Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Verfasst: Di 2. Jul 2024, 14:37
Aviator
„Finden Sie mir Wolken!“
Immer diese gescheiterten Existenzen der US-amerikanischen Gesellschaft und all die düsteren, negativen Seiten der USA, zuletzt ausgiebig in „Gangs of New York“ beleuchtet – wo bleiben eigentlich die Erfolgsgeschichten des American Dream in US-Ausnahmeregisseur Martin Scorseses Filmen? Dass Scorsese für eine solche ausgerechnet den durchgeknallten Howard Hughes auserkor, dem er mit der US-amerikanisch-deutschen Koproduktion „Aviator“ im Jahre 2004 ein Biopic widmete, entbehrt nicht einer gewissen Ironie (die Scorsese bewusst gewesen sein dürfte). Der erneut überlange Film wartet erneut mit Scorseses damals noch neuem Stammschauspieler Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle auf, bedeutet an der Kamera jedoch eine erneute Rückkehr zu Robert Richardson, mit dem Scorsese bereits für „Casino“ und „Bringing Out the Dead – Nächte der Erinnerung“ zusammengearbeitet hatte.
„Ich hab' Witterung aufgenommen, jetzt bin ich nicht zu halten!“
Howard Hughes ist vieles: Sohn reicher Eltern, Vollwaise, Multimillionär, Filmregisseur und Produzent, Tüftler, Erfinder, Konstrukteur, Rekordpilot, Gründer einer Fluggesellschaft, Zwangsneurotiker, Frauenheld, Genie und Wahnsinniger. Mit Spezialgeräten zur Ölforderung war sein Vater steinreich geworden. Howard erbte das Familienvermögen, investierte in Unterhaltungsfilme und war besessen von der Idee, mit eigenen Konstruktionen und seinem Unternehmen TWA das US-Monopol der PanAm-Fluggesellschaft zu durchbrechen. Er hatte Ehen und Affären mit Hollywood-Darlings wie Jean Harlow (Gwen Stefani, „Zoolander“), Ava Gardner (Kate Beckinsale, „Pearl Harbor“) und Katharine Hepburn (Cate Blanchett, „Der talentierte Mr. Ripley“), die ihn trotz seines Hygienefimmels und Waschzwangs liebten. Sein psychischer Zustand wurde im Laufe der Jahre jedoch immer desolater…
„Wir sind nicht so wie all die anderen... Zu viel Exzentrisches, zu viele Ecken und Kanten.“
Unter Scorseses Regie beginnt alles mit Howard als kleinem jungen, der von seiner Mutter gebadet wird und währenddessen Buchstabieren mit ihr lernt. Unmittelbar darauf lässt Scorsese in wunderbar detailgetreu anmutenden Kulissen das alte Hollywood der späten Zwanzigerjahre wieder aufleben. Bei MGM macht man sich über Howards Ambitionen lustig und will ihm keine Kamera leihen. Seinen Film „Hell’s Angels“ dreht er trotzdem, denn Howard ist ebenso ehrgeizig wie durchsetzungsfähig, dabei auf Frauen offenbar charmant wirkend. „Hell’s Angels“ gerät zum teuersten Film der damaligen Zeit, denn die Produktion dauert ewig und verschlingt Unsummen – und wird kurzerhand wiederholt, weil statt Stumm- mittlerweile Tonfilm angesagt ist. Letztendlich werden vier Millionen Dollar investiert und drei Pilotenleben verschlissen. Doch Kosten spielen für den größenwahnsinnigen, filmverrückten Visionär keine Rolle und seine Empathie ist, sagen wir mal, eingeschränkt... Die Filmpremiere wird zum Großereignis und der Film zu einem vollen Erfolg. Dieser erste Teil Scorseses Films ist mit leichtfüßiger komödiantischer Note gedreht und charakterisiert Hughes bereits weitestgehend. Eine für „Hell’s Angels“ aufwändig gedrehte Flugsequenz nimmt dabei Howards zweite Leidenschaft bereits vorweg.
