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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Do 10. Aug 2023, 17:57
von buxtebrawler
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Blade Runner

„Haben sie je aus Versehen einen Menschen in den Ruhestand versetzt?“

Das Kinojahr 1982 war ein gutes für das Science-Fiction-Genre, ob nun familientauglich mit „E.T.“, alles andere als das mit John Carpenters „Das Ding aus einer anderen Welt“, vor allem aber mit Ridley Scotts („Alien“) Verfilmung des Philip-K.-Dick-Romans „Träumen Androiden von elektrischen Schafen?“. Die Rede ist natürlich von „Blade Runner“, der in seiner ursprünglichen Fassung zwar an den Kinokassen floppte, seitdem aber beständig eine immer größere Fan-Gemeinde um sich scharte und heute als einer der bedeutendsten Science-Fiction-Filme der Kinogeschichte gilt und gewissermaßen den Future noir erfand.

„Profit ist das, was unser Handeln bestimmt.“

Im Jahre 2019 ist Los Angeles zu einem überbevölkerten Moloch verkommen und zu einem Teil einer Welt, in der von der Tyrell Corporation hergestellte künstliche Menschen, sog. Replikanten, fremde Welten auf anderen Planeten erschließen sollen. Von echten Menschen sind sie kaum zu unterscheiden, haben jedoch lediglich eine Lebensdauer von vier Jahren. Als einige von ihnen ein Raumschiff kapern und sich damit auf die Erde absetzen, wird Rick Deckard (Harrison Ford, „Krieg der Sterne“), ein ehemaliger, „Blade Runner“ genannter Replikanten-Jäger, reaktiviert, um die revoltierende Gruppe auszuschalten…

„Ich will mehr Leben, Vater!“

Was sich zunächst wie ein actiongeladener Science-Fiction-Reißer liest, in dem Harrison Ford seine Erfahrungen aus den „Star Wars“- und „Indiana Jones“-Filmen einbringen kann (was vermutlich ein Großteil des Kino-Publikums erwartet hatte), gerät zu etwas gänzlich anderem: Zu einer nachdenklichen, philosophischen Abhandlung über existenzielle Fragen, eingebettet in eine Neo-noir-Dystopie, in der Ford als moderner Detektiv und Nicht- bis Anti-Held an eine Femme fatale in Form einer Replikantin gerät. Nach einem erläuternden Scrolltext entwerfen Ridley Scott und sein Team eine durchästhetisierte und -komponierte, opulente Bilderwelt, die die Cyberpunk-Literatur prägen sollte und Los Angeles als Mischung aus eine Art übergroßem Chinatown und lebensfeindlichem Slum darstellt, in dem es ständig regnet, qualmt und dampft und aggressive Leuchtreklamen (echter Marken, am prominentesten Cola-Cola) die smogbedingte Dunkelheit zerreißen, dabei den Blick auf verfallende Gebäude und Unrat freigeben. Neon-Ästhetik, Low-Key- und indirekte Beleuchtungen hieven den Neo-noir-Look auf ein neues Level. Ins Innere von Räumlichkeiten dringende Farben werden noir-typisch häufig von Gitterformen gebrochen und erzeugen dadurch harte Schatten. In den detailreichen Kulissen finden sich Artefakte unterschiedlichster Epochen, welche sich postmodern durch den Film ziehen. Eine Szene mit einem asiatischen Augenhersteller erinnert an Steampunk, die Bar im vierten Sektor versprüht 1920er-Jahre-Flair. Punks gibt es ebenso noch wie Hare-Krishnas, eine Schlangenlady bringt etwas Erotik ein. Da passt es dann auch, wenn manch Technikgerät aus heutiger Warte en wenig retrofuturistisch erscheint.

„All diese Momente werden verloren sein, so wie Tränen im Regen...“

In der Architektur finden sich sanierungsbedürftige Altbauten neben modernen Neubauten, teilweise gehen sie Symbiosen miteinander ein. Auch die Hierarchien spiegeln sich hierin wider: Die Reichen und Mächtigen haben ihre phallischen Wolkenkratzer, in denen sie überm Fußvolk thronen. In diesem Ambiente gilt es, abtrünnige Replikanten ausfindig zu machen und zu eliminieren, wobei längst nicht jeder Replikant weiß, dass er einer ist: ihnen werden künstliche Erinnerungen eingepflanzt, die sie für ihre eigenen halten. Die Handlung eröffnet mit einem missglückten Empathie-Test an einem Replikant. Ja, „Blade Runner“ verfügt durchaus über etwas Action, setzt sich aber überwiegend aus ruhigen, langen Einstellungen zusammen, die nichts für Freundinnen und Freunde rasant geschnittener Sci-Fi-Action sind. Man muss sich fallen- und auf den Film einlassen können. Belohnt wird das mit einer Geschichte, in der sich der Jäger der verlorenen Replikantin in Replikantin Rachael (Sean Young, „Ich glaub’ mich knutscht ein Elch!“) verliebt und er ihr klarmachen muss, dass sie eine ist. Als sie dies traurig macht, empfindet er Mitleid. Haben diese Roboter also Gefühle? Sie sind jedenfalls keine archaischen Kampfroboter, sondern nahezu perfekte Imitationen denkender und fühlender Wesen mit individuellen Charaktereigenschaften, was die Sache kompliziert macht.

Die rebellierende Schöpfung, hier vornehmlich von den Replikanten Roy Batty (Rutger Hauer, „Das Amulett des Todes“) und Pris (Daryl Hannah, „Teufelskreis Alpha“) verkörpert, will ihrem Schöpfer Dr. Eldon Tyrell (Joe Turke, „Shining“l) gegenübertreten und kämpft um ein besseres und vor allem längeres Leben, wofür sie jedoch über Leichen geht. Die Szenen zwischen Genetik-Designer J. F. Sebastian (William Sanderson, „Ausbruch zur Hölle“) und Pris haben etwas Comichaftes, ohne dabei die düstere Stimmung zu brechen. Ist der Umgang der Menschen mit den Replikanten gerecht? Sicher nicht. Sind die Replikanten Menschen? Nein. Sind sie menschlicher als Menschen? Das ist eine der Fragen, die „Blade Runner“ aufwirft, woran die Frage danach, was Menschsein eigentlich ausmacht, anknüpft. Empathiefähigkeit, persönliche Erinnerungen und das Wissen die eigene Sterblichkeit werden in den Raum geworfen und das Sehvermögen des menschlichen Auges zieht sich beinahe wie ein Meta-Kommentar als Motiv durch den Film. Fragen nach verantwortungsvollem Umgang mit technischem Fortschritt und Macht, die in Ohnmacht umschlagen kann, werden ebenso diskutiert. Das macht „Blade Runner“ zeitlos und zugleich hochaktuell.

Dabei kommt „Blade Runner“ keinesfalls allzu verkopft oder gar inszenatorisch zurückgenommen daher, sondern arbeitet sowohl mit dramatisierenden Zeitlupen als auch mit melodramatischen Momenten und einem futuristisch pompösen Synthesizer-Soundtrack Vangelis‘, der seine volle Wirkung aus der Kontrastierung mit melancholischen, sentimentalen Klängen entfaltet und entschieden zur Atmosphäre des Films beiträgt. Wie das Ende eine entscheidende Frage offenlässt, ist kongenial und lädt ebenso wie der Detailreichtum der Ausstattung dazu ein, ihn wiederholt anzusehen, und bietet nicht zuletzt hervorragende Anknüpfmöglichkeiten für eine Fortsetzung (die jedoch bis ins Jahr 2017 auf sich warten ließ).

Der nicht zuletzt hervorragend, mit Mut zu leisen und Zwischentönen genau wie zu Überzeichnungen geschauspielerte „Blade Runner“ verhalf Science-Fiction-Autor Philip K. Dick zu großer posthumer Popularität, wurde nach dem wenig erfolgreichen Kinostart zu einem Renner auf dem Videomarkt und avancierte erst zum Kultfilm mit enormem pop- und subkulturellen Einfluss und schließlich zum gemeinhin anerkannten cineastischen Meilenstein. Die ursprüngliche Fassung mit einem Voice-over-Erzähler und einem erzwungenen Happy End gilt dabei als wesentlich weniger gelungen als die späteren, von Scott abgesegneten Fassungen (Director’s Cut und Final Cut). Diese gelten als anspruchsvoller und düsterer als die Kinofassung und weisen das erwähnte offene Ende auf, dessen Fragestellung offenbar in der (von mir nie gesehenen) Kinofassung fehlte.

Abschließend möchte ich einen besonders schönen Satz des filmstart.de-Rezensenten Ulrich Behrens zitieren, der den Filminhalt und den Hauptgrund, weshalb er sich derart traurig und fatalistisch anfühlt, perfekt auf den Punkt bringt: „Die Replikanten erscheinen […] als künstliche Spiegelung des Menschlichen, das verloren scheint.“

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Fr 11. Aug 2023, 15:54
von buxtebrawler
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Belle de jour – Schöne des Tages

„Was soll ich mit einer Zärtlichkeit?“

Zwischen „Simon und die Wüste“ und „Die Milchstraße“ inszenierte der spanische Surrealismus-Pionier Luis Buñuel das in französisch-Italienischer Koproduktion entstandene Erotikdrama „Belle de jour – Schöne des Tages“, dessen Drehbuch er zusammen mit Jean-Claude Carrière verfasst hatte. Der auf dem gleichnamigen Roman Joseph Kessels aus dem Jahre 1928 (!) basierende Film wurde 1967 veröffentlicht und gilt als angesehenes Spätwerk Buñuels.

„Er ist pervers!“ – „Schlimmer als das...“

Seit einem Jahr ist Sévérine (Catherine Deneuve, „Ekel“) mit dem Chirurgen Pierre (Jean Sorel, „Sandra“) verheiratet, doch im Bett tut sich nichts, im Gegenteil: Sie schlafen sogar voneinander getrennt. Der Grund dafür sind Sévérines unerfüllte Neigungen, über die sie mit ihrem von ihr als zwar treu, zuverlässig und finanziell solide aufgestellt, aber eben auch langweilig empfundenen Mann jedoch auch nicht zu sprechen gedenkt. Stattdessen flüchtet sie sich immer wieder in entsprechende Tagträume, bis sie tagsüber in Madame Anais‘ Bordell unter falschem Namen als Prostituierte anfängt, wovon ihr Mann nichts ahnt – zumal sie auch stets rechtzeitig wieder zu Hause ist…

„Ich glaube, dir muss man erst mit dem Stock zureden, hm?“

Der ach so biedere Pierre lässt seine Frau am helllichten Tag unter freiem Himmel auspeitschen. Tatsächlich? Nein, es handelt sich lediglich um einen visualisierten Wunschtraum Sévérines. Dieses Spiel mit Traum/Fantasie und Realität ist das Hauptmarkenzeichen dieses Films, der seinem Publikum die Unterscheidung absichtlich erschwert, indem er beide Ebenen nicht deutlich voneinander abgrenzt, sich nur in Sévérines Kopf Abspielendes also nicht entsprechend markiert. Weshalb sich Sévérine in Anbetracht ihrer Neigungen überhaupt in eine solche Zweckehe begibt, wird nicht thematisiert; neben ihrer echten – nur eben nicht körperlichen – Zuneigung dürfte die finanzielle Absicherung durch Einheirat in die Bourgeoisie ihre Motivation gewesen sein. Gegen jene gesellschaftliche Schicht teilt Buñuel erwartungsgemäß wieder einige Seitenhiebe aus.

Vorsichtig tastet sich Sévérine an ihren neuen Beruf heran, kann sich aber schon bald in der Anonymität des Bordells, einer Art Parallelwelt, entfalten und ihre devoten Neigungen ausleben – auch wenn bereits ihr zweiter Freier eine Domina sucht. Ein japanischer Freier (Iska Khan, „Eddie krault nur kesse Katzen“) bringt ihr eine Art MacGuffin, über den Buñuel einen in einem unnötigen Anfall von Selbstzensur völlig im Unklaren lässt. Ärger bahnt sich jedoch an, als einer ihrer Freier, der Ganove Marcel (Pierre Clémenti, „Der Leopard“), sich in sie verliebt und zugleich ihre Anonymität gefährdet wird, als sie ein Bekannter (Michel Piccoli, „Das Mädchen und der Kommissar“) ihres Manns im Bordell entdeckt. Buñuel und Carrière lösen all diese Probleme durch einen überkonstruierten Handlungsverlauf, der u.a. Pierre in den Rollstuhl – hier sinnbildlich für „entmannt“ – bringen und Sévérine aus allen Verquickungen als Siegerin oder zumindest glückliche Nutznießerin hervorgehen lassen wird, gefolgt von einem Filmende, mit dem man offenbar noch etwas Verwirrung stiften wollte, von dem Buñuel aber wahrscheinlich selbst nicht wusste, was es bedeuten soll.

Catherine Deneuve sieht man in Reizwäsche, allerdings nur einmal von hinten gänzlich unbekleidet. Die Erotik in „Belle de Jour“ ist dezenter Natur, wobei die Kamera Sévérine gern voyeuristisch abtastet. Für das Jahr 1967, also kurz vor der sich auch im Kino überdeutlich bemerkbar machenden (und ausgenutzten) sexuellen Revolution, war das gewagt, wenngleich eine expressivere, die neuen Möglichkeiten der Freizügigkeit nutzenden Herangehensweise den Film womöglich ansprechender gemacht hätte – auf diese Weise jedenfalls wirkt er als Plädoyer gegen Verklemmtheit mitunter selbst noch ein bisschen verschüchtert. Dafür recherchierte man im Vorfeld offenbar gut und schuf mit diesem Film eine Art Portrait weiblichen Masochismus anhand eines exemplarischen Beispiel. Möglicherweise war eine, wie im Film angedeutet, Missbrauchserfahrung im Kindesalter damals wissenschaftlicher Stand bei der Erforschung der Ursachenfrage; wenn nicht, hätte man sich diese Szene besser geklemmt. Und das Plädoyer für Prostitution als tolle Möglichkeit für Frauen, zu ihrer sexuellen Identität zu finden, ist mindestens fragwürdig, scheint eher einer Männerfantasie entsprungen. Apropos: Visualisierte Fantasien und zusammenhanglos bis deutungsoffen erscheinende Szenen machen aus „Belle de Jour“ nicht gleich zu einer bewusstseinserweiternden surrealistischen Erfahrung.

Der Film zeichnet ein bigottes gesellschaftliches Umfeld, in dem es verständlich erscheint, dass Sévérine ihre Neigungen nicht offen auslebt, aber auch Sévérine als berechnende Frau, die offenbar ihr gemachtes Nest an der Seite ihres Mannes nicht verlieren will. Viel mehr erfährt man über sie leider nicht; Deneuve spielt eine weitestgehend eigenschaftslose An- und Ausziehpuppe in ständig wechselnden Kostümen, einen visuell hochstilisierten Spielball des Modeschöpfers Yves Saint Laurent. Eine weitergehende Charakterstudie wäre interessanter gewesen, hätte „Belle de Jour“ aber vermutlich auch viel seiner entrückten, nicht wirklich greifbaren Stimmung beraubt. In dieser finden sich surreale Spuren und Abstraktionen, die man wohl mögen muss, um den Film vollumfänglich genießen zu können.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Di 15. Aug 2023, 15:22
von buxtebrawler
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Goldrausch

Auf der Suche nach Inspiration für einen neuen Film nach „Die Nächte einer schönen Frau“ verfiel Multitalent Charlie Chaplin der Faszination für den Goldrausch gegen Ende des vorherigen Jahrhunderts, der etliche Glücksritter auf der Suche nach Reichtum und einer besseren Zukunft ins eisige Alaska getrieben hatte, um nach dem Edelmetall zu schürfen. Ein gefährliches Unterfangen, das viele aufgeben mussten oder gar mit ihrem Leben bezahlten. Auch die sogenannte Donner-Tragödie hatte es Chaplin angetan: Eine Gruppe Siedler unter der Führung George Donners war in der Sierra Nevada vom Schnee verschüttet worden, woraufhin die Männer erst ihre Schuhe und sich schließlich gegenseitig aufaßen. Dies verarbeitet Chaplin in Ansätzen in seiner Tragikomödie, die von ihm produziert, geschrieben und inszeniert wurde, deren Hauptrolle – einmal mehr der namenlose Tramp – er übernahm und die im Jahre 1925 als Schwarzweiß-Stummfilm veröffentlicht wurde. 1942 überarbeitete Chaplin seinen Film, indem er die Zwischentitel entfernte und stattdessen als Sprecher fungierte sowie den Film mit selbstkomponierter Musik unterlegte.

Der kleine, mittellose Tramp in seiner unpassenden Kleidung, mit Spazierstock und Watschelgang, ist einer von vielen, die es Ende des 19. Jahrhunderts nach Alaska auf der Suche nach Gold verschlägt. Als er während eines Schneesturms Schutz in einer Holzhütte sucht, gerät er ausgerechnet an jene, die vom gewalttätigen Verbrecher Black Larsen (Tom Murray, „Der Pilger“) bewohnt wird. Da er es wegen des Sturms nicht mehr aus der Hütte herausschafft, darf er bleiben. Mittlerweile ist auch der nicht minder grobschlächtige, aber gutmütige Big Jim (Mack Swain, „Der Pilger“) dazugestoßen. Als Larsen draußen nach Nahrung sucht, stößt er auf Big Jims Goldmine und lässt die anderen beiden allein. Vor lauter Hunger kocht der Tramp einen seiner Schuhe, den Big Jim und er notgedrungen verspeisen. Dennoch gerät der Tramp in Gefahr, denn in seinem Hunger beginnt Jim zu halluzinieren und ihn für ein Huhn zu halten. Eine Grizzly-Attacke jedoch geht gut für die Männer aus und beschert ihnen frisches Bärenfleisch. Als sich ihre Wege wieder trennen, schlägt Larsen Big Jim nieder, um sich dessen Goldfunds zu ermächtigen. Der Tramp hingegen verguckt sich in einer Goldgräberstadt in die hübsche Georgine (Georgia Hale, „Die Heilsjäger“), um die jedoch auch der angeberische Jack Cameron (Malcolm Waite, „Der Mann aus dem Steckbrief“) wirbt. Es kommt zum Streit zwischen den Männern, den der Tramp jedoch durch eine Verkettung von Zufällen für sich entscheiden kann. Er gelangt an eine neue Hütte, in die er Georgine und ihre Freundinnen am Silvesterabend einlädt, woraufhin er voller Vorfreude schuften geht, um ein festliches Mahl bereiten zu können. Doch Georgina hat ihre Zusage nicht ernst gemeint, spielt ihm einen bösen Streich. Dafür kommt es zu einem Wiedersehen mit Big Jim…

Die etwas episodische Handlung ist dabei weniger wichtig als Chaplins großartiger Slapstick-Humor, den er einmal mehr zur Perfektion bringt. Mehrere Szenen sollten dabei Filmgeschichte schreiben, vom Verspeisen des Schuhs (Chaplin behandelt die Schnürsenkel wie Spaghetti und nagt die Nägel wie Knochen ab) über die mit einem Überblendeffekt realisierte Verwandlung in ein Huhn, den „Brötchentanz“ (entlehnt von Chaplins Kollegen Roscoe Arbuckle sticht er je eine Gabel in zwei Brötchen und imitiert anschließend die Beinbewegungen von Tänzerinnen) bis hin zur fast zur Hälfte über einen Abhang gewehten Hütte, die hin und her wippt, genial inszeniert und u.a. mithilfe von Miniaturbauten gelöst. Dem Humor gleichberechtigt gegenüber stehen indes zwischenmenschliche Verwerfungen sowie Kritik an Materialismus und Egoismus. Dass sich in einem naiven Happy End für den Tramp schließlich alles zum Guten wendet, ist einigen unwahrscheinlichen Zufällen geschuldet, mittels derer die Handlung vorangebracht wird. Dies verhindert jedoch, dass aus der Komödie eine Tragödie wird. Dass der nordamerikanische Goldrausch keine reine Heldengeschichte ist, wird unabhängig davon klar.

So wurde aus dem Kommentar des gebürtigen Briten Chaplin zum US-Tellerwäscher-Mythos ein bedeutender Eintrag in die Filmhistorie, der auch zu einem der persönliche Lieblinge des Perfektionisten Chaplin geriet. Dass auch dieser menschliche Schwächen aufweist, zeigte hingegen seine Affäre und Ehe mit der erst 16-jährigen Lita Grey (der Engel aus Chaplins „Der Vagabund und das Kind“), die eigentlich für die Rolle Georgines vorgesehen war. Sie wurde von Chaplin schwanger und daher durch Georgia Hale ersetzt. Um einen größeren Skandal zu vermeiden, heiratete Chaplin Grey rasch, begann während der Dreharbeiten jedoch eine Affäre mit Hale, woran seine Ehe mit Grey scheitern sollte. Dass ausgerechnet Chaplin, der dem Tonfilm lange Zeit so kritisch gegenüberstand, später eine Tonfassung dieses Films anfertigte, ist eigenartig, weist doch das Ergebnis eben jene Schwächen auf, die Chaplin seinerzeit fürchtete: Tatsächlich lenkt der Sprecher von den pantomimischen Leistungen der Schauspielerinnen und Schauspieler ab und erscheint (zumindest in der deutschen Synchronisation) etwas zu geschwätzig, wenn er Offensichtliches verbalisiert. Dies veranschaulicht wiederum eindrucksvoll die elementaren schauspielerischen Unterschiede zwischen Stumm- und Tonfilm.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Mi 16. Aug 2023, 16:34
von buxtebrawler
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Die Farbe des Geldes

„Ist doch nur 'n Spiel, paar Kugeln und 'n Stock...“

Der von Walter Tevis geschriebene Roman „The Hustler“ wurde im Jahre 1961 von Robert Rossen als das Billard-Drama „Haie der Großstadt“ verfilmt. Als Tevis 1984 eine Fortsetzung seines Romans nachreichte, verfilmte sie der US-amerikanische Ausnahmeregisseur Martin Scorsese („Taxi Driver“) nach Richard Prices Drehbuchadaption. Als besonderer Clou dieser späten Fortsetzung konnte Paul Newman („The Verdict“) gewonnen werden, seine in „Haie der Großstadt“ gespielte Rolle erneut zu bekleiden. An seiner Seite: ein junger Tom Cruise kurz vor seinem Durchbruch mit dem fragwürdigen Militärpropaganda-Vehikel „Top Gun“.

„Das war kein Pool, das war Zirkus!“

Einst war Fast Eddie Felson (Paul Newman) ein mit allen Wassern gewaschener Billard-Profi, mittlerweile verdingt er sich jedoch als Spirituosenhändler und managt nebenbei den Poolbillardier Julian (John Turturro, „Leben und Sterben in L.A.“) in der Bar seiner Freundin Janelle (Helen Shaver, „Amityville Horror“). Dort stößt er eines Tages auf den talentierten Jüngling Vincent Lauria (Tom Cruise, „Die Outsider“), der sich seiner Qualitäten noch gar nicht recht bewusst ist und vor allem keine Ahnung davon hat, wie er sein Talent in bare Münze verwandeln kann. Eddie glaubt, in Vincent sein eigenes jüngeren Ego zu erkennen, und möchte ihn fördern sowie zur Teilnahme an der Billardmeisterschaft in Atlantic City überreden. Gemeinsam mit Vincents Freundin Carmen (Mary Elizabeth Mastrantonio, „Scarface“) tingelt man von Stadt zu Stadt durch die verschiedensten Billardsalons, wo Eddie seinem Zögling beibringt, zunächst Untalent zu bluffen, um seine Gegner schließlich abzuziehen und so hohe Wetteinsätze zu gewinnen. Damit hadert Vincent jedoch, während zugleich Eddie wieder zur Freude am Spiel findet. Nachdem sich die Wege der beiden getrennt haben, steht man sich bei der Meisterschaft in Atlantic City als Gegner wieder gegenüber…

„Die Farbe des Geldes“ ist eine wunderbare Liebeserklärung an den Billard-Kneipensport, die mit vielen verdammt coolen, größtenteils tatsächlich von Newman und Cruise vollzogenen Spielszenen einhergeht, die von Scorseses deutschem Kamera-Chef Michael Ballhaus stilsicher hochästhetisch und faszinierend verewigt werden. Zugleich ist Scorseses Film eine Milieustudie, was den Stoff für ihn interessant gemacht haben dürfte. Durch die Bluffs beim Wetten befindet man sich in einer auch für Gangster interessanten Halbwelt mit ihren eigenen Regeln und Dynamiken. Und mehr noch ist „Die Farbe des Geldes“ eine klassische Geschichte über einen Schüler, der sich gegen seinen Mentor erhebt, um sich schließlich mit ihm auf Augenhöhe zu duellieren. Auf einer andere Ebene wiederum fungiert der ehrfurchterbietend schauspielernde Paul Newman als eine Art Lehrer für den noch jungen Tom Cruise, bevor dieser selbst zum Superstar avancierte.

Scorsese gelingt es, diese Geschichte knapp zwei Stunden lang derart routiniert und unterhaltsam zu erzählen und einem dabei die Figuren mit ihren ganz unterschiedlichen Charakteren nahezubringen, dass selbst Billard-Muffel eine gute Zeit haben dürften. Wer möchte, darf sich über Iggy Pops Gastauftritt freuen oder auch anhand Newmans Rolle über lebenslange Passion, das Älterwerden und das Verhältnis zwischen Alter und Jugend philosophieren. Oder man lehnt sich schlicht zurück und genießt einen für Scorsese-Verhältnisse relativ gefälligen Film, der die Durchschlagskraft seiner Meisterwerke vermissen lässt, vielleicht gerade dadurch aber einfach angenehme Zerstreuung bietet. Die dritte Option, durch diesen Film selbst der Billard-Faszination zu erliegen, dürfte jedoch auch auf nicht unbeträchtliche Teile des Publikums zutreffen…

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Mo 21. Aug 2023, 16:16
von buxtebrawler
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Don't Torture a Duckling

„Der Mörder ist unter uns!“

Auf „A Lizard in a Woman's Skin” folgte im Jahre 1972, also nur ein Jahr später, der nächste Giallo des italienischen Filmemachers Lucio Fulci: Der unter dem Titel „Don't Torture a Duckling“ geläufigste Film fand seinerzeit leider keinen deutschen Verleih, dank der vom deutschen Label „’84 Entertainment“ in Auftrag gegebenen deutschen Synchronisation ist er jedoch seit 2015 endlich auf Deutsch verfügbar. Das Drehbuch verfasste Fulci zusammen mit Gianfranco Clerici und Roberto Gianviti, die beide so einige Italo-Klassiker in der Vita haben, und arbeitete erneut mit der Schauspielerin Florinda Bolkan zusammen.

„Guiseppe ist ein Spanner!“

In einem apulischen Dorf grassiert eine Kindermordserie. Man sucht den Schuldigen und glaubt ihn zunächst im geistig zurückgebliebenen Guiseppe (Vito Passeri, „Die sieben schwarzen Noten“) gefunden zu haben. Als klar wird, dass es sich bei ihm lediglich um einen Trittbrettfahrer handelt, fällt der Verdacht auf die als Hexe verschriene Maciara (Florinda Bolkan, „Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger“) und scheint sich zu bestätigen. In einem Anfall von Selbstjustiz wird sie grausam totgeschlagen. Auch die moderne, attraktive Patrizia (Barbara Bouchet, „Die rote Dame“), die aus der Stadt zugezogen ist und ein besonderes Interesse an Jungen zu haben scheint, hat sich verdächtig gemacht. Mit dieser tut sich der Journalist Martelli (Tomás Milián, „Der Gehetzte der Sierra Madre“) zusammen, um den Täter ausfindig zu machen. Eine Spur führt zum Dorfpfarrer Don Alberto Avallone (Marc Porel, „Tödlicher Hass“) …

„Ein fürchterliches Verbrechen – aus Ignoranz und Aberglaube. Wir bauen Autobahnen, sind aber Meilen entfernt von aufgeklärter Denkweise. Was für eine Schande, wie rückständig die Leute hier sind!“

Fulci inszeniert das Dorf Accedura als einen abgeschiedenen Ort, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Die über eine Brücke führende einfache Zufahrtstraße führt die Menschen und damit moderne Einflüsse eher an Accedura vorbei denn hinein. Wunderschöne, sonnendurchflutete Landschaftsbilder kontrastieren die Vorgänge im Dorf und seine Bewohnerinnen und Bewohner. Die Kinder, die eines nach dem anderen ermordet werden, sind keine unbeschriebenen Blätter, sondern quälen Tiere und rauchen dabei Gaulloises. Guiseppe erfüllt die Funktion des klassischen Dorfdepps, der dennoch glaubt, andere übertölpeln zu können, zwei dicke Prostituierte warten auf Kundschaft und Maciara malträtiert Voodoopuppen. Patrizia, dargestellt von einer gewohnt zeigefreudigen Barbara Bouchet, ist der große Fremdkörper in diesem Dorf; ausgerechnet sie scheint einen Narren an den Jungs gefressen zu haben, sie spielt mit deren in Ansätzen vorhandenen Libidoentwicklung und versucht, sie zu verführen. Frei von moralischer Verwerflichkeit ist hier also kaum niemand. Patrizia bringt dabei das einzige Giallo-typische Glamouröse ein. In jeder Szene trägt sie ein anderes Outfit (oder auch gar keines) und ihre durchgestylte Wohnung wirkt inmitten der kargen, felsigen Dorflandschaft wie Science-Fiction.

Eine kurze Point-of-View-Szene des einen ungewöhnlich geringen Betrag verlangenden vermeintlichen Entführers führt zunächst auf eine falsche Fährte, die rasch aufgedeckt wird. Mehrere weitere Figuren machen sich verdächtig, ein Familiendrama kommt zur Sprache und schließlich wird Maciara gefasst, die ein falsches Geständnis ablegt und einen epileptischen Anfall erleidet. Für den Aufbau dieser Sequenz arbeitet Fulci mit Rückblenden, die schließlich in einen verstörenden Fall von Selbstjustiz münden: Ähnlich grausam wie Jahre später in „Über dem Jenseits“ der Maler Schweick wird Maciara Opfer eines grafisch überaus explizit inszenierten Lynchmords, zu dem von der Tonspur handlungsimmanente Radiomusik dudelt. Urlauber fahren anschließend achtlos an der Sterbenden vorbei. Genretypisch benötigt die Polizei Hilfe von außen, also kommt der Reporter Martelli ins Spiel, der sich mit ungetrübtem, rationalem Blick auf die Geschehnisse durch ein Dickicht aus (Aber-)Glaube, Wahnsinn, Gewalt und Inkompetenz wühlt.

Unterlegt von Riz Ortolanis Musik arbeitet Fulci mit einer prachtvollen Kameraführung, die sich die Zeit für einige beunruhigend langsame Fahrten nehmen darf. Das Finale fällt wahrlich schwindelerregend aus; bei einer Sturzszene muss auch Fulci Abstriche bei den Spezialeffekten machen und sich einer (wie auch später in „The Psychic“) klar als solche erkennbaren Puppe bedienen. Der/die Täter(in) erklärt sich angesichts seines/ihres Todes per Voice-over und die Kinderstimmen, die am Ende das Tal durchdringen, scheinen zu signalisieren: Auch die rückwärtsgewandte Kirche wird die neuen Generationen letztlich nicht aufhalten können. Fulcis vielleicht hochwertigster Giallo ist in seiner gekonnt transportierten unangenehmen Atmosphäre, seinem pessimistischen Weltbild und seinen blutigen Szenen überaus stimmig geraten, bleibt lediglich in der Figurenzeichnung etwas oberflächlich – nämlich zugunsten eines plakativen Wutausbruchs gegen die katholische Kirche und unaufgeklärten dörflichen Aberglauben, der trotz seines (im Rahmen des Films relativ) hoffnungsvollen Endes nihilistische und misanthropische Anleihen enthält.

Der Originaltitel „Non si sevizia un Paperino“ gibt mit „Paperino“ bereits einen Hinweis auf eine im Film Bedeutung erlangende Donald-Duck-Figur, womit „Don’t Torture a Duckling“ eine Parallele zu Fulcis späterem, von einer ähnlich düsteren Sicht auf die Menschheit geprägten „Der New York Ripper“ aufweist. Und mit seinem Drehort existiert offenbar eine Parallele zu Brunello Rondis „Il Demonio“, in dem es ebenfalls eine Dorfgemeinschaft auf eine Hexe abgesehen hat.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Di 29. Aug 2023, 12:42
von buxtebrawler
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Times Square

„Bin ich dabei, verrückt zu werden?“

US-Regisseur Allan Moyles zweiter Film nach „The Rubber Gun“ datiert auf das Jahr 1980 und ist ein wenig populäres Punkdrama um zwei Teenagerinnen, allerdings auch keine obskure Rarität. Zeit, ein wenig für „Times Square“ zu werben:

„Ich glaub' nicht, dass ich älter werd' als 21.“

Die musikalische Ausreißerin Nicky Marotta (Robin Johnson, „Spitz“) und das gedichteschreibende Politikertöchterchen Pamela Pearl (Trini Alvarado, „The Frighteners“) lernen sich in der Neurologie kennen, erkennen ihrer Verschiedenheit zum Trotz Gemeinsamkeiten und tun sich zusammen, um der erdrückenden Erwachsenenwelt zu entkommen und ein Leben in Freiheit ohne auferlegte Zwänge auszuprobieren. Dieses spielt sich auf dem New Yorker Times Square ab, einem berüchtigten und verruchten Amüsierviertel, das die 42nd Street beherbergt und der Politik, insbesondere Pamelas Vater (Peter Coffield, „Washington: Hinter verschlossenen Türen“), schon lange ein Dorn im Auge ist. Während die beiden Mädchen sich in dieser subkulturellen Welt zu behaupten versuchen und von Radiomoderator Johnny LaGuardia (Tim Curry, „The Rocky Horror Picture Show“) entdeckt werden, treibt die Politik die „Säuberung“ des Viertels voran und fürchtet Pamelas Vater um seinen Ruf…

„Dein Vater ist ‘n Spießer!“

Der Times Square kurz vor der Gentrifizierung ist Schauplatz dieser eigenwilligen Mischung aus Milieu-, Subkultur- und Coming-of-Age-Drama und bereits eine Attraktion für sich. Die auf der Straße Gitarre spielende und randalierende Punkerin, die in Gewahrsam genommen und in die neurologische Abteilung des Krankenhauses eingeliefert wird, entpuppt sich als die schön schnoddrig von Robin Johnson gespielte Nicky, die hier die Rolle der Extrovertierten übernimmt, deren pubertätsbedingte Verwirrung in Kombination mit der vielleicht noch schwerer wiegenden Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation in ihrer Musik Ausdruck findet, ja, einfach raus muss. Als sie mit der introvertierteren Pamela in einem gekaperten Krankenwagen durchbrennt, vermutet Pamelas Vater eine Entführung und versucht, Nicki zu kriminalisieren. Pamela blickt zu Nicki auf, die ihr eine neue Welt eröffnet, die sie aus ihrem spießigen Alltag nicht kannte.

„Lass uns in Flammen untergehen!“

Als sie sich auf der Straße irgendwie durchzuschlagen versuchen, beginnt Radiomoderator Johnny LaGuardia mit den Ausreißerinnen zu kommunizieren. Pamela bewirbt sich als Tänzerin in einem Nachtclub, wo sie im irren Fummel wild auftritt und nach anfänglicher Schüchternheit aus sich herauskommt. Nicki probiert sich dort als Sängerin aus. Als sie zusammen einen Song aufnehmen, sendet LaGuardia ihn live. Fortan berichtet er regelmäßig über die „Dreckschwestern“, wie sie sich nennen, und sympathisiert offen mit ihnen, während sie Fernseher von Häuserdächern werfen. Doch Nicki verändert sich. Sie will die Radiostation stürmen und dort mit ihrer Band auftreten. Als LaGuardia die Mädels besucht, dreht sie durch, vertreibt ihn und Pamela gleich mit. Sie sucht die Radiostation auf und randaliert; trotzdem lässt sich LaGuardia darauf ein, ihr Sendezeit zu geben. Sie schrammelt auf ihrer Klampfe und klagt ihr Leid.

Der Film ist nach seinem fröhlich-anarchischen Auftakt zu einem Drama geworden, das darin kulminiert, dass Nicki auf dem titelgebenden Times Square auftreten will (und das damit auf ein ziemlich cooles Ende zusteuert). So vermengt Allan Moyle jugendliche Selbstfindung, Rebellion und Aufbruchsstimmung mit deren Umschlagen in Frust und Aggression sowie mit einer Art Liebeserklärung an die 42nd Street als buntes Amüsierviertel kurz vor dessen leider erfolgreicher „Säuberung“ durch Kapital und Reaktion, die er hier kritisiert. Dabei ist „Times Square“ dramaturgisch sicherlich nicht perfekt und etwas naiv, ähnlich wie hierzulande manch Verklärung der Reeperbahn – nein, Minderjährige sollten weder in der 42nd Street noch auf Hamburgs sündiger Meile als Nachtclubtänzerinnen angestellt werden. Märchenhaft federleicht erscheint es hier auch, als Straßenkind Musik zu komponieren und damit auch noch Erfolg zu haben. Da Moyle damit seine Ermutigung an junge Mädchen untermauert, aus vorgefertigten Rollenklischees auszubrechen und sich selbst zu verwirklichen, ist das aber eher als Bildnis denn als misslungener Realismus zu verstehen.

Das Ensemble ist nicht nur wegen Ausnahmeschauspieler Tim Curry als Radiomoderator gut zusammengestellt worden, mit Johnson und Alvarado fand man zwei spielfreudige Nachwuchstalente. Nicht zuletzt ist die ambivalente Figurenzeichnung gelungen: Hier dürfen alle ihre charakterlichen Stärken und Schwächen haben, auch LaGuardia, der keine eindimensionale Heilsbringerfigur ist. Hörenswert ist auch der Soundtrack, in dem sich einiges an Punk, New Wave und Rock tummelt, von den Talking Heads über Patti Smith, The Ruts, The Ramones, Lou Reed, Roxy Music, Suzi Quatro, The Pretenders, The Cure, XTC und The Cars bis hin zu einer großartigen „You Can’t Hurry Love“-Interpretation D.L. Byrons.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Mi 30. Aug 2023, 11:22
von buxtebrawler
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Das Cabinet des Dr. Caligari

„Ich muss alles wissen…“

Wer verstehen möchte, wie der Horrorfilm entstanden ist, wird früher oder später bei „Das Cabinet des Dr. Caligari“ landen, jenem legendären deutschen Stummfilm aus dem Jahre 1920. Geschrieben von Hans Janowitz und Carl Mayer und von Robert Wiene („Furcht“) inszeniert, der den verhinderten Fritz Lang ablöste, gilt der Film als Initialzündung des Expressionismus auf der Kinoleinwand und als einer der einflussreichsten Filme für die Entwicklung und Ausgestaltung gruseliger, düsterer Genres.

„Ich muss in sein Geheimnis dringen…“

Franzis (Friedrich Fehér, „Du sollst nicht richten“) sitzt auf einer Parkbank und erzählt einem anderen, älteren Mann (Hans Lanser-Ludolff, „Die Spinnen“) eine absonderliche Schauergeschichte: In seiner Heimat Holstenwall habe er zusammen mit seinem Freund Alan (Hans Heinrich von Twardowski, „Unheimliche Geschichten“) den Jahrmarkt besucht, auf dem der geheimnisvolle Dr. Caligari (Werner Krauß, „Opium“) den „Somnambulen“ Cesare (Conrad Veidt, „Der Graf von Cagliostro“) ausgestellt habe. Diesen habe Caligare vor den Augen des Publikums aufwecken können, woraufhin er Alan dessen Todeszeitpunkt vorhergesagt habe: Noch vor Morgengrauen! Tatsächlich wird Alan noch in der Nacht ermordet. Ist Cesare der Täter? Der Mörder hat es auch auf Franzis‘ Freundin Jane (Lil Dagover, „Harakiri“) abgesehen. Als Franzis sich schließlich in der Irrenanstalt nach einem Dr. Caligari erkundigt, muss er zu seinem Entsetzen feststellen, dass jener der Leiter der Einrichtung ist…

„Ich muss Caligari werden!“

Der in der von mir gesehenen Fassung 72 Minuten lange Film ist bis ins Detail expressionistisch durchästhetisiert, die schrägen, verzerrten Kulissen wirken der Realität entrückt und beunruhigend grotesk. Die Zwischentitel sind analog dazu künstlerisch handgelettert, farbige Linsen tauchen die Szenen in verschiedene Farbwelten (was diejenigen überraschen dürfte, die Schwarzweißfilm erwarten). Kreisförmige Blenden fokussieren einzelne Gesichter, blenden die Umwelt aus und sorgen für Zoom-Effekten nicht unähnliche Eindrücke. Aufgeteilt in sechs Akte wird man innerhalb der surreal und doch seltsam vertraut anmutenden Welt in Dr. Caligaris sinistre Machenschaften hineingezogen, wobei diese in Form einer ausgedehnten visualisierten Rückblende erzählt werden und im fünften Akt sogar noch eine weitere Analepse etablieren. Das Schauspiel ist theatralisch und das Ende, das zurück zur Rahmenhandlung führt, nicht nur verstörend, sondern auch eine unerwartete Wendung, wie sie sich seither großer Beliebtheit erfreut und sich bis heute immer wieder in Kino und Film findet.

Ausgerechnet um diesen speziellen Kniff gab es keine Kontroverse, denn er sei von den Autoren so nicht vorgesehen gewesen. „Das Cabinet des Dr. Caligari“ hatte nicht „nur“ als Schauergeschichte funktionieren sollen, sondern war – und auch dies zieht sich bis heute durch den phantastischen Film – von einem starken Subtext untermauert, indem das Verhältnis zwischen Caligari und Cesare dem eines mächtigen Kriegstreibers zu seinem von ihm manipulierten Fußvolk ausdrücken und damit den Untertanengeist der Kaiserzeit kritisieren sollte. Den Autoren, die Regisseur Wiene einen Alleingang unterstellten, und Kritikern zufolge kehrte die finale Pointe diese Aussage um. Mit genügend Abstand betrachtet verhilft gerade jene Wendung dem Film jedoch zu seiner Zeitlosigkeit, verstärkt sie das surreale Erlebnis und erweitert sie das Spektrum angesprochener negativer Emotionen um das paranoide Gefühl der Ausgeliefertheit, bietet also einen echten Mehrwert.

„Das Cabinet des Dr. Caligari“ – die nächste große Genrerevolution brachte erst der Tonfilm.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Fr 22. Sep 2023, 17:11
von buxtebrawler
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Die letzte Versuchung Christi

„Aus Nazareth kann niemals irgendetwas Gutes kommen...“

US-Regisseur Martin Scorsese („Taxi Driver“) hatte mit „Die Farbe des Geldes“ die Fortsetzung eines Billard-Romans zu einem gelungenen, aber für seine Verhältnisse auch wenig aufsehenerregenden Ergebnis verfilmt und im Anschluss mit der Mischung aus Kurzfilm und Michael-Jackson-Videoclip „Bad“ auf John Landis‘ Pfaden wandelnd ein beachtliches Stück Popmusikgeschichte mitgeschrieben. Anschließend stand ihm offenbar wieder der Sinn nach etwas Kontroverserem. So machte er sich mit seinem bewährten Team aus Drehbuchautor Paul Schrader und Kameramann Michael Ballhaus an eine Verfilmung des Romans „Die letzte Versuchung“ aus der Feder des bedeutenden griechischen Schriftstellers Nikos Kazantzakis, der bei der katholischen Kirche bereits derart gut angekommen war, dass sie ihn auf ihren Index verbotener Literatur setzte. Scorseses in Marokko gedrehtes, 164-minütiges Fantasy-Monumental-Kostümdrama-Epos kam 1988 in die Lichtspielhäuser und wurde – natürlich – von einem entsprechenden Aufschrei religiöser Fanatikerinnen und Fanatiker begleitet.

„Warum versuchst du, die Welt zu retten?“

Der Film handelt von einem Generationskonflikt, von einem Sohn, der mit der Rolle hadert, die sein Vater für ihn in der Gesellschaft des ersten Jahrhunderts vorgesehen hat. Der Sohn: Jesus (Willem Dafoe, „Straßen in Flammen“) aus Nazareth. Der Vater: Der allmächtige Gott. Inmitten römischer Herrschaft reift er dennoch zum predigenden Messias heran und scharrt immer mehr Anhänger um sich. Den Römern ist er nicht nur damit zunehmend ein Dorn im Auge…

„Welche Vermessenheit von dir zu glauben, du könntest die Welt retten!“

So weit, so gut. Nur wie soll ausgerechnet ich als Scorsese-Fan, aber (wenn überhaupt) Agnostiker mich diesem Stoff nähern? Der Religionsunterricht bei Frau Timm war zwar eine irgendwie gemütliche Märchenstunde; dennoch habe ich das Fach abgewählt, sobald ich die Möglichkeit dazu hatte. Doch setzt dieser Film gewisse Vorkenntnisse in christlicher Mythologie voraus, der Handlung und Figurenensemble entspringen. Jesus ist neben dem unsichtbaren Gott und dem bösen Teufel die zentrale Figur christlicher Literatur und Religionen. Versuche ich es also zunächst einmal deskriptiv (wobei ich leider massiv spoilern muss): „Die letzte Versuchung Christi“ eröffnet mit einem Lauftext, der ein Zitat aus der Romanvorlage sowie eine kurze Erläuterung, dass es von nun an fiktional zugehen werde, enthält. Die Filmfigur Jesus übernimmt auch den Part des Voice-over-Erzählers und wirkt zunächst wie ein verwirrter Esoteriker, der gern in Bildern und Gleichnissen spricht. Der Fantasy-Anteil kommt in Form einer sprechenden Schlange, die will, dass man ihr auf die Brüste guckt, sowie einem sprechenden Löwen daher. Hierbei könnte es sich um neutestamentarische Überlieferungen teuflischer Verführungsversuche handeln.

„Wir werden ein neues Jerusalem erbauen!“

In zwei Gore-Szenen reißt sich a) Jesus sein Herz heraus und faselt nicht mehr von Liebe, sondern von Krieg, und wird b) eine Ziege ausgeweidet. Jesus entwickelt Allmachtsfantasien; seine Mitmenschen halten ihn für betrunken oder verrückt. Er verleugnet gar seine Eltern und randaliert auf dem Marktplatz. Aggressiv setzt er sich mit Gott gleich und zettelt zusammen mit seiner Bande in einem Tempel Ärger an. Dies muss nun jener Jesus sein, in dessen Rolle einst Klaus Kinski auf der Bühne vor einem irritierten studentischen Publikum schlüpfte. „Ich komme nicht der Welt den Frieden zu bringen, ich bringe das Schwert!“, behauptet Jesus, und die Römer sind irgendwann nicht länger gewillt, tatenlos zuzusehen. Da das Konzept der Resozialisierung damals noch ein Fremdwort, die Sitten zudem rauer und ein Menschen- oder auch Halbgottleben nicht sonderlich viel wert war, ereilt auch Jesus die Todesstrafe durch Kreuzigung. Minutenlangen Zeitlupenbilder zeigen, wie er seinen Balken zu seiner eigenen Hinrichtung schleppt.

„Töten oder lieben ist eigentlich dasselbe.“

Inwieweit das alles durch die Bibel überliefert ist, entzieht sich meiner Kenntnis; ich glaube aber zu wissen, dass ab diesem Punkt allein Kazantzakis‘ geistiges Eigentum den weiteren Handlungsverlauf bestimmt: In der menschlichen Hülle eines kleinen Mädchens kommt ein Schutzengel (Juliette Caton, „Das Spiegelbild“) an Jesus‘ Kreuz und holt ihn dort herunter, wodurch er ihm das Leben rettet. Dies scheint niemand bemerkt zu haben. Seine weltliche Existenz solle er von nun an genießen, was er sich nicht zweimal sagen lässt und mit der Sexarbeiterin Maria Magdalena (Barbara Hershey, „Boxcar Bertha“) eine Familie gründen möchte. Leider jedoch greift sein Vater ein und ermordet Maria. Sein ehemaliger Begleiter Saulus (Harry Dean Stanton, „Für eine Handvoll Dollar“) hat sich mittlerweile in Paulus umbenannt und verdingt sich als Fußgängerzonenmissionar, der Schutzengel entpuppt sich als der Beelzebub – und ich komme bei alldem nicht mehr ganz mit. Schließlich wird die Zeit zurückgedreht und all dies lediglich zum Traum eines nun doch am Kreuz sterbenden Mannes erklärt.

Scorseses Verfilmung scheint häufig in Zeitlupe abzulaufen (und u.a. dadurch auf seine epische Länge zu kommen), ist oft anstrengend, genauso oft aber unfreiwillig komisch. Dafoe ist gegen den Strich besetzt, was seine Auslegung der Rolle interessant macht. Besonders gelungen ist eine Szene, in der deutlich wird, wie Jesus zum Messias hochgejazzt und letztlich missbraucht wird. Sein Traum am Kreuz jedoch erlaubt auch die Interpretation einer gerechten göttlichen Bestrafung seines weltlichen Lebenswandels (bzw. seiner Vision davon, seines Strebens danach), was die Lesart des Films, Jesus habe das Recht auf ein ganz normales Leben mit Frau und Kind gehabt, ad absurdum führt. Es sei denn, dies ist auch als Kritik an Gott gemeint.

Wie auch immer, religiöse Extremistinnen und Extremisten schrien einmal mehr Zeter und Mordio – natürlich ohne den Film überhaupt gesehen zu haben. Jesus als Menschen mit Identitätskrise darzustellen, sei blasphemisch und sowieso und überhaupt. Umso bedauerlicher ist es, dass sich Scorsese ausgerechnet an diesem wunderbar konfliktträchtigen Stoff meines Erachtens schwer verhoben hat, denn jemandem, der mit dem Christentum nur wenig am Hut hat, ist „Die letzte Versuchung Christi“ nur schwer zuzumuten. Das voraussetzungsreiche Setting, die Handlungssprünge und das wenig nachvollziehbare Verhalten wie Karikaturen anmutender Figuren innerhalb einer zähflüssigen, pathetischen Dramaturgie zerren an den Nerven. Eine generelle Abneigung gegen monumentale Kostümdramen erweist sich da zudem sicherlich als alles andere als hilfreich. Sie zu überwinden hilft dieser Film leider nicht.

Ach, ich fürchte fast, genauso wenig wie das Konzept Religion diesen Film verstanden zu haben...

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Di 26. Sep 2023, 16:23
von buxtebrawler
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Monaco Franze – Der ewige Stenz

„Ehrlich gesagt, ich interessier’ mich wahnsinnig für Frauen…“

Im Frühjahr 1983 ging eine Fernsehserie im bayrischen ARD-Vorabendregionalfenster auf Sendung, die rasch Kultstatus erlangte und ihn bis heute genießt: „Monaco Franze – Der ewige Stenz“, erdacht und geschrieben von Helmut Dietl, Patrick Süskind und Franz Geiger, in zehn rund 50-minütigen Episoden inszeniert von Dietl und Geiger. Die komödiantische Serie griff mit dem „Stenz“, einem um Charme und Eleganz bemühten, windigen Aufreißer und Lebemann, eine Nebenfigur aus Dietls vorausgegangener Serie „Der ganz normale Wahnsinn“ auf, in der sie bereits von Helmut Fischer verkörpert wurde. Sie stellte sich als Fischer regelrecht auf den Leib geschrieben heraus, da sie, so munkelte man, gewisse Parallelen zu seinem Privatleben aufwies. Der Stenz wurde zu Fischers Paraderolle, mit der er bis heute, weit über seinen Tod hinaus, identifiziert wird.

„Ein bissel was geht immer!“

Franz Münchinger (Helmut Fischer), genannt „Monaco Franze“ (nach dem italienischen Wort für München), ist Mitte 40, Kriminalbeamter und ein echter Lebemann, immer auf der Suche nach libidinösen Abenteuern. Ein daraus entsprungenes uneheliches Kind zwang ihn jedoch dazu, etwas gediegener zu werden. Der dem Proletariat entstammende und es bis auf den sicheren Beamtensessel geschafft habende Münchinger heiratete mit Annette von Soettingen (Ruth Maria Kubitschek, „Melissa“) eine Frau aus „besseren Kreisen“, die ein Luxusantiquariat mit einer Angestellten (Christine Kaufmann, „Lili Marleen“) betreibt. Er lebt mit ihr im Münchner Stadtteil Schwabing zusammen, man leistet sich eine Haushälterin (knorrig: Erni Singerl, „Der Jäger von Fall“) und er lässt sich seinen Lebensstandard und -wandel von seinem „Spatzl“, wie er seine Frau liebevoll nennt, mitfinanzieren. Seine Ehe hindert ihn jedoch nicht daran, immer wieder auf die Pirsch zu gehen, was seine ihn dafür eher belächelnde Frau jedoch mal mehr, mal weniger zähneknirschend toleriert. Ihre Versuche, ihn in die „höhere Gesellschaft“ einzuführen, scheitern indes regelmäßig – u.a. weil es ihm sein Beruf erlaubt, sich mittels vermeintlicher Sonder- und Nachtschichten vor Opernbesuchen und Ähnlichem zu drücken…

Seit ich Helmut Fischer im Kindesalter in irgendeiner Serienrolle erstmals sah, mochte ich ihn, denn er hatte so eine ganz bestimmte Melancholie in den Augen – eine, die ihm sicherlich auch half, seinen Dackelblick auf- und zielführend einzusetzen, ob vor oder hinter der Kamera. Über die Aufarbeitung klassischer „Tatort“-Episoden, darunter auch die Münchner, in denen er erst Kriminalobermeister, später dann Kriminalhauptmeister Ludwig Lenz verkörperte, habe ich mich ihm nun weiter angenähert. Zwei seiner sieben „Tatorte“, in denen ihm nach Gustl Bayrhammers Ausscheiden die Hauptrolle zuteilgeworden war, waren ausgestrahlt worden, als die erste „Monaco Franze“-Episode ihr Publikum fand. Da er auch hier einen Kriminalbeamten spielt, persifliert er ein Stück weit seine „Tatort“-Rolle. Die vierte Wand durchbrechend stellt er sich offen über sein Schwerenötertum sprechend den Zuschauerinnen und Zuschauern vor; ein inszenatorischer Kniff, der der ersten Episode vorbehalten bleiben und an deren Ende es sein „Spatzl“ ihm gleichtun wird – die dem Publikum damit verrät, mehr über ihren Mann zu wissen, als dieser glaubt. Die erste Hälfte der Handlung ist hier noch eine Rückblende, in der Thomas Gottschalk in einer Nebenrolle als Club-Türsteher auftaucht. Am Ende wissen wir: Seine Frau und er versuchen sich gegenseitig übers Ohr zu hauen, wobei er seinen spitzbübischen Charme gegenüber der Damenwelt voll ausspielt, während sie mit aus unterschwelligem Überlegenheitsgefühl resultierender Gelassenheit reagiert.

„Immer das G’schiss mit der Elli!“

Mit der zweiten Episode wird klar, dass die Serie mit vielen Auslassungen und nie genau definierten, aber offenbar beträchtlichen Zeitsprüngen zwischen den Episoden arbeitet. Leider bliebt dadurch auch der Ausgang der ersten Episode auf der Strecke: Was dort wie ein Cliffhanger wirkte, entpuppt sich als Pointe ungewisser Konsequenz. Dennoch wird Bezug auf vorausgegangene Ereignisse genommen, beispielsweise seine Bekanntschaft Elli (Gisela Schneeberger, „Kehraus“), die es nun – einige Zeit später – nicht verwinden kann, nur eine von vielen in Franz‘ Leben gewesen zu sein. Doch auch Annette ist nicht ohne und macht sich ihren Verehrer Prof. Hallerstein (Walter Sedlmayr, „Angst essen Seele auf“) zunutze, um Franz in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen. Im weiteren Verlauf der Serie verdingt er sich als Privatdetektiv und drückt später gar noch einmal die Schulbank. Die Konflikte zwischen ihm und seiner Annette werden ernster, doch findet man immer wieder zusammen. Zumindest beinahe, denn in Episode 6 ist man plötzlich getrennt. Hier irritieren die Auslassungen wieder, denn man hätte schon gern gewusst (und in eine launige Handlung verpackt gesehen), was genau passieren musste, damit Annette doch einmal die Reißleine zieht.

„,Ernsthafter älterer Herr?‘ Auf gar keinen Fall!“

Hin und wieder kommt Franz der kleinkriminelle Ganove Tierpark-Toni (Wolfgang Fierek, „Die Supernasen“) in die Quere, jedoch ohne ernsthafte Konsequenzen. Das Autorenteam ist nie versucht, „Monaco Franze“ in die Krimiecke zu schreiben, im Gegenteil: Der Polizeidienst, dem Franz‘ bester Freund Manfred „Manni“ Kopfeck (Karl Obermayr, „Eros-Center Hamburg“) weiterhin nachgeht und der zwei Gastauftritte Gustls Bayrhammers als Kriminaldirektor hervorbringt, wirkt hier beinahe langweilig und profan – kein Vergleich zu Fischers zweiter Spielwiese, dem „Tatort“, also. Die Themen der Serie sind vielmehr Franz‘ Gefühls- und Liebesleben (das ihn in Episode sieben eine handfeste Midlife-Krise in 50 Minuten durchleben lässt), allem voran aber eine komödiantisch bis satirisch überspitzte Persiflage auf die Münchner Schickeria und die Bussi-Bussi-Gesellschaft des Kulturbetriebs, was zu einem Lieblingsthema Helmut Dietls avancieren sollte, hier als Kontrast zur nicht minder durch den Kakao gezogenen immerwährenden männlichen Suche nach Bestätigung durchs weibliche Geschlecht. Immer schwingt dabei der Klassenunterschied zwischen Franz und Annette mit, längst nicht nur in Bezug auf seine Ablehnung der sog. Hochkultur und ihrer stocksteifen, blasierten Klientel, wie sie die bundesdeutsche Klassengesellschaft hervorgebracht hat.

Ein weites allgegenwärtiges Motiv der Serie ist, na klar: München! Jede Episode fühlt sich wie ein Kurzurlaub ins schöne Schwabing an, die vorletzte Folge gerät gar zu einer Liebeserklärung an die Stadt – und hält eine überraschende Wendung parat, deren Konsequenzen das große Finale in der Schlussepisode auskostet. Sie sind Teil einer über die ungefähr fünf Jahre, die die Handlung abdeckt, hinweg stattgefundenen charakterlichen Entwicklung der Figuren, die insbesondere Annette betrifft und sie erst ungewohnt naiv und anschließend eher unsympathisch erscheinen lässt – wohlgemerkt nachdem sie sieben Episoden lang weder das eine noch das andere gewesen war, ihrem Streben nach gesellschaftlichem Status und ihrer furchtbar übertrieben barocken Wohnungseinrichtung zum Trotz. Die Figuren wachsen einem derart ans Herz, dass einem das Serienfinale umso nähergeht.

Neben Fischers Paraderolle und dem generell tollen Ensemble, der wunderbaren Titelmelodie der Italiener Dario Farina und Gian Piero Reverberi und dem punktgenauen, für perfektes Timing sorgenden, mitunter gar originellen Schnitt ist das größte Pfund der Serie der tolle, feingeistige und liebevolle Humor, der, so möchte ich meinen, sowohl in die Loriot-Schule ging als auch sein Milieu genau studiert hat. Großen Anteil daran haben Sprach- und Dialogwitz. Ungeachtet seiner proletarischen Herkunft beherrscht auch Franz eine gewählte Ausdrucksweise, wie sie heute leider kaum noch gesprochen wird. Auch wenn man wie so oft bei BR-Produktionen oberhalb des Weißwurstäquators längst nicht jedes Wort versteht, macht diese Melange aus Fabulierfreude und Mundart Spaß. Annette spricht derweil stets sauberes Hochdeutsch, was als weiterer Hinweis auf ihre Klassenzugehörigkeit verstanden werden darf. Es heißt, manch Ausspruch sei durch „Monace Franze“ als geflügeltes Wort in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen.

“Monaco Franze – Der ewige Stenz” ist eine hervorragend gealterte, warmherzige Serie, die viel, aber längst nicht allein von Fischers spitzbübischem Charme lebt und sich zurecht ihren Platz im Langzeitgedächtnis des gesamtdeutschen Fernsehpublikums gesichert hat. Bei einem etwas sensibleren Umgang mit den Auslassungen und vielleicht etwas weniger harschen Charakterentwicklungen, die gegen Ende der Serie zuweilen ein wenig erzwungen wirken, und, ach, hätte er doch nicht unbedingt ein Bulle sein müssen, wären vielleicht sogar noch mehr als 8 von 10 Kurzen am Viktualienmarkt drin gewesen, die das erste (und einzige) Mitglied des Helmut-Fischer-Fanclubs Hamburg-Altona hiermit feierlich auf „Monaco Franze“ trinkt – denn ein bissel was geht immer!

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Mi 27. Sep 2023, 18:15
von buxtebrawler
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Escalation

„Eure schreckliche Firma interessiert mich nicht!“

Das Debüt des italienischen Regisseurs Roberto Faenza („Copkiller“) aus dem Jahre 1968 ist ein Kind seiner Revoltenzeit und schwarze Giallo-Komödie mit satirischen Elementen zugleich. Dies macht ihn sowohl zu einem interessanten, frühen Genrewerk als auch zu einer ungewöhnlichen Mischung im Kanon des italienischen Kinos.

„Weißt du, was Eskalation heißt?“

Luca Lambertenghi (Lino Capolicchio, „Der Widerspenstigen Zähmung“), ein junger italienischer Hippie und von Beruf Fabrikantensohn, lässt es sich in London gutgehen, steht auf Buddha und hat eigentlich als nächste Station Indien auserkoren. Sein Vater, der Unternehmer Augusto (Gabriele Ferzetti, „Zwei Särge auf Bestellung“) hat jedoch andere Pläne mit seinem Sohn, immerhin soll der Filius ihn irgendwann einmal als Firmenchef beerben. Also holt er ihn kurzerhand nach Hause und steckt ihn ins Büro, wo er jedoch in erster Linie Filme schaut und Streiche spielt. Daraufhin wird er in die Klapse verfrachtet, wo er eine Elektroschocktherapie über sich ergehen lassen muss. Als er der Anstalt entfliehen kann, setzt Augusto einen Privatdetektiv auf seinen Sohn an, der ihn schließlich schnappt. Papas letzter Trumpf ist dann die attraktive Psychotherapeutin Carla Maria (Claudine Auger, „Feuerball“), die Luca gefügig machen soll, indem sie ihn ehelicht. Der Plan scheint aufzugehen, hat jedoch fürchterliche Folgen…

„Escalation“ beginnt mit klischeehaften Hippies-mit-Fahrrad-in-der-Natur-Szenen und einer psychedelischen Hippie-Party mit zahlreichen Farbfiltern in poppigen Swingin‘-Sixties-Kulissen. Der Tonfall ist eindeutig komödiantisch, woran der auftretende Generationskonflikt zwischen Luca und seinem Vater auch zunächst wenig ändert. Der völlig überzogene weitere Verlauf erscheint zunehmend grotesk und kippt mit der Elektroschock“therapie“ ins Schwarzhumorige. Dass Luca mit Psychotherapeutin Carla erst über seine Weltanschauung diskutiert, um sich dann in sie zu verlieben und schließlich – nach eigenartigen visualisierten Visionen, wie ein Inder mit lila Bart ihm Carla zum Kauf anbietet – heiratet, erscheint dann richtiggehend irreal.

Doch erst dadurch entfaltet „Escalation“ seine gialloeske Note. Carla dominiert die Ehe und krempelt den ihr gefügigen Luca um 180 Grad um, der nun bereitwillig für seinen Vater arbeitet und sich optisch wie geistig vollends von seinen einstigen Idealen verabschiedet hat. Er lebt mit ihr in einer abgefahren eingerichteten Wohnung, und indem Carla sich nackt zeigt, erhält der Film seinen Erotikanteil – wenngleich man ihre Geschlechtsorgane nie zu sehen bekommt, Faenza also verglichen mit der weiteren Entwicklung des italienischen Kinos eher dezent vorgeht. Doch Carla spielt auch ihr eigenes Spiel; sie manipuliert Luca, damit sie die Fabrik seines Vaters bekommt. Da wird’s diesem zu bunt…

Trotz allem wirkt „Escalation“ bis zu diesem Punkt auf nicht unangenehme Weise sommerlich leicht. Man teilt eine Vorliebe für Overalls und sieht sich zusammen mit Geschäftsfreunden eine Striptease-Show an. Der Mord, ohne den ein Giallo nicht auskommen darf, wird erst gegen Ende begangen und geht mit Bodypainting einher, das Faenza in seinem kunterbunten Film neben dem Interieur, den Brillen und den Klamotten offenbar als zusätzliche (und im wahrsten Wortsinn) Farbtupfer auch noch unbedingt unterbringen wollte.

In „Escalation“ gibt es keine Sympathieträger und keine Identifikationsfiguren, keine bemitleidenswerten Opfer, keine zu Unrecht Verdächtigten, keine auf eigene Faust Ermittelnden. Die Figuren erhalten kaum tiefergehende Charakterisierungen, sondern sind Projektionsflächen für verschiedene Stereotypen, denen Faenza kräftig einen mitgeben wollte: angefangen beim nichtsnutzigen, seine privilegierte Position verkennenden, pseudoidealistischen Hippie über einen reaktionären kapitalistischen Familien- und Firmenpatriarch bis zur verschlagenen, manipulativen Quasi-Prostituierten. Lucas rasche Wandlung vom Hippie zum angepassten Spießer, der er rein gar nichts entgegenzusetzen hat, steht exemplarisch für eine Entwicklung, die große Teile der einstigen Bewegung vollzogen haben und Faenza offenbar vorausgesehen hat.

Stilistisch ist der von niemand Geringeren als Maestro Morricone musikalisch untermalte Film höchst eigenwillig, vermutlich hat Faenza einen starken Kontrast aus Erscheinungsform und Inhalt angestrebt, was wiederum zu seiner (von mir angenommenen) Aussage passt. Dass es dabei nicht ganz leichtfällt, in den Film hineinzukommen und ihn anteilnehmend zu verfolgen, ist die Kehrseite dieser grundsätzlich interessanten, originellen Herangehensweise.