bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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buxtebrawler
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Tatort: Schüsse in der Schonzeit

„…der Herr Veigl hat mir die wichtigsten Stellen ins Deutsche übersetzt.“

Der Münchner Kriminalhauptkommissar Melchior Veigl (Gustl Bayrhammer) ermittelt in seiner neunten Episode unter der Regie des Österreichers Helmuth Ashley („Kriminalmuseum“), der ein Drehbuch Willy Puruckers adaptierte. Der am 17.07.1977 erstausgestrahlte, 77. „Tatort“ (mehr Siebenen gehen kaum) blieb Ashleys einzige Inszenierung innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe.

„Ich glaube Ihnen gar nichts, Herr Mader!“

Die Anhalterin Vroni (Viola Böhmelt, „Liebe unter 17“) wird eines morgens erschossen aufgefunden, eingewickelt in einen Schlafsack im Wald abgelegt. Zugleich treiben Wilderer und ein Autoknacker ihr Unwesen. Viel zu tun für Kriminalhauptkommissar Veigl, Kriminalhauptmeister Ludwig Lenz (Helmut Fischer) und Kriminalmeister Brettschneider (Willy Harlander), obwohl Veigl seine Zeit eigentlich lieber mit seiner Besucherin Frau Hansen (Ingrid Capelle, „Im bayerischen Stil“) verbringen würde. Veigls Intuition – und die Nähe der Gaststätte „Jägerstüberl“ – sagen ihm, dass alle drei Verbrechen miteinander zusammenhängen…

Zwei Junge Männer, Biwi (Werner Asam, „Planübung“) und Dscho (Martin Semmelrogge, „Vorstadtkrokodile“), schießen verbotenerweise während der Schonzeit Rotwild im Wald und verkaufen es ans „Jägerstüberl“, während Veigl sich gerade zusammen mit seiner Bekannten Frau Hansen eine Theateraufführung ansieht, in der es ebenfalls um Jäger geht. Einem Publikum nördlich des Weißwurstäquators wird damit vermutlich ungewollt das Bild vermittelt, männliche Bayern liefen stets und in grün bewaffnet herum, weil sie entweder Jäger respektive Wilderer oder Bullen seien. Jene Zuschauerschaft dürfte auch wieder Probleme mit dem starken bayrischen Akzent haben, der gerade im ersten Abschnitt dieser Episode omnipräsent ist und das Verständnis erschwert.

Aus der Wilderei während der Schonzeit resultiert ein Stiefvater-Sohn-Konflikt zwischen Hannes Mader (Siegfried Rauch, „Peter und Sabine“) und Biwi, dessen Komplize und Kumpel Dscho wenig vertrauenserweckend dazu neigt, mit einer Pistole vorm Spiegel zu posieren. Veigl wiederum hat frei und genießt die Zeit mit Frau Hansen, weshalb er im weiteren Verlauf viele Aufgaben an Lenz und Brettschneider delegieren wird. Vroni, eine fesche Zahnarzthelferin aus Selb, fährt per Anhalter bei Herrn Mader mit, während Dscho Autos knackt. Am nächsten Morgen wird Vronis Leiche gefunden; die Gewalttat wird ebenso wenig gezeigt wie das, was ihr unmittelbar vorausgegangen sein muss. Den Zuschauerinnen und Zuschauern gegenüber macht sich zunächst Dscho verdächtig – oder war es doch Herr Mader…?

Diese Frage beschäftigt fortan das Publikum ebenso wie die Polizei. Zwar weiß man als Zuschauer(in) mehr als Veigl & Co., jedoch nicht, mit wem Vroni vor ihrem Tod pikanterweise einvernehmlichen Geschlechtsverkehr hatte, den der Leichenbeschauer ihr attestiert. Eine Vergewaltigung mit anschließendem Mord, um das Opfer für immer zum Schweigen zu bringen, kann somit ausgeschlossen werden. Lenz und Brettschneider sind überaus präsent, aber auch Veigl schaltet sich in die Ermittlungen ein und befragt erst Biwi, um anschließend auf dessen Stiefvater aufmerksam zu werden. Als Biwis Mutter und Herrn Maders Ehefrau ist übrigens wieder die aparte Veronika Fitz („O, diese Bayern“) dabei, und Werner Asam zählte bereits im vorausgegangenen „Tatort: Das Mädchen am Klavier“) zur Besetzung.

Herr Mader überholt schließlich Dscho in Sachen Verdächtigkeit, dessen kleinkriminelle Ader möglicherweise lediglich als roter Hering diente. Ungefähr zu Beginn des letzten Drittels offenbart sich der Täter gegenüber dem Publikum. Veigl beweist den richtigen Riecher, bevor das Finale etwas überraschend mit Actioneinlagen und Stunts aufwartet. „Schüsse in der Schonzeit“ erweist sich als gut erzählter Fall, der trotz eines steten Wissensvorsprungs seines Publikums nie zu viel verrät und dadurch über die volle Distanz interessant bleibt. Irritierend ist es jedoch, Semmelrogge bayrisch synchronisiert statt mit seiner üblichen Kodderschnauze zu hören…
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Tatort: Totes Herz

„War er schon mal gewalttätig?“

Das Dresdner „Tatort“-Trio aus Karin Gorniak (Karin Hanczewski), Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) und Peter Michael Schnabel (Martin Brambach) ermittelt in seinem für Gorniak und Schnabel 15., für Winkler neunten Fall nach einem Drehbuch Kristin Derflers, das Regisseur Andreas Herzog inszenierte. Herzog lieferte damit seinen vierten Beitrag zur öffentlich-rechtlichen Krimireihe ab, der am 8. Januar 2023 erstausgestrahlt wurde und sich von einem klassischen Whodunit?-Fall zu einem Psycho-Thriller entwickelt.

„Blaues Wunder, roter Schal!“

Heike Teichmann (Tanja de Wendt, „Lindenstraße“), Inhaberin der familienbetriebenen Gärtnerei Teichmann, wird mit einem Hammer erschlagen von ihrem Schwiegersohn Patrick Teichmann (Nico Rogner, „Ein Tisch in der Provence“) aufgefunden. Der zurückgebliebene Mitarbeiter Juri (Alexander Schuster, „Der Geschmack der kleinen Dinge“) hält die Tatwaffe noch in der Hand, ergreift die Flucht und verstreckt sich. Damit ist er für die Kommissarinnen Gorniak und Winkler sowie deren weitestgehend von seinen schweren Verletzungen genesenen Abteilungsleiter Schnabel dringend tatverdächtig. Unterstützung wird Juri von seiner Schwester Swetlana (Lara Feith, „Zwischen uns die Mauer“) zuteil, die ebenfalls für die Gärtnerei tätig ist und ein Verhältnis mit Patrick Teichmann pflegt, der in seiner Ehe mit Nadine (Kristin Suckow, „Wo ist meine Schwester?“), der Tochter der Erschlagenen, nicht mehr glücklich ist. Doch warum entführt Juri Nadines und Patricks kleine Tochter Anna (Amelie Zappe)? Die Ermittlerinnen ahnen, dass bei Familie Teichmann etwas im Argen liegt. Existiert gar ein weiteres, bisher unbekanntes Familienmitglied, das in den Fall verwickelt ist…?

„Mit’m Messer im Rücken geht’n Ossi noch lange nicht nach Hause!“

Der Mord wird nicht gezeigt, lediglich die Leiche, und Juri sofort als Verdächtiger eingeführt. Als es scheint, er entführte die kleine Anna, um sie zu beschützen, ergeben sich Zweifel an seiner Schuld. Wovor will er sie beschützen? Leider kann er sich nicht artikulieren. Anschließend wird die Beziehungskiste aufgemacht und die Handlung somit um eine Ebene erweitert – noch bevor ungefähr zur Hälfte eine interessante Wendung eingeflochten wird, die weitere Tote produziert. Es geht in die Untiefen der Vergangenheit, in der illegale Aktivitäten schwerwiegende Folgen haben, die in der Gegenwart eskalieren.

Das Narrativ entwickelt sich dabei immer mehr in Richtung eines Psycho-Thrillers, der mit einem nicht sonderlich häufig Verwendung findenden, dennoch klassischen (und hier nicht gespoilerten) Gruselmotiv arbeitet, während Regisseur Herzog und sein Team die formale Gestaltung der Episode entsprechend anpassen. All das kulminiert in einem fast schön verstörenden, spannenden Finale inklusive zusätzlich dramatisierender Zeitlupen und erklärenden Rückblenden. Mit einem beiläufigen Kommentar vom Beginn sollte der glücklicherweise seinen vorausgegangenen Fall überlebt habende Schnabel Recht behalten…

In seiner Erzählweise, die sich lange Zeit nah an den Ermittlerinnen und deren Erkenntnishorizont orientiert, lädt dieser „Tatort“ zum Miträtseln ein, scheint mitunter relativ vorhersehbar, hat dann aber doch die eine oder andere Überraschung in petto. Viel wird über Blicke kommuniziert und transportiert; auf Nuancen zu achten lohnt sich, ohne dass man, von einem Wochenendkater geplagt, überfordert würde. Die irgendwie kalten, melancholischen Bilder spiegeln perfekt die Stimmung dieses Falls, aber auch schlicht den Drehzeitpunkt im Februar und März 2022 wider. Der Kamera mit ihrer Freude an Zooms auf Details zu folgen, bereitet ebenso Freude wie einige kunstvoll ausgeleuchtete Einzelszenen.

Schauspielerisch ist das – mitsamt einer Doppelrolle – ebenfalls recht großes TV-Heimkino, das Ensemble scheint prima zusammenzupassen. Dass es dem ermittelnden Trio nicht die Show stiehlt, ist einmal mehr unter anderem Verdienst des unnachahmlichen Martin Brambach, während sich Hanczewski und Gröschel in ihren Rollen stärker als zuletzt zurückhalten, um den Teichmanns und Konsorten Raum zur Entfaltung zu geben. Beste Krimi-Unterhaltung zur Hauptsendezeit!
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Sex Education [Staffel 2]

„Hier passiert eigentlich nie ‘was Interessantes...“

Nach dem Erfolg der ersten Staffel der britischen Sexualdramödien-/Aufklärungsserie „Sex Education“ aus dem Jahre 2019 verlängerte der US-Video-on-Demand- bzw. Streaming-Anbieter Netflix rasch um eine weitere Staffel, die am 17. Januar 2020 veröffentlicht wurde. Kate Herron schied als Regisseurin aus; Ben Taylor standen mit Alice Seabright und Sophie Goodhart, die bereits Drehbücher zur ersten Staffel verfasst hatte, zwei neue Regisseurinnen zur Seite. Die Länge der acht neuen Episoden blieb weitestgehend unverändert bei jeweils ungefähr einer knappen Stunde. Zu Konzept und narrativem Rahmen dieser Serie und deren Umsetzung habe ich bereits in meiner Kritik der ersten Staffel einiges geschrieben, weshalb ich an dieser Stelle näher auf die Inhalte der Episoden der zweiten Staffel eingehe:

„Ist das 'ne Scheißshow...“

Der pubertierende Otis (Asa Butterfield, „Der Junge im gestreiften Pyjama“) ist dauergeil, leidet unter Spontanerektionen und betreibt daher permanente Selbstbefriedigung, was im Prolog in eine peinliche Situation mündet – ein etwas plumper Lacher zum Auftakt, jedoch passend veredelt durch eine witzige Chorversion von „I Touch Myself“ der Divinyls. Otis‘ Mutter, die Sexualtherapeutin Jean Milburn (Gillian Anderson, „Akte X“), hat natürlich für alles Verständnis. Dabei hat ihr Sohn doch eigentlich Ola (Patricia Allison, „Les Misérables“) zur Freundin, allerdings noch keinen Sex mit ihr – denn ausgerechnet bei ihr bekommt er Erektionsprobleme. In einer weiteren hochnotpeinlicher Situation erwischen die beiden Olas Vater Jakob (Mikael Persbrandt, „Kommissar Beck“) und Otis' Mutter beim Sex miteinander und erfahren so vom deren Beziehung. Ferner sorgt ein Chlamydienausbruch an der Schule für allgemeine Hysterie und sucht Trailerpark-Bewohnerin Maeves (Emma Mackay, „Badger Lane“) suchtkranke Mutter Erin (Anne-Marie Duff, „Shameless“) wieder den Kontakt zu ihrer Tochter.

Der Staffelauftakt scheint veranschaulichen zu wollen, dass man sich keineswegs davor scheut, ans Eingemachte zu gehen, ja, dass einem nichts Menschliches fremd ist, und klappert mit großer Scham behaftete Stationen wie bei der Selbstbefriedigung erwischt zu werden, seine Eltern beim Sex zu überraschen und Geschlechtskrankheiten ab. Eine Krise zwischen Otis und Ola zeichnet sich bereits ab, während sich Maeve als Vertreterin der Unterschicht mit ihrer Mutter, die nur in ungenügendem Maße für sie da sein konnte, und damit vergleichsweise unpubertären, gewichtigen Herausforderungen konfrontiert sieht.

„Otis, das ist eine Vagina – und kein Examen!“

In der zweiten Episode hat Sexualkundelehrer Mr. Hendricks (Jim Howick, „Hellboy“) Sex mit seiner Kollegin Mrs. Sands (Rakhee Thakrar, „EastEnders“), die Dirty Talk will, den er – Typ klassischer, eher gemütlicher Pädagoge – ihr aber nicht bieten kann. Jeans Auftritt als Sexualtherapeutin vor versammelter Schülerschaft gerät zur Farce, der neue, sehr attraktive Schüler Rahim (Sami Outalbali, „Lola und das Meer“) freundet sich mit dem homosexuellen Eric (Ncuti Gatwa, „Stonemouth – Stadt ohne Gewissen“) an, Maeve besteht ihre Eignungsprüfung auf Umwegen , wodurch sie wieder die Schule besuchen darf, und die nerdige Fantasy-Comic-Zeichnerin Lily (Tanya Reynolds, „Delicious“) trägt wieder unfassbare Outfits. Der Haupthandlungsstrang dieser Episode handelt jedoch davon, dass Ola vom unerfahrenen Otis gefingert will, woraufhin sich dieser informiert und es daraufhin zu sehr wie im Ratgeber angelesen vollzieht. Ola spielt ihm einen Orgasmus vor, um ihn nicht zu verletzen, doch er fühlt sich wie ein Held. Ein weiterer Handlungsstrang zeigt den tumben Mobber und Schläger Adam Groff (Connor Swindells, „Keepers – Die Leuchtturmwärter“), der in der letzten Folge der vorausgegangenen Staffel seine Homosexualität entdeckt hatte, auf der Militärschule, auf die ihn sein Vater, Schulrektor Michael Groff (Alistair Petrie, „Rogue One: A Star Wars Story“) wegen seiner schlechten schulischen Leistungen geschickt hat. Dort wird ihm Gras untergeschoben, weshalb er auch von dieser Schule fliegt.

Mit dem homosexuellen Schönling Rahim wird eine interessante neue Figur eingeführt, die eine derart coole Aura umgibt, dass auch die arrogante Schickimicki-Clique der Schule an Rahims Freundschaft interessiert ist – was er jedoch nicht erwidert. Komödiantisch absurd ist der Umstand, dass Mr. Hendricks Rat bei Nachwuchs-Sexualtherapeut Otis sucht, für den aber bereits guter Rat in Sachen Fingern teuer ist. Dass Maeve noch nicht über Otis hinweg ist, ist der Startschuss für eine episoden- und staffelübergreifende verhinderte Romanze, die die Gefühlswelt beider Figuren dominiert. Als Moral dieser Episode lässt sich destillieren: Sagt euch gegenseitig offen, worauf ihr steht.

Episode 3 zeigt im Prolog die indischstämmige Schülerin Olivia (Simone Ashley, „Pokémon Meisterdetektiv Pikachu“), die ihrem Freund beim Sex stets ein Kissen auf den Kopf zu drücken pflegt, was zu einem Konflikt führt. Und Eric datet Rahim! Jean ist nun eine Art Vertrauenslehrerin für Fragen rund um Sexualität an Otis‘ Schule und steht dort für Gespräche zur Verfügung. Die naive Blondine Aimee (Aimee Lou Wood, „Die wundersame Welt des Louis Wain“) wird im Omnibus von einem fremden Sittenstrolch angewichst, was schwerwiegende Folgen für ihre Psyche hat. Sie kann sich nicht mehr überwinden, in einem Bus mitzufahren, und Maeve muss sie regelrecht zur Polizei zerren, damit sie den Übergriff überhaupt zur Anzeige bringt. Das aufgrund einer Verletzung pausieren müssende Sport-Ass Jackson (Kedar Williams-Stirling, „Wolfblood – Verwandlung bei Vollmond“) beginnt, sich für Schauspiel zu interessieren, und wirkt bei den Proben zur „Romeo und Julia“-Schulaufführung mit. Adam jobbt nun im Lebensmittelgeschäft von Rahims Onkel und lernt dort Ola als ebenfalls jobbende Kollegin kennen. Erin möchte in Maeves Wohnwagen miteinziehen, weil sie von ihrem Partner verlassen wurde – was Maeve nicht gerade zu Jubelsprüngen animiert. Ein Familienabend bei Otis zu Hause endet im Eklat.

Neben Maeves turbulenter Familiengeschichte dominieren die Probleme, eine funktionale Patchwork-Familie zu gründen, und der sexuelle Übergriff auf Aimee diese Episode, die für die möglichen Folgen derartiger Attacken sensibilisiert und für einen verantwortungsbewussten Umgang damit wirbt – zunächst einmal in Form einer Anzeige bei der Polizei. Der dramatische Anteil überwiegt, zu lachen gibt es hier eher wenig. Und es beginnt aufzufallen, wie „angezogen“ die Sexszenen in dieser Staffel sind; es wird fröhlich in die meiste nackte Haut verdeckender Kleidung gevögelt. Die Intention dahinter ist klar, Voyeurinnen und Voyeure will die Serie nicht ansprechen. Dass dies zu Lasten des Realismus geht, ist die Kehrseite der Medaille.

Maureen Groff (Samantha Spiro, „Game of Thrones“), Ehefrau des Rektors, eröffnet Jean, seit sechs Jahren von ihrem Mann nicht mehr angefasst worden zu sein. Ola zeigt sich bereit für Sex mit Otis, er ist’s eher weniger und macht ein Riesending daraus. Maeve gesteht Otis endlich ihre Gefühle, was ihn verwirrt, insbesondere kurz vorm geplanten ersten Mal mit Ola. Beim Vorspiel ist er total gestresst und als auch noch eine SMS von Maeve eingeht, bricht er ab. Jean stürzt derweil beinahe mit ihrem Ex-Mann Remi (James Purefoy, „Ritter aus Leidenschaft“) ab. Eric und Adam kommen sich näher und küssen sich wieder, Otis hingegen bekommt von Ola die Pistole auf die Brust gesetzt, steht am Ende der vierten Episode zwischen zwei Frauen – und Eric zwischen zwei Männern…

Die Gefühlskonfusionen zwischen Maeve und Otis entwickeln sich zu einem filmisch wirklich gut umgesetzten Drama, während diese Entwicklung beim Rezensenten Entsetzen hervorruft: Schließlich ist Ola total cool! Diese Emotionalisierung der Rezeption spricht natürlich für und nicht gegen die Serie. Ebenfalls gekonnt eingearbeitet wird, wie Maeve es besser zu machen versucht als ihre Mutter, was Zuschauerinnen (und auch Zuschauern), die sich eventuell in ähnlichen familiären Situationen befinden, eine wichtige Vorbildfunktion sein kann. Gegen diese schwereren Themen verblasst ein wenig die Sexlehre dieser Episode: Hängt euer erstes Mal nicht zu hoch auf und plant es nicht bis ins Detail durch, sonst droht die Enttäuschung vorprogrammiert zu sein – und meist kommt es ohnehin anders als gedacht.

In Episode 5 fährt Otis‘ Vater Remi mit Otis und Eric zum Wandern in den Wald. Jackson soll seine ihm Nachhilfe gebende Mitschülerin, die korpulente Viv (Chinenye Ezeudu, „Ich schweige für dich“), mit ihrem Schwarm Dex (Lino Facioli, „Game of Thrones“) verkuppeln. Zwischen Jean und Jakob kriselt’s und Ola, die sich eigentlich für heterosexuell hielt, träumt amourös von Lily. Remi bricht überraschend zusammen, als er erfährt, dass seine Ex-Frau neu liiert ist, und Maureen trennt sich von Michael. Damit nicht genug: Ola macht mit Otis Schluss – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem er sich für sie entschieden und den Kontakt zu Maeve abgebrochen hat. Und dann ist da noch Eric, der sich für Rahim entscheidet, weil Adam nicht zu seiner Homosexualität und somit auch nicht zu Eric steht.

Die Karten werden hier also komplett neu gemischt. Otis glaubt, eine richtige Entscheidung getroffen zu haben, steht aber plötzlich allein da. Eigentlicher Kern dieser Episode ist indes Adam Groff. Sein Love Interest Eric wurde bereits in der ersten Staffel als lebenslustiger, selbstbewusster, ganz offen mit seiner Homosexualität umgehender Charakter eingeführt, von dem Adam das genaue Gegenteil ist: Dieser fühlt sich in seiner Männlichkeit, die er zuvor überzubetonen pflegte, verunsichert und traut sich nicht, zu seiner sexuellen Ausrichtung zu stehen. Dass sich nun auch noch seine Eltern trennen, macht das Leben für ihn nicht leichter. Vom verachtenswerten Bully Boy avanciert er immer mehr zum Sympathieträger bzw. zur ein gutes Stück weit bemitleidenswerten Figur, die zugleich beweist, dass die Autorinnen und Autoren nicht den Sinn für die Realität verloren haben, indem sie etwa eine insofern heile Welt etablierten, in der die sexuelle Ausrichtung keinerlei Rolle mehr spielen würden. Stattdessen steht Adam stellvertretend für den Typ verklemmter, verunsicherter Halbstarker, der innere Konflikte gegen von seinem Vater jahrelang indoktrinierte patriarchal-konservative Denkmuster ausfechten und erst einmal zu sich selbst finden muss. Für Zuschauer in ähnlichen Situationen dürfte es daher besonders spannend und im Idealfall erkenntnisreich sein, Adams weitere Entwicklung zu verfolgen. Als vielleicht ein Nebenhandlungsstrang zu viel erweist sich in dieser ansonsten sehr starken Episode Vivs Interesse am unsympathischen Dex.

Die sechste Episode eröffnet mit einem Prolog um zwei Schwule, von denen einer Angst davor bekommt, tatsächlich anal penetriert zu werden, und sich der Situation mit einem Trick entzieht. Im weiteren Verlauf wird er sich an Otis wenden, welcher wiederum Rahim dazu befragt. Lily scheint mit Olas Zuneigung nichts anfangen zu können und geht ihr aus dem Weg. Maeve soll wieder bei ihrer ehemaligen Quizgruppe mitmachen, um dort einen krankheitsbedingten Ausfall zu kompensieren. Sie lässt sich überreden – und ihr Team gewinnt prompt einen Wettbewerb! Jacksons Handverletzung ist so weit abgeheilt, dass er wieder am Schwimmtraining teilnehmen könnte, was seine Mutter zu forcieren versucht. Dies würde sich terminlich jedoch mit seinem Schauspielprojekt überschneiden. Er erträgt den Erwartungsdruck anderer, insbesondere seiner Mutter, in Bezug aufs Schwimmen nicht mehr; es stellt sich gar heraus, dass er seine Verletzung aus diesem Grunde selbst herbeigeführt hatte. Maureen emanzipiert sich mit Jeans Hilfe immer mehr von ihrem Mann, der aber leider an Jeans Notizen über seine Frau gelangt… Zwischen Maeve und ihrer Mutter läuft‘s mittlerweile besser, zudem scheint Maeve nach Otis‘ Entscheidung gegen sie geistig wieder offener für andere Menschen zu sein. Aus anfänglicher Abneigung gegen den im Rollstuhl sitzenden jungen Mann Isaac (George Robinson, „Dalgliesh“), der im Wohnwagen gegenüber wohnt, entwickeln sich zarte Bande der Zuneigung. Kernstück dieser Episode jedoch: Otis schmeißt eine Party bei sich zu Hause, zu der viel mehr Gäste erscheinen als eingeladen wurden. Rotzevoll beleidigt Otis sowohl Ola als auch Maeve und lässt sich völlig gehen. Auf dieser Party werden diverse Entscheidungen getroffen und Beziehungen ändern sich…

Eine weitere überaus gelungene Episode, die neben der Verhandlung homosexueller Themen überzogene Erwartungshaltungen von Eltern an ihren Nachwuchs und daraus resultierende mögliche negative Folgen aufgreift, die aus prekären Verhältnissen stammende und nach wie vor in ihnen lebende Maeve als gebildete junge Frau präsentiert (und damit zeigt, dass die soziale Herkunft mitnichten etwas über die Intelligenz aussagt) und Rollstuhlfahrern oder anderweitig körperlich eingeschränkten Menschen die leise Hoffnung vermittelt, vielleicht selbst einmal zum Schwarm von jemandem wie Maeve werden zu können. Otis‘ Party wiederum dürfte relativ nah an der Realität berüchtigter Hauspartys sein, inklusive Komplettabsturz des Gastgebers und anschließender Neudefinition zwischenmenschlicher Beziehungen. Nichtsdestotrotz geriet hier einiges recht plakativ und überzeichnet, was jedoch zum komödiantischen Stil der Serie passt.

Wie im echten Leben fällt auch der Auftakt der siebten Episode aus: Otis hatte im Vollsuff Sex mit Ruby (Mimi Keene, „EastEnders“) aus der Arroganzclique, an den er sich aber nicht erinnern kann. Leider ist sie sich nicht sicher, ob ein Kondom verwendet wurde, weshalb es die „Pille danach“ zu besorgen gilt. An seiner Schule gehen nun auch noch die die therapeutischen Notizen Jeans um. Es herrscht eine allgemeine Katastrophenstimmung und es kommt zu einem weiteren Eklat, als Jean erfährt, dass Otis Sexualberatung gegen Geld erteilt. Das Nachsitzen der eigentlich so unterschiedlichen Schülerinnen Maeve, Olivia, Aimee, Ola, Lily und Viv wird als zeitgemäße Hommage an den Kultfilm „Breakfast Club“ inszeniert, in deren Zuge sie als traurige Gemeinsamkeit feststellen, bereits belästigt worden zu sein, i.d.R. sexuell. Zwischen Eric und Rahim kommt es zu einem religiösen Disput, es gibt aber auch ein Happy End: Ola und Lily finden doch noch zueinander.

Diese Katerepisode der Staffel vermittelt zum einen, dass es die „Pille danach“ gibt, die in solchen und ähnlichen Situationen eine wertvolle Hilfe sein kann. Zum anderen sensibilisiert sie für den verantwortungsbewussten Umgang mit pikanten Aufzeichnungen. Auf der komödiantischen Ebene punktet er mit der absurd erscheinenden Liaison zwischen Ruby und Otis, auf der dramatischen – und wichtigeren – mit dem Quasi-Aufruf an die Frauenwelt, miteinander zu kommunizieren, auch negative Erfahrungen untereinander auszutauschen und sich zu vernetzen, um sich gegenseitig Halt zu geben und mit vereinten Kräften gegen sexistische und gewalttätige Übergriffe vorgehen zu können, die verbreiteter sind als vielfach angenommen. Niemand muss als Opfer allein bleiben. Manchmal hilft es auch, sich gemeinsam abzureagieren, wie es die Mädels hier auf dem Schrottplatz tun – denn auch das gehört dazu.

Das Staffelfinale treibt einige Konflikte auf die Spitze: Jean ist sauer auf Otis, weniger wegen der Party und der verwüsteten Wohnung als vielmehr deshalb, weil er Geld für seine Laienberatungen annahm – doch Otis bleibt uneinsichtig. Jakob beendet seine Beziehung zu Jean, nachdem diese zunehmend ein Problem mit seiner Anwesenheit entwickelt hatte – seither leidet sie jedoch. Isaac und sein Bruder schnüffeln Erin nach, um herauszufinden, ob sie wieder Drogen nimmt. Dem scheint so zu sein und ausgerechnet, während Maeve im Quizfinale sitzt, senden sie ihr den Beweis. Otis stellt seinen Vater zur Rede und möchte wissen, weshalb er seine Mutter und ihn seinerzeit hat sitzenlassen. Und last but not least steht die „Romeo und Julia”-Schulaufführung an, die unter Lilys Regie zu einer sexuell aufgeladenen campy Farce gerät, die zudem ungeplant von den Groffs torpediert wird.

Diese Aufführung ist der komödiantische Höhepunkt nicht nur der Episode, sondern wahrscheinlich der ganzen Staffel, der zugleich eine Lanze für die freie, kreative und zeitgenössische Bearbeitung klassischer Stoffe bricht. Manch dramatische Zuspitzungen fällt hingegen – geradezu kontrastierend – relativ derb aus und natürlich wartet das Finale mit dem einen oder anderen Cliffhanger auf.

Während ich das Gefühl hatte, dass sich die Serie während der ersten Staffel erst noch finden musste, holt mich diese zweite Staffel stärker ab. Die verhandelten Themen erscheinen mir vielfältiger und anspruchsvoller, das Ensemble wurde stark erweitert. „Sex Education“ ist hochpädagogisch, ohne auch nur eine Sekunde so zu wirken, transportiert kluge Aussagen und regt nicht zuletzt zur Selbstreflexion an, während die Kreuzung aus Drama und Komödie meist funktioniert. Die zig parallel zueinander verlaufenden Handlungsstränge, die sich immer mal wieder kreuzen, verleihen der Serie starke Soap-Elemente, die man aufgrund der überaus ausdrucksstarken Hauptrollen und des erfrischend spielfreudigen Ensembles gern verzeiht, vielleicht gar regelrecht genießt, sobald einem die Figuren ans Herz gewachsen sind. Diese verkörpern zahlreiche positive Rollenbilder, während sie zu einem relativ großen Anteil dem angehören, was man gemeinhin als Minderheiten bezeichnet: Sie sind schwarz, haben offensichtlich einen Migrationshintergrund, sind nicht heterosexuell, entstammen dem Prekariat, sind übergewichtig, behindert oder was auch immer – werden dabei in dieser Serie aber nicht exotisiert und nicht jede Abweichung vom weißen Mainstream wird problematisiert. Liebe und Sex zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe ist hier etwas Alltägliches und Selbstverständliches.

„Sex Education“ geht mit gutem Beispiel dafür voran, wie eine solche Diversität unaufdringlich und erfolgreich filmisch umgesetzt werden kann. Die Aussage dahinter: Jeder hat seine positiven und negativen Eigenheiten sowie seine Makel und Probleme, niemand ist deshalb etwas Besseres oder Schlechteres, schon gar nicht aufgrund von Äußerlichkeiten wie Hautfarbe oder Sexualität. Dennoch, dieser Kritikpunkt sei gestattet, geht dieses Unterfangen damit einher, dass sich die Schülerinnen und Schüler der (wohlweislich) fiktionalen Kleinstadt zwar mit sexueller Belästigung sowie zahlreichen zwischenmenschlichen und persönlichen Problemen auseinandersetzen müssen, nicht aber beispielsweise mit Rassismus, was das Serien-Setting dann doch zumindest zu einer heileren Welt als die Realität, zu einer idealisierten Variante macht. Eine Welt voller Klamottenfetischist(inn)en zudem, die beim Sex ihre Kleidung anlassen – eine offensichtliche Prüderie, die zwar wirkungsvoll verhindert, dass „Sex Education“ aus den falschen Motiven heraus geguckt wird, die vermittelte Sexpositivität aber ein Stück weit konterkariert. Ich erhöhe dennoch (von 7/10 für die erste Staffel) auf 8 von 10 Beratungsgesprächen auf dem Schulklo und freue mich auf die nächste Staffel.
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Das Rätsel des silbernen Halbmonds

„Dieser silberne Halbmond ist unser neuer Talisman, ja?“

„Das Rätsel des silbernen Halbmonds“ aus dem Jahre 1972 wurde seinerzeit als 38. (und letzter) Teil der Edgar-Wallace-Verfilmungsreihe vermarktet, basiert jedoch – mit viel Wohlwollen – lediglich lose auf Wallace-Motiven und ist, wie bereits die jüngsten vorausgegangenen Verfilmungen, eine deutsch-italienische Koproduktion – und letztlich eigentlich ein wachechter Giallo. Mit der Inszenierung wurde der italienische Genrefilm-Regisseur Umberto Lenzi („Spasmo“) betraut, der bereits auf mehrere Gialli im Portfolio zurückblicken konnte. Als einzige Wallace-Verfilmung spielt diese nicht einmal mehr wenigstens zum Teil in England, sondern durchgehend in Italien. Die deutsche Kinofassung war gegenüber der internationalen (auf der diese Kritik beruht) radikal gekürzt.

„Ich habe nicht so viel Vertrauen zur Polizei wie du!“

Bei einer in Rom brutal ermordeten Prostituierten wird ein silberner Halbmond gefunden, was sich als der Auftakt einer ganzen Mordserie entpuppt, die weit übers Rotlichtmilieu herausreicht. Stets drapieren die Täterin oder der Täter ein solches Schmuckstück bei der jeweiligen Leiche. Eines der Opfer, Giulia (Uschi Glas, „Zur Sache, Schätzchen“), überlebt jedoch verletzt, während der Täter sie für tot hält. Die Polizei kommt mit der Presse überein, Giulia als tot zu melden und inszeniert sogar ihre Beisetzung, um sie zu schützen und den/die Täter(in) in Sicherheit zu wiegen, während man weiter auf der Suche nach ihm oder ihr ist. Giulia erinnert sich, einen solchen silbernen Halbmond bereits vor zwei Jahren in einem Hotel als Schlüsselanhänger eines amerikanischen Gasts gesehen zu haben. Während die Polizei um Inspektor Vismara (Pier Paolo Capponi, „Frauen bis zum Wahnsinn gequält“) weiter im Dunkeln tappt, ermittelt Giulias Ehemann Mario (Antonio Sabato, „Das Auge der Spinne“) auf eigene Faust. Der Mörder scheint es speziell auf Frauen abgesehen zu haben, die sich einst in jenem Hotel aufhielten…

Kaum noch Wallace, dafür bella Italia, Lenzi und in der weiblichen Hauptrolle, Schockschwerenot: Deutschlands biederstes und reaktionärstes Fräuleinwunder Uschi Glas, die bereits bei der Wallace-Verfilmung „Die Tote aus der Themse“ mitwirkte. Alles beginnt mit einer nächtlichen Autofahrt. Lenzi fackelt nicht lang: Killer-Point-of-View, schwarze Handschuhe, Messer, erster Mord; Straßenstrich, Tittenszene, nächster Mord mit Holzlatte an Dirne Marcella, am Tatort drapiert: der titelgebende silberne Halbmond. Die Polizei nimmt die Ermittlungen auf und Giulia wird in die Handlung eingeführt. Nach einem Abstecher zu einer Kunstausstellung können beide auch die nächste Gräueltat nicht verhindern: Das Opfer trägt einen krassen Glitzerfummel, schlüpft in ein nicht minder exaltiertes Nachthemd und erleidet einen sehr stylischen Tod. Uschi, ‘tschuldigung, Giulia versucht man im Zug zu meucheln, doch wie bereits erwähnt geht der Anschlag daneben.

Lenzi legt also ein recht hohes Tempo vor. Gut, kann man so machen, sollte dann jedoch nicht mehrere Gänge zurückschalten. Dabei wirkt die Geschichte mit der eher schemenhaften Erinnerung einer auf eigene Faust ermittelnden Privatperson, die schließlich zum Schlüssel zur Lösung wird, zunächst einmal überaus typisch gialloesk und vielversprechend; Augenzooms und Suspense-Szenen sind weitere liebgewonnene Charakteristika. Die eingeflochtene Kritik an einer Polizei, die ein falsches Geständnis erfoltert, erfreut den Geist, Uschis heftiges Sonnenbrillengestell hingegen beleidigt jedes Ästhetikempfinden. Die Szenen aus der Frauenklapse, in der das nächste Opfer weilt, muten grotesk an; durch die parallel stattfinden Polizeiermittlungen erhält der Film genreuntypische Krimianleihen. Lange Zeit verzichtet der Film auf Schauwerte und wird – leider bis zum Finale – immer langweiliger. Aus dem Nichts auftauchende Familienmitglieder stehen ebenso wie eine generell immer abstruser werdende Handlung, bei der man irgendwann geistig abschaltet, für eine entweder von vornherein wirre oder aber durch die Inszenierung unzureichend vermittelte Handlungskonstruktion. Laut Mitautor Lenzi basiere die Drehbuch-Idee auf irgendeinem Roman (jedenfalls keinem Wallace).

Überlieferungen zufolge habe die Chemie innerhalb der Darsteller(innen)riege am Set nicht gestimmt, was erklären würde, weshalb es der Inszenierung merklich an Esprit mangelt – dabei ist diese rein handwerklich betrachtet eigentlich einwandfrei, die Kameraarbeit sticht gar mit einigen wirklich schönen Bildgestaltungen ins Auge und Riz Ortolanis minimalistischer, jazziger Score kann sich hören lassen. Vielleicht wäre unter anderen Umständen aus den vorhandenen Zutaten ein etwas bekömmlicherer Giallo mit einem deutlicher herausgearbeiteten Subtext über den Kampf des Vergehenden gegen die Moderne entstanden. In der vorliegenden Form aber wirkt es fast, als habe man Lenzi nach dem Auftakt ausgebremst, daran erinnert, dass die Edgar-Wallace-Reihe britische Kriminalromane und keine reißerischen italienischen Groschenhefte sind und ihn letztlich demotiviert.
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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Eisenzeit

„Mit der Realität ist er eigentlich nie zurechtzukommen...“

Manchmal kommt es alles ganz anders: Thomas Heises („Das Haus 1984“) Dokumentarfilm „Eisenzeit“ über vier Jugendliche aus Eisenhüttenstadt wurde bereits Anfang der 1980er in Angriff genommen, jedoch nie fertiggestellt. Zehn Jahre später, im Jahre 1991, nimmt Heise die Arbeit an seinem Film wieder auf, der nun ein ganz anderer wird: Die DDR ist jüngst Teil der BRD geworden, die Jugendlichen, die er einst zu porträtieren suchte, sind erwachsen oder tot und niemand von ihnen lebt mehr in Eisenhüttenstadt.

„Was bleibt?“

Eine Frau befragt jemanden, der zunächst gar nicht und dann nur mit seinem Hinterkopf im Bild ist, zu dessen Alkoholikerkarriere und Familienverhältnissen. Filmemacher Heise schaltet sich anschließend aus dem Off als fortan durch den Film führender Sprecher ein. Man erfährt, dass die Frau Conny heißt, und muss sich selbst zusammenreimen, dass sie anscheinend als Sozialarbeiterin o.ä. arbeitet. Zusammen mit Heise fährt sie Mario besuchen – auf dem Friedhof, wie sich herausstellt… Wir erfahren Marios Geschichte von Heise im Schnelldurchlauf, ein Problemkind mit Problemeltern. Ein Interview mit Marios Mutter schließt sich an, kurze historische Aufnahmen von der Stadtgründung (damals noch „Stalinstadt“) beenden zunächst dieses Kapitel. Nun geht’s um Tilo, aus dessen Schulakte zitiert wird. Seine Eltern äußern sich. Ein Trinker und Schläger, der irgendwann zu Gott fand, um viel zu früh seinem Schöpfer gegenüberzutreten.

Conny war mit Mario befreundet oder gar liiert und teilt ihre persönlichen Erinnerungen für diesen Film. Auch Heise lässt eigene Erinnerungen immer wieder einfließen. Im Mai 1989, kurz vor seiner Ausreise in die BRD, hat Mario sich das Leben genommen. Da der Film öfter zwischen Tilo und Mario wechselt, ist es schwer, den Überblick zu behalten, um wen genau es gerade geht. Der jüngere Bruder, der nun einige Worte findet, dürfte zu Tilo gehören, bevor es wieder um Mario geht. Dieser war allem Anschein nach ein Punk. Wir lernen seine jüngere Schwester kennen. Ein Folk-Song wird in Gänze ausgespielt, der dokumentarische Teil pausiert so lange. Kellnerin Anka sei mit allen befreundet gewesen, persönlich zu Wort kommt sie aber nicht und wird generell nur kurz angerissen. Die beiden anderen Männer, um die es ursprünglich auch gehen sollte, Karsten und Frank, seien verschwunden, wie wir erfahren. Marios Ex-Freundin schließt den Reigen, sie wirbt jetzt für Abos der „Fernsehwoche“. Ein Ausschnitt zeigt eine Promoaktion mit einem singenden Gotthilf Fischer, um den ostdeutschen Markt zu erschließen.

Auch Frank war ein DDR-Staatsfeind. Zunächst weiß seine Mutter einiges zu berichten, dann stößt sein Vater, ein ehemaliger Stasi-Mitarbeiter, hinzu. Frank sei 1984 von der BRD aus dem Knast freigekauft worden und nach West-Berlin gezogen. Sein Bruder Ronald zitiert aus einem Brief seines Vaters, einem echten Parteisoldaten mit faschistischer Attitüde. Eine schöne Überraschung: Frank wurde ausfindig gemacht und äußert sich bereitwillig vor der Kamera, unter anderem zum schwierigen Verhältnis zu seinem Vater. Von seiner Familie wirkt er total entfremdet, seinen Vater, der ihn brutal misshandelt und gequält habe, hasse er. Im weiteren Verlauf des Gesprächs äußert sich Frank sehr system- und gesellschaftskritisch.

„Eisenzeit“ ist ein unheimlich langsam erzählter, mit Füllszenen gestreckter und mit mehreren Neil-Young-Stücken unterlegter Film, der eine ehemalige Clique grob umreißt und damit nur zum Teil porträtieren kann. Aus dem, was man über Mario, Tilo und Frank erfährt, entsteht das Bild nicht klargekommener junger Männer, denen nicht die Hilfe zuteilwurde, die sie gebraucht, nicht die Chancen angeboten wurden, die sie gereizt hätten, und die gegen DDR-Bildungssystem, Gesellschaft und Elternhaus rebellierten oder sich in Süchten verloren. Außer im Falle Franks wird dabei nie so ganz deutlich, wer zu welchen Anteilen die Hauptschuld am jeweiligen Desaster trägt, ihren Teil dürften aber alle dazu beigetragen haben. Die Stimmung ist gedrückt, der Stil aber stets respekt- und pietätvoll. Insbesondere Franks Eltern sind erschreckend, Franks kluge und selbstreflektierte Worte gegen Ende vermitteln indes etwas Hoffnung. „Eisenzeit“ ist ein intimes Stück sehr individueller Geschichte, das davon beseelt scheint, in Vorwendezeiten in dieser Offenheit nie hätte realisiert werden zu können. Schnitt und Dramaturgie wurden dabei offenbar ein wenig vernachlässigt, brechen dafür aber mit heutzutage gewohnten Dokumentarfilm-Konventionen.
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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Sex Education [Staffel 3]

„Ohne Gefühle ist alles leichter – niemand wird verletzt...“

Die britischen Sexualdramödien-/Aufklärungsserie „Sex Education“ aus dem Jahre 2019, die für den US-Video-on-Demand- bzw. Streaming-Anbieter Netflix produziert wurde, ging am 17. September 2021 in die dritte Runde. Bei den acht neuen Episoden à einer knappen Stunden führte neben Ben Taylor Runyararo Mapfumo Regie, Sophie Goodhart und Alice Seabright blieben als Drehbuchautorinnen erhalten. Wie bereits zur zweiten Staffel werde ich wieder gezielt auf die einzelnen Episoden, vornehmlich deren Inhalte, eingehen. Wer sich zu Konzept und narrativem Rahmen der Serie informieren möchte, möge in meine Kritik der ersten Staffel linsen.

Als Prolog der ersten Episode fungiert eine fantastisch montierte und geschnittene Collage, die alle möglichen Spielarten menschlicher Sexualität zeigt und damit ihr Variantenreichtum eindrucksvoll veranschaulicht. Mit Hope Haddon (Jemima Kirke, „Girls“) tritt eine neue Rektorin an der Schule an, die sich jung und lässig gibt und damit die Hoffnung auf eine progressivere Ausrichtung der Schule nährt, als es unter Rektor Groff möglich war. Ruby (Mimi Keene, „EastEnders“) möchte in erster Linie Sex von Otis, und zwar möglichst immer, wann sie es will, mehr aber auch nicht. Eric (Ncuti Gatwa, „Stonemouth – Stadt ohne Gewissen“) und Adam (Connor Swindells, „Keepers – Die Leuchtturmwärter“) werden auch offiziell ein Paar, während Adams Vater Michael (Alistair Petrie, „Rogue One: A Star Wars Story“) sich nach einer neuen Anstellung umschaut.

Kern dieses gelungenen Staffelauftakt ist die eigenartige Beziehung zwischen Ruby und Otis. Ruby degradiert ihn so lange zum Toyboy, bis glücklicherweise seine Selbstachtung siegt – was auch als Botschaft ans Publikum verstanden werden darf. Nach der sehr zugeknöpften zweiten Staffel fällt diese Episode freizügiger aus, vom Zeigen sekundärer oder gar primärer Geschlechtsorgane wird jedoch weiterhin abgesehen – mit Ausnahme eines von hinten gezeigten Penis.

In Episode 2 kommen nun auch Ruby und Otis offiziell zusammen, jedoch zu Rubys Bedingungen: Sie krempelt Otis‘ Erscheinungsbild komplett um und stellt klar, der Boss zu sein. Die als vermeintlich cool eingeführte neue Rektorin Hope entpuppt sich als reaktionär und faschistoid, sie führt sogar Schuluniformen ein. Eric und Adam planen den ersten Sex miteinander, Jean (Gillian Anderson, „Akte X“) und Jakob (Mikael Persbrandt, „Kommissar Beck“) treten eine Paartherapie an, während Maeve (Emma Mackay, „Badger Lane“) der noch immer unter einem sexuellen Übergriff leidenden Aimee (Aimee Lou Wood, „Die wundersame Welt des Louis Wain“) weiterhin zur Seite steht. Obwohl Maeve und Aimee grundverschieden sind, ist Maeves Verhältnis zu ihrer Mutter Erin (Anne-Marie Duff, „Shameless“) das schwierigere…

Der Humor dieser Episode tendiert richtiggehend ins Satirische, schwenkt dann aber recht harsch in Richtung Drama um. Neben dem Dauerbrennerthema „erstes Mal“, das in der schwulen Variante hier recht sensibel behandelt wird, wird die Möglichkeit einer Paartherapie aufgezeigt und davor gewarnt, sich seine(n) Partner(in) so zurechtschnitzen zu wollen, wie es einem am besten in den Kram passt. Dass eine junge, zunächst weltoffen und modern wirkende Frau noch wesentlich reaktionärer sein kann als der verknöcherte alte Rektor, den sie abgelöst hat, ist eine überraschende Wendung, die sich in unterschiedlich starker Ausprägung durch die Staffel ziehen wird.

Die dritte Episode kehrt im Prolog zum extrem angezogenen Sex zurück. Ola (Patricia Allison, „Les Misérables“) und Jakob sind nun bei Otis und Jean eingezogen, was zu Konflikten führt. Rektorin Hope zeigt sich Maeve gegenüber von einer anderen Seite, sie möchte sie für ein Auslandsstudium fördern. Schülerin Viv (Chinenye Ezeudu, „Ich schweige für dich“) übertragt sie die Verantwortung, die Schülerschaft auf das korrekte Tragen der Schuluniform hin zu kontrollieren. Ein gemeinsamer Pärchenabend von Adam und Eric mit Ruby und Otis verläuft überraschend angenehm und konfliktfrei. Otis lernt Rubys Zuhause, das sich als andere als glamourös erweist, und ihren Vater kennen. Als sie Otis ihre Liebe gesteht, erwidert er die berühmten drei Worte nicht. Maeve und Isaac (George Robinson, „Dalgliesh“) freunden sich wieder miteinander an.

Das ehemalige Liebespaar Ola und Otis streitet sich unterm nun gemeinsamen Dach wie zwei Geschwister miteinander, während Otis ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem Ruby sich ihm gegenüber öffnet und ihm ihr wahres Ich zu zeigen bereit ist, einen Rückzieher einzuläuten scheint. Das ist bitter für Ruby, die so etwas hier stellvertretend für alle anderen in ähnlichen Situationen erfährt. Der Blick hinter ihren Schutzanzug aus Arroganz und Glamour legt nahe, dass er nur Fassade ist, um ihre soziale Herkunft aus sehr einfachen Verhältnissen zu verschleiern – weshalb man über Mitmenschen, die ein solches Verhalten an den Tag legen, womöglich nicht vorschnell urteilen sollte. Wie sich die schon immer recht korrekte und pflichtbewusste Viv zur bereitwilligen Schergin der faschistoiden Rektorin machen lässt, erinnert fast ein wenig an „Die Welle“. Eine aufgrund der Entwicklungen zwischen Ruby und Otis emotional berührende Episode.

Episode 4: Ruby ist sauer auf Otis, sagt ihm aber nicht, weshalb. Hope teilt den Sexualkundeunterricht in Jungen und Mädchen auf, was zwei Nonbinäre vor Probleme stellt. Zudem wird der Unterricht derart sexualfeindlich gestaltet, dass er die Schülerinnen und Schüler möglichst von der Beschäftigung mit Sex abhalten soll. Jean sorgt sich derweil, nichts mit Jakob gemeinsam zu haben. Adam wird eifersüchtig auf Rahim (Sami Outalbali, „Lola und das Meer“), es kriselt zwischen Eric und ihm. Maeve und Isaac kommen sich entscheidend näher, knutschen miteinander und... Ruby beendet schließlich ihre Beziehung zu Otis. Am Ende der Episode steht der Aufbruch zu einer Klassenfahrt nach Frankreich.

Das Ende der nur kurzen Beziehung zwischen Ruby und Otis wird sehr gefühlvoll inszeniert, ohne zu melodramatisieren. Den Zuschauerinnen und Zuschauern wird anschaulich vermittelt, wie wichtig Freundinnen und Freunde in solchen Momenten sind. Zwischen Adam und Eric kommt es zu einem sehr romantischen Augenblick. Hopes Neuausrichtung der Sexualkunde wird als satirische Überzeichnung auf die Prüderie vor der sexuellen Revolution gestaltet und zugleich anhand eines konkreten Beispiels dargestellt, wie schnell ein ausschließlich Mann und Frau (respektive Junge und Mädchen) kennendes, binäres Geschlechtersystem an seine Grenzen stößt. Die Szenen zwischen Maeve und Isaac sind von ganz besonderer Qualität, da sie endlich vollziehen, was bereits in Staffel 2 angedeutet wurde: Körperliche Liebe zwischen einer attraktiven jungen Frau und einem gehandicapten jungen Mann, der auf den Rollstuhl angewiesen ist. Eine starke Episode, der es tatsächlich gelingt, zwischen Satire, Herzschmerz und Romantik zu changieren, ohne dabei wie Stückwerk zu wirken.

In der fünften Episode erfährt man etwas Persönliches über Rektorin Hope: Sie befindet sich in Behandlung, weil sie nicht schwanger werden kann. Jackson (Kedar Williams-Stirling, „Wolfblood – Verwandlung bei Vollmond“) und Cal (Dua Saleh), einer der nonbinären Mitschüler, befinden sich während der Busfahrt innerhalb Frankreichs auf einen halluzinogenen Pilztrip, als der Bus wegen eines superpeinlichen Klozwischenfalls Rahims in einen Verkehrsunfall verwickelt wird. Otis und Maeve werden versehentlich an einer Tankstelle zurückgelassen. Jackson und Cal kommen sich näher, während Otis und Maeve sich aussprechen und knutschen. Daheim misstraut Jakob der schwangeren Jean und verlangt einen Vaterschaftstest; Eric derweil ist gar nicht nach Frankreich mitgereist, sondern besucht wegen einer Hochzeit seine Familie in Nigeria.

Diese Episode ist sogar noch mit weiteren Nebenhandlungssträngen pickepackevollgepackt, eine Tendenz, die sich auch in den vorausgegangenen Episoden abzeichnete und die Handlung mitunter etwas zu überfrachten droht. Textnachrichten spielen diesmal eine besonders große Rolle, womit man einmal mehr ein Gespür für zeitgenössische Kommunikationsmethoden Jugendlicher beweist. Neben derbem Fäkalhumor und einer witzigen „Pump Up The Jam“-Einlage während der Busfahrt geht es ans Eingemachte, nämlich ans Herz: So sehr man sich für Maeve und Otis zu freuen geneigt ist, dass sie endlich wieder zueinander finden, so sehr tut zumindest mir Isaac leid: Wie gewonnen, so zerronnen. Das hat den faden Beigeschmack, dem „Krüppel“ kurzzeitig auch mal etwas zu gönnen, dann muss aber auch wieder gut sein und werden die „regulären“ Verhältnisse wiederhergestellt. Die Entwicklungen überschlagen sich mittlerweile von einer Episode zur nächsten, was den Seifenoper-Anteil der Serie auf Vorabendserienniveau zu senken droht. Ich habe gemischte Gefühle. Und dann auch noch ein bunter, schwuler Paradiesvogel wie Eric im islamistischen Nigeria – ob das gutgeht?

„Ich hab' alles kaputt gemacht, weil ich anscheinend nicht in der Lage bin, gesunde Beziehungen aufzubauen!“

Episode 6 prologisiert mit einer Rückblende in Sonderling Lilys (Tanya Reynolds, „Delicious“) Kindheit, in der sie bereits ihre Alien-Sex-Geschichten verfasste. In der Gegenwart bekommt die Schule negative Presse wegen der Veröffentlichung Liliys Buchs. Maeve wird ins Begabt-und-talentiert-Programm aufgenommen, ihr Stipendium hingegen wird leider abgelehnt. In ihrem Privatleben entscheidet sie sich überraschend für Isaac und gegen Otis, das Verschwinden ihrer kleinen Schwester und Otis' Verhalten bringen aber alles durcheinander. Die Schule soll umbenannt werden, Hope prangert Lily, Cal und Adam öffentlich an und erlässt Zwangsmaßnahmen gegen sie, Rahim wird gar suspendiert. Aimee nimmt nun (endlich) Therapiesitzungen bei Jean wahr, ebenso Adams Vater Michael, was mit Rückblenden in seine Kindheit einhergeht, die ein Stück weit erklären, warum er wurde wie er ist. Viv beginnt, gegen Hope zu rebellieren, während Eric in Nigeria einen schwulen Fotografen kennenlernt, der ihn in die konspirative queere Partyszene einführt. Beinahe geht Eric Adam fremd…

Da ist er also, der nächste Schulskandal – der daran erinnert, dass auch diese Schule mit ihren diversen und aufgeschlossenen Schülerinnen und Schülern nicht im luftleeren Raum, sondern innerhalb einer zu großen Teilen weitaus spießigeren Gesellschaft existiert. Für Isaac und Maeve scheint kurz wieder Hoffnung zu bestehen, doch schon werden neue Turbulenzen ins Buch geschrieben, die alles wieder auf den Kopf stellen – das Gesetz der Soap. Hope lässt einmal mehr die Muskeln der Autorität spielen. Wer also glaubte, mit den Einblicken in ihre privaten Sorgen ginge nach und nach eine charakterliche Entwicklung dieser Figur einher, sieht sich getäuscht. Mit einem Plädoyer für Therapiesitzungen ist, als Kontrast zu Hope, ein Erkenntnisgewinn in Bezug auf Michael Groffs Biografie verbunden. Überaus spannend inszeniert wurden Eric Erlebnisse in Nigeria, der Heimat seiner Familie. Zunächst ist nicht klar, ob man ihn nicht vielleicht in eine Falle lockt. Das Gefühl der Skepsis, des Zweifels und auch der Angst, das man als nicht gänzlich empathielose(r) Zuschauer(in) in diesen Szenen empfindet, dürfte einen kleinen Eindruck von der Gefühlswelt queerer Menschen innerhalb ihnen feindlich gesinnter Strukturen vermitteln.

„Wir sind die Sex-Schule!“

Die siebte Episode eröffnet mit einer Animationssequenz aus Lilys quasi autobiographischer Science-Fiction-Geschichte. Isaac beendet nach den jüngsten Ereignissen die Beziehung zu Maeve und tut damit das einzig Richtige, so bitter es auch ist. Hope will unbedingt einen perfekten, „sauberen“ Tag der offenen Tür, wobei der Zweck ihre Mittel heiligen soll, wird jedoch von ihrer Schülerschaft geschlossen öffentlich düpiert. Michael Groff entdeckt das Kochen für sich wieder und entwickelt damit erstmals so etwas wie eine wirkliche, positive Leidenschaft; zugleich emanzipiert er sich von seinem überheblichen, versnobbten Bruder und damit auch von seinem gefühlskalten Arschlochvater – und scheint wieder mit Maureen zusammenzufinden. Cal und Jackson gehen miteinander ins Bett, doch Jackson verkrampft dabei. Maeve findet ihre kleine Schwester wieder, ihr geht’s glücklicherweise gut. Eric gesteht Adam, in Nigeria jemanden geküsst zu haben – und Jean bekommt eine Frühgeburt, dabei selbst mit dem Tod kämpfend. Ausgerechnet als Jakob Otis darüber telefonisch informieren will, kommt dieser wieder mit Maeve zusammen.

Eine überaus schicksalhafte Episode also, deren Ereignisse am Ende davon überschattet werden, dass es aussieht, als überlebe Jean nicht, werde also am Staffelende aus der Serie herausgeschrieben. Ansonsten dreht sich das Beziehungskarussell in schwindelerregender Geschwindigkeit, muss Hope endgültig erkennen, dass sie in Viv eben doch keine loyale Vasallin hatte, dafür aber die ganze Schülerschaft gegen sich, und wird in Bezug auf Mr. Groff eine wichtige Botschaft vermittelt: Wenn deine Beziehung in die Brüche gegangen ist, versuche beizeiten, deine Trauer, Wut und Sehnsucht zu überwinden, indem du dich darauf besinnst, was dir Freude bereitet und guttut, um wieder zu gesunden. Und, wer weiß? Vielleicht wirkst du dadurch auch wieder attraktiv auf andere. Für meinen Geschmack ist das alles ein bisschen sehr viel Drama, von der leichtfüßigen Komik der ersten Staffel hat sich „Sex Education“ immer weiter entfernt – dafür aber auch mehr zu sagen.

Im Prolog der Episode 8 schnürt sich die andere nonbinäre Person (deren Name mir nicht geläufig ist, ich bitte dies zu entschuldigen) die Brüste ab. Jean ist glücklicherweise nicht gestorben, muss aber notoperiert werden. Maeve zieht bei der Pflegemutter ihrer kleinen Schwester ein, verlässt also den Trailerpark. Ihr Studium in den USA könnte sie nun doch finanzieren, möchte aber lieber bei Otis bleiben. Jackson und Cal beenden ihre amourösen Versuche miteinander und beschließen, Freunde zu bleiben. Und die Schule ist endlich Hope als Rektorin los. Einiges wendet sich im Staffelfinale zum Guten, aber: Die Schule soll verkauft werden. Wie also soll es weitergehen? Eric trennt sich von Adam aus absolut nicht nachvollziehbaren Gründen, was hart nervt. Immerhin überzeugt diese Sequenz inszenatorisch derart, dass ich den Tränen nah war. Michaels Hoffnungen zerplatzen wie eine Seifenblase, denn Maureen will weiterhin die Scheidung – fuck! Und Aimee trennt sich von ihrem Freund Steve (Chris Jenks, „Athena“), der nun wirklich am allerwenigsten für ihre Situation kann – doppelfuck!

Diese Staffel wurde zum Ende hin immer nervenaufreibender, ernster, in den zuletzt genannten Entwicklungen aber auch ärgerlicher. Ich bin anscheinend voll in die Soap-Falle getappt, indem ich mich von alldem sehr habe mitnehmen lassen, was einerseits für eine gelungene Dramaturgie der Serie spricht, andererseits aber offenbart, wie skrupellos die Autorinnen und Autoren ihre Figuren von einer Katastrophe in die nächste tappen lassen, um Gefühlsregungen beim Publikum auszulösen. Bei aller jugendlichen Frische, die „Sex Education“ nach wie vor ausstrahlt, und bei allen positiven und nur allzu wahren vermittelten Botschaften, missfällt es mir zusehends, wie man mich als Zuschauer von einem Wechselbad der Gefühle ins nächste jagt. In der vierten Staffel, die längst bestätigt ist und auf die ich mich nichtsdestotrotz freue, sollte die Serie versuchen, etwas von ihrer Unbekümmert- und Lockerheit zurückzuerlangen und aufpassen, nicht in Seifenoper-Fahrwassern zu versinken.
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Tatort: Schlußverkauf

„Jeder Mensch hat Illusionen…“

Mit dem von Wilm ten Haaf („Schwarzwaldmädel“) nach einem Drehbuch Konrad Sabrautzkys inszenierten „Tatort: Schlußverkauf“ feiert der Münchner Kriminalhauptkommissar Melchior Veigl (Gustl Bayrhammer) ein kleines Jubiläum, handelt es sich doch um seinen zehnten Beitrag zur öffentlich-rechtlichen Krimireihe. Für ten Haaf war es die vierte „Tatort“-Regiearbeit, drei weitere sollten folgen. Die Erstausstrahlung erfolgte am 21. Mai 1978.

Inmitten des Winterschlussverkaufs eines Münchner Kaufhauses wird der Mitarbeiter Manfred Spränger durch einen gezielten Messerstich in den Rücken ermordet, vom Täter keine Spur. Veigl, Lenz (Helmut Fischer) und Brettschneider (Willy Harlander) von der Münchner Mordkommission befragen diverse Menschen, die mit Spränger in Kontakt standen, doch kaum jemand scheint ihn wirklich gekannt zu haben. Direktor Haslauer (Hans-Dieter Asner, „Raumpatrouille Orion“) berichtet, Spränger sei erst vor einem halben Jahr von Hamburg nach München gekommen, um Abteilungsleiter Karl Rothermund (Alexander May, „Tätowierung“) abzulösen, vom dem man sich wegen Vorteilsnahme habe trennen müssen. Rothermund hasste Spränger daraufhin und habe ihn einst sogar attackiert – doch ist ihm auch ein Mord zuzutrauen? Die Polizei ermittelt weiter in alle Richtungen. Ein Darlehen kommt schließlich als mögliches Motiv infrage, das zu Familie Wagner führt…

Der Auftakt ist ein grandioses Zeitdokument, zeigt er doch einen Winterschlussverkauf, wie er damals nicht unüblich war: sich im Konsumrausch drängelnde Menschenmassen, Hektik und latente Aggression. Bis einer mit einem Messer im Rücken tot liegenbleibt. Haben wir es also mit einem klugen konsumkritischen Fall zu tun, in dem jemand im WSV-Wahn überschnappt und eventuell für das letzte heruntergesetzte Exemplar eines Hemds in seiner Größe tötet? Leider nein. Ausgerechnet Veigls Jubiläumsepisode erweist sich als einer der bisher zähesten der Reihe. Veigl informiert die Mutter des Opfers (Ida Ehre, „Die toten Augen von London“) und besucht Rothermund bei ihm zu Hause, der zunächst einmal der Hauptverdächtige ist. Doch anstatt dramaturgisch etwas zu wagen, bleibt man nahezu unterbrechungs- und auflockerungslos bei diesen Frage-und-Antwort-Spielchen mit etlichen Figuren im immer gleichen Tempo, bis Veigl herausfindet, dass Petra, die 18-jährige Tochter (Mijou Kovacs, „Aufforderung zum Tanz“) Eva-Maria Wagners (Kyra Mladeck, „Bauern, Bonzen und Bomben“), wiederum eine ehemalige Arbeitskollegin Sprängers, verschwunden ist.

Petras Bruder ist niemand Geringerer als Werner Schulze-Erdel („Zeit der Bewährung“) und Ruck Zuck wird der Fall zum Familienduell. Denn der Tote hatte etwas mit Petra, Werner, Entschuldigung, Uwe möchte aus dem Leben treten, und, besonders pikant: Spränger hatte zuvor etwas mit Petras Mutter. Veigl macht Petra ausfindig, ein ausgesprochen attraktives Madl und damit ein kurzer Lichtblick. Es ist mir ein Rätsel, wie man einen sich zu einem zunächst einmal nicht uninteressanten Familiendrama amouröser und libidinöser Ausrichtung entwickelnden Fall, der eigentlich in einen Mutter-Tochter-Konflikt kulminieren und die Verantwortungsfrage des Mannes in derartigen Konstellationen diskutieren müsste, stoisch weiterhin derart bieder inszenieren kann, dass einem nach diesem kurzen Aufmerken gleich wieder die Äuglein zuzufallen drohen.

„Schlußverkauf“ ist leider ein dröger Laber-„Tatort“, beinahe bar jeglicher Schauwerte, Spannung oder irgendeiner Form von Relevanz, der einem zudem nach der Hälfte plötzlich mit einem irritierend fröhlichen Soundtrack in den Ohren liegt. Ein weiteres Negativbeispiel innerhalb des Veigl-Zweigs der Serie, das beweist, wie durchwachsen dieser war.
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Vier im roten Kreis

„Es gibt keine Unschuldigen. Die Menschen sind Verbrecher.“

Der leider bereits vorletzte Film des zu früh verstorbenen französischen Ausnahmeregisseurs Jean-Pierre Melville („Armee im Schatten“) wurde der Gangster-Thriller „Vier im roten Kreis“ aus dem Jahre 1970, ein in über zwei Stunden Laufzeit eigenwillig montierter Film mit unbedingtem Stilwillen, der sich als prägend für die weitere Entwicklung des Genres erweisen sollte.

„Nichts vermag die natürliche Veranlagung eines Menschen zu ändern!“

Einbrecher Corey (Alain Delon, „Nackt unter Leder“) hat seine fünfjährige Haftstrafe verbüßt, kurz vor seiner Entlassung aus dem Marseiller Gefängnis jedoch von einem Wärter den Hinweis auf einen lukrativen Coup erhalten: Er, der Wärter, wisse, wie das nahezu perfekte Sicherheitssystem eines Pariser Nobeljuweliers zu umgehen sei. Flüchtig ist hingegen Vogel (Gian Maria Volonté, „Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger“), der während einer Nachtzugfahrt von Marseille nach Paris seinem Bewacher Kommissar Mattei (Bourvil, „Das Superhirn“) entkommen ist. Er versteckt sich ausgerechnet im Kofferraum des Autos Coreys, der ihn bald bemerkt, bei einer Polizeikontrolle aber nicht verpfeift. Gemeinsam plant man den Bruch beim besagten Juwelier, wofür man den alkoholkranken Scharfschützen Jansen (Yves Montand, „Lohn der Angst“), einen ehemaligen Bullen, anheuert. Es gilt jedoch, sowohl vor ehemaligen Komplizen Coreys auf der Hut zu sein, die noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen haben, als auch den sich ihnen an die Fersen heftenden Kommissar Mattei abzuschütteln…

„Alle Menschen, Monsieur Mattei.“

Melville beginnt seinen Film mit einem vermeintlichen Zitat Rama Krischnas in Texttafelform, das Melville, so sagt man, sich selbst ausgedacht habe, Es dauert eine Weile, bis das erste Wort gesprochen wird, die Figuren werden auch im weiteren Verlauf eher wortkarg bleiben. Coreys nun offenbar mit einem seiner ehemaligen Komplizen liierte Ex-Freundin zeigt sich nackt, spielt in dieser über sie hinaus auf jegliche Weiblichkeit verzichtenden, betont unterkühlt durchchoreographierten Gangsterballade aber ansonsten keinerlei Rolle. Corey ist die personifizierte Coolheit, Vogel steigt mit angezündeter Zigarette in dessen Kofferraum. Jansen hilft der Scharfschützenjob, endlich einmal seine Trunksucht zu vergessen, und die sich noch im Dienst befindende Polizei ist wenig besser als das Verbrecher-Trio, muss es doch zu harschen und ungesetzlichen Methoden greifen, um auf dessen Spur zu kommen. Dieses geriert sich als Edel-Gangster, ist stets gut gekleidet, bei scharfem Verstand und überlebenswichtigem Instinkt.

Der Coup wird schließlich in Echtzeit durchgeführt und in allen Details gezeigt; aufgrund der Kleidung der Ganoven und der Stille hat er etwas Pantomimisches an sich. Melville entschied sich für ein sehr langsames Erzähltempo und verfolgt einen äußerst behutsamen Spannungsaufbau, der Film ist somit nichts für ein einen actionreichen No-Brainer erwartendes Publikum. Ihn als Heist Movie mit zu langer Exposition zu bezeichnen, würde ihm jedoch nicht gerecht. Melvilles Stil ist Teil seiner Substanz, nicht zuletzt erinnert „Vier im roten Kreis“ atmosphärisch an hochklassige Vertreter des Italo-Westerns. Die maskuline Schicksalsgemeinschaft aus Antihelden im stets ungemütlich grauen Wetter einer kalten Welt ist auch dem Film noir entlehnt, Kleidung und Fuhrpark – ausschließlich US-Vehikel – wirken wie direkt dem klassischen amerikanischen Gangsterkino entnommen. Und seine verhandelten Motive wie Loyalität und Verrat, Ehre und Niedertracht, Gemeinschaft und Einsamkeit, Hoffnung und Fatalismus bis hin zu Leben und Tod von ihrem vorbestimmten Schicksal wie in einem sich immer enger ziehenden Kreis nicht entkommen könnenden Figuren sind jene epischer Tragödien.

Verschiedene bizarre Tanznummern aus Santis Bar ziehen sich durch den Film, der mit einigen mehr oder weniger versteckten, sehr schönen Details die Aufmerksamkeit seines Publikums herausfordert bzw. belohnt und mit einer visualisierten Alptraumszene von auf ein Bett zukriechendem Viehzeug verstörend überrascht. Überraschend ist es dann auch, wie schnell Melville das Ende abfrühstückt, insbesondere nach der so langsamen – aber nie langatmigen – Inszenierung und Narration bis zu diesem Punkt. Melville zog mich bei der Erstsichtung derart mit in seinen Kreis hinein, dass mir die Anschlussfehler in Bezug auf den Verschmutzungsgrad von Kleidung und Kraftfahrzeugen, die es wohl geben soll, gar nicht auffielen.

Sollte man als Freund oder Freundin europäischen Genrekinos der alten Schule gesehen haben.
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Chatterbox

„Das nennst du bumsen?!“

US-Regisseur Tom DeSimone („Hell Night”), der seine Karriere auf Schwulenpornos aufbaute, später ins Genrefilmerfach und schließlich zum Fernsehen wechselte, drehte die im Jahre 1977 veröffentlichte Erotikkomödie „Chatterbox“ um eine sprechende Vagina. Die Filmidee beanspruchte er für sich, obwohl bereits zwei Jahre zuvor der französische Pornofilm „Pussy Talk“ erschienen war, der hierzulande sogar in einer Softcore-Fassung im Kino lief.

„Was du da von dir gibst, befremdet mich irgendwie...“

Penelope (Candice Rialson, „In Hollywood ist der Teufel los“) und Ted (Perry Bullington, „Zeit der Sehnsucht“) sind ein eigentlich glückliches junges Paar, das gern Sex miteinander hat. Eines Tages jedoch meldet sich nach dem Beischlaf urplötzlich Penelopes Vagina zu Wort und lässt kein gutes Haar an Teds Fähigkeiten als Liebhaber. Bedröppelt sucht dieser das Weite. Fortan denkt Penelopes Muschi, die Virginia getauft wird, gar nicht mehr daran, die Klappe zu halten, und bringt Penelope in allerlei unangenehme Situationen. Ferner entdeckt Virginia ihr Gesangstalent, was Penelope, Spitzname: Penny, endgültig zu Psychiater Dr. Pearl (Larry Gelman, „...die keine Gnade kennen“) treibt. Dieser wittert ob dieser anatomischen – und künstlerischen – Kuriosität das große Geschäft und verdingt sich fortan als Manager der, äh, beiden, um sie groß rauszubringen. Tatsächlich tritt Virginia vor ausverkauftem Haus als Sängerin auf und geht auf große Tournee, doch Pennys Privatleben leidet darunter…

„Sie hat eine wundervolle Stimme!“

DeSimones Low-Budget-Komödie lässt sich guten Gewissens dem Bereich des freiwilligen, campy Trashs zuordnen und entspringt weniger dem Erotik- und Softsex-Genre mit seinen nach der sexuellen Revolution trotz aller nackter Haut seltsam verklemmt oder patriarchalisch-sexistisch anmutenden Rödelklamotten, sondern – ob DeSimone nun „Pussy Talk“ kannte oder nicht – den kreativen, originellen bis experimentellen Vertretern des Golden Age of Porn. Slapstick trifft hier auf Situationskomik und Erotik, wenn die sexy und zeigefreudige, im ultraknappen Kleidchen als Friseurin arbeitende Penny zur Nutznießerin des Umstands wird, dass Virginia ein Schäferstündchen mit der lesbischen Kundin Marlene (Arlene Martel, „Zoltan – Draculas Bluthund“) arrangiert. Nachdem sie Dr. Pearl konsultiert hat, wird sie auf einem Ärztekongress vorgeführt, wo sie mit einer Band singt – Virginia, wohlgemerkt. Virginias Bestechungsversuch eines Polizisten, nachdem Penny falsch geparkt hat, führt jedoch direkt ins Gefängnis – glücklicherweise zahlt Ted ihre Kaution.

Virginia treibt Penny fortan penetrant zur Sexualpartnersuche. Als Pennys Mutter von der Tournee erfährt, ist sie zunächst empört – als sie erfährt, vom Ruhm ihrer Tochter partizipieren zu können, sieht sie das aber plötzlich ganz anders…Pennys Versuch, wieder mit Ted zusammenkommen, scheitert, woraufhin sie an der „Herzblatt“-US-Variante teilnimmt bzw. -nehmen. Mit - nomen est omen - Dick (Michael Taylor, „Die Klapperschlange“), dem Gewinner, geht Penny tanzen, was DeSimone zum Anlass für eine recht ausgedehnte Füllszene in Form fröhlicher Bewegungen zur Musik nimmt (wodurch „Chatterbox“ sogar ein bisschen was einem Musikfilm bekommt). Sie lässt sich zu ihm nach Hause mitnehmen, wo ein kitschiges Liebesnest auf ihn und seine Eroberung wartet. Obwohl er auf Rollenspiele steht, erleben Penny und Virginia eine wunderschöne Nacht. Doch Dick war nur an einem One Night Stand interessiert, seine nächste Bettgespielin wartet schon.

Dafür sind Penny und Virginia im Verbund aber ein echter Superstar, der sogar zum Film geht und in einem albernen Musicalfilm mitspielt. Dort jedoch erträgt Penny ihre Situation nicht mehr, verschwindet vom Set, fährt an eine Klippe und will sich herunterstürzen – bis sie Ted dort ebenfalls stehen sieht, dessen Penis ein Duett mit Virginia zu singen beginnt…

Seeing oder vielmehr hearing ist hier Believing, denn Pennys schambelipptes, aber wenig schamvolles Plappermuschimäulchen bekommt man nie zu Gesicht, dafür aber die attraktive Penny häufig oben ohne. Dass sich die Kameraarbeit indes ganz generell sehen lassen kann, liegt an Tak Fujimoto, der später großes, ernstes Hollywood-Kino wie „Das Schweigen der Lämmer“ oder „Philadelphia“ auf Film bannte. Tatsächlich entpuppt sich diese höchst eigenartige Handlung mit ihren witzigen Dialogen und ihrem frechen Humor als schlüpfrige und kurzweilige, weil mit rund 70 Minuten Laufzeit nicht überstrapazierte Parodie auf Triebhaftigkeit und Satire aufs Showgeschäft. Sommerlich und unbeschwert werden ein Konflikt Liebe versus Libido karikiert, die Verwertungsmechanismen des Showbiz persifliert und ein für derartige Späße zu habendes Publikum amüsiert. Humoristisch sicherlich nicht der ganz große Wurf, aber eine sympathische Wohltat zwischen den ganzen halbgaren bis gänzlich abtörnenden Fummelfilmchen der 1970er.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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buxtebrawler
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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Beitrag von buxtebrawler »

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Wilde Erdbeeren

„Also: Gibt es Gott?“

Im selben Jahr wie sein Mystery-Drama „Das siebente Siegel“, also 1957, erschien das Roadmovie-Drama „Wilde Erdbeeren“ des schwedischen Filmemachers Ingmar Bergman – ein von der Kritik gefeierter Film, der hierzulande einen Goldenen Bären gewann und bis heute als unumstößlicher Klassiker gilt. Die Hauptrolle bekleidet der ehemalige Stummfilmregisseur Victor Sjöström.

„Rücksichtnahme ist nichts als Grausamkeit, die man nicht gewollt hat!“

Der 78-jährige Medizinprofessor im Ruhestand Isak Borg (Victor Sjöström, „An die Freude“) gilt als Koryphäe auf seinem Gebiet. Seine Lunder Universität möchte ihm anlässlich des 50. Jubiläums seiner Promotion eine besondere Ehre zuteilwerden lassen. Ausgerechnet in der Nacht vor den Feierlichkeiten erleidet er jedoch einen verstörenden Alptraum. Zusammen mit seiner Schwiegertochter in spe Marianne (Ingrid Thulin, „Das Schweigen“) macht er sich mit dem Auto von Stockholm aus auf die Reise nach Lund, obwohl beide nicht das beste Verhältnis zueinander haben. Je länger die Fahrt andauert, desto mehr wird sie zu einer Reise durch die verschiedenen Stationen Isaks Lebens, zu einer Reflektion dessen, was er erreicht hat – und was dabei auf der Strecke blieb…

„Obwohl du so viel weißt, weißt du nichts.“

Isak stellt sich als Sprecher aus dem Off vor und ist zugleich die Hauptfigur dieses Films, der mit einer gruselig, surreal visualisierten Alptraumsequenz recht harsch einsteigt, um sie mittels schwedischer Naturidylle zu kontrastieren. In dieselbe Kerbe schlagen die ebenfalls visualisierten Erinnerungen Isaks an seine Jugend, die einem Heimatfilm entsprungen scheinen: Eine unschuldige, naive heile Welt. Zum Ensemble gesellen sich stets synchron sprechende Zwillinge (Lena Bergman, „Das siebente Siegel“ und Monica Ehrling), eine grotesk überzeichnete Tischgesellschaft und drei Anhalter(innen) hinzu, bevor man in einen Autounfall verwickelt wird. Gezwungenermaßen muss die Reise eine Weile zusammen mit Unfallverursachern, dem Ehepaar Alman (Gunnel Broström, „Salka Valka“ und Gunnar Sjöberg, „Ratata“), fortgesetzt werden.

„Dieses Leben ekelt mich an.“

Während Isak nach und nach verschiedene Stationen seines Lebens – u.a. seine Mutter (Naima Wifstrand, „Das Lächeln einer Sommernacht“) – abklappert, geht man lecker essen und philosophieren. Dann und wann werden weitere Träume Isaks visualisiert; so beobachtet er im Traum das Liebesglück seiner Jugendfreundin Sara (Bibi Andersson, „Verlorene Liebe“) durchs Fenster. Der zuvor bisweilen komödiantisch wirkende Film wird zunehmend melancholisch, dann schwermütig und düster. Plötzlich sieht sich Isak inmitten einer Uni-Vorlesung sitzen und dort den Anklagen Herrn Almans sowie einer Examensprüfung, die er nicht besteht, ausgesetzt. Letzter nimmt ihn auch mit, um Isaks verstorbene Frau (Gertrud Fridh, „Insel der Sehnsucht“) zu beobachten, wie sie ihn einst im Walde betrog und sich über seine Gefühlskälte ausließ. Zwischen Isaks Sohn Evald (Gunnar Björnstrand, „Frauenträume“) und Marianne kriselt es. Nachdem er seine Ehrung entgegengenommen und sich irgendwie alles zum Guten bewendet hat, träumt sich Isak wieder in seine Kindheit zurück.

Tja, da geht dem Isak, der anlässlich seiner Ehrung ahnt, nicht mehr allzu lange zu leben zu haben, ganz schön die Muffe, zu viel falschgemacht zu haben, als er sein Leben zu bilanzieren gezwungen sieht. Mit einem Bildungsbürger, der selten echte Probleme hatte, als Hauptrolle mutet „Wilde Erdbeeren“ zwar kaum wie ein wirklich großes Drama an, wurde von der bildungsbürgerlichen Kritik aber – wen wundert’s? – als solches aufgefasst. Die Botschaft des Films lautet in etwa, man solle nicht nur arbeiten oder sich in seine Interessensnischen vertiefen, sondern auch an seine Mitmenschen, insbesondere die Liebsten, denken, bevor einen so etwas irgendwann einholt und es einem leidtut. Und man soll – verdammt noch mal! – als Rentner auch mal ein bisschen lockerer durch die Hose atmen.

Alles richtig, und tatsächlich ist es häufig gar nicht so einfach, die richtige Balance in seinem Leben zu finden. Mit seinen schönen Schwarzweißbildern und der melancholischen Stimmung weiß „Wilde Erdbeeren“ dann auch zu gefallen – so richtig ans Herz gehen mir persönlich dann aber eher andere Filme. Am faszinierendsten finde ich nicht den Film an sich, sondern dass sich Bergman bereits mit Ende 30 eines solchen Themas annahm – was sich ein Stück weit aus seiner Biografie erklärt.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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