„Es ist zu viel Howard Hughes in Howard Hughes...“
Er will Flugzeuge für Interkontinentalflüge bauen und investiert seine Leidenschaft nun vornehmlich in diesem Bereich. Die ohne Punkt und Komma quatschende Schauspielerin Katherine Hepburn reißt er sich beim Golfspielen auf. Zugleich äußern sich seine Psychomacken zunehmend; so lässt er sich beim Essen die Erbsen abzählen und entwickelt eine ausgeprägte Paranoia vor gesundheitsschädlichen Keimen. An Politik hingegen ist er völlig desinteressiert. Die Charakterisierung ist damit vorangeschritten und im Prinzip abgeschlossen. Eine klassische Dramaturgie entwickelt Scorsese daraus – offenbar bewusst – nicht; vielmehr illustriert er Hughes‘ Schaffen, Wirken und Verhalten und lässt es für sich stehen, ohne es zu kommentieren oder zu beurteilen. Weitere Stationen sind eine Flugzeugentwicklung für die Armee, Zensurbemühungen gegen seinen „Tittenfilm“ „The Outlaw“ (inklusive einer irren Show vor dem Zensurkonsortium) und Hepburns Trennung von Hughes aufgrund ihrer Eifersucht auf andere Frauen, mit denen er sich in der Öffentlichkeit von der Klatschpresse ablichten lässt.
„Zeig mir alle Blaupausen, zeig mir alle Blaupausen, zeig mir alle Blaupausen...“
Und so ähnlich geht es dann eben noch lange Zeit weiter: Hughes nimmt die 15-jährige Faith Domergue (Kelli Garner, „Bully – Diese Kids schockten Amerika“) unter Vertrag, entwickelt einen schweren Waschzwang, befindet sich im Konkurrenzkampf unter Flugzeugbauunternehmen und gerät mit der Produktion in Verzug, ist schließlich Ava Gardners Liebhaber, woraufhin Faith eifersüchtig wird und es zu einer öffentlichen Szene kommt. All dies sind biographische Einträge, die sich bestimmt auch nachlesen lassen, wofür man sich also nicht unbedingt diesen Film anzusehen bräuchte. Aufstiegsgeschichte und Gossip. Wer von Hughes schon nach einer halben Stunde die Nase voll hat, könnte abwinken und abschalten. Dass dies die Wenigsten tun werden, ist das Verdient Scorseses und seines Ensembles, allen voran DiCaprios, der sich mit diesem Film aufs Method Acting verlegte wie wahrscheinlich nie zuvor. Wer also mehr von Hughes und/oder Leo sehen will, wird dranbleiben – und für seine Geduld mit dann doch überraschenden und spannenden Entwicklungen belohnt werden (sofern noch unvertraut mit Hughes‘ Vita): einem spektakulären Bruchlandungsstunt mit anschließendem Überlebenskampf des verbrannten und schwerstverletzten Hughes sowie ein völliges Versagen in Beziehungsfragen, als er Gardner belauscht, kontrolliert und überwacht, bis sie ihn wutentbrannt rausschmeißt. Damit nicht genug: Das FBI stellt seine Wohnung auf den Kopf und Senator Brewster (Alan Alda, „M*A*S*H“) legt sich mit ihm an, startet eine Verleumdungskampagne gegen ihn. In einer schweren Krise verwahrlost Hughes zusehends (DiCaprio zeigt sich in diesem Zuge nackt), zugleich wird sein Hygienefimmel wird immer pathologischer. „Aviator“ tut mittlerweile richtiggehend weh; eine Änderung des Tonfalls, die sich zunächst unbemerkt nach und nach eingeschlichen hat. Einer der Gründe für die Überlänge des Films.
„Du bist zu verrückt für mich!“
Durch ein Gerichtsverfahren bekommt „Aviator“ ein bisschen was von einem Justizfