsen, 150 an der Zahl. Burkhard musste sogar deren Namen vorlesen, Sobotta stellte weitere Videos ins Netz. Die Koordinaten des Bistros, dem vermeintlichen Aufenthaltsort der Kinder, übermittelte er in Form von Lichtsignalen, doch als das SEK den Laden stürmt, befindet sich dort natürlich keines der Kinder. Wo diese denn nun alle sind, weshalb so viele Kinder verschwinden und die Aufklärungsquote derart gering ist, wäre möglicherweise sogar eine spannendere Frage als die nach den Überlebenschancen Schnabels gewesen – in jedem Falle eine relevantere –, doch wird diese leider nicht weiterverfolgt.

Sei’s drum, nun geht es um Schnabel – und vor allem darum, wie man einem Täter beikommt, der sich der Realität komplett verweigert. Sobotta ist unbelehr- und unberechenbar, die Realität passt er den Verschwörungen an, in die er sich verrannt hat, und glaubt nur denjenigen, die ihn darin bekräftigen. Rückblenden zeigen nun, was zwischen ihm und Tochter Zoe vorgefallen war. Gorniak und Winkler sind sich uneins hinsichtlich der weiteren Vorgehensweise. Immerhin bietet „Grinsekatze“ der Polizei seine Mithilfe an, sofern diese „Feuer mit Feuer“ zu bekämpfen bereit ist. Der Topos der Uneinigkeit zwischen beiden Kommissarinnen scheint ein neuer Dresdner Standard zu werden, führt hier jedenfalls zu einem Alleingang Winklers, der nicht ganz rund wirkt. Ohne zu viel verraten zu wollen, ist es doch erstaunlich, in welch kurzer Zeit da ein authentisch anmutendes Video inszeniert wird. Auch ein öffentlich gepostetes Video, das sich ausschließlich an Sobotta richtet, erzeugt eigenartigerweise keinen Flashmob Schaulustiger, sondern wird offenbar tatsächlich ausschließlich von Sobotta angeklickt. Dieser wiederum scheint auf seinen Ohren zu sitzen, wenn er die mit Abrissarbeiten beschäftigte Kommissarin partout nicht hört. Hier muss man starke Abstriche beim Realismus machen und dem Autorenteam Nachhilfe in Sachen Netzkultur nahelegen.

Davon einmal abgesehen, ist „Katz und Maus“ aber gute, an der Realität angelehnte und diese nicht bis zur Unkenntlichkeit abstrahierende Krimikost, die mit vielen schönen Panoramen Dresdens bei Dunkelheit etwas fürs Auge und mit einem hörenswerten Soundtrack auch etwas fürs Ohr bietet – und nicht zuletzt durch den Kniff, einen Sympathieträger in die Bredouille zu bringen, spannend unterhält. Der Showdown ist ebenfalls nicht von schlechten Eltern und überraschend hart ausgefallen. Die junge Alida Bohnen empfiehlt sich in ihrer zweiten TV-Rolle für weitere Engagements. 7/10 Klopfcodes dafür von meiner Seite. Und ohne die genannten Logikfehler wäre locker einer mehr drin gewesen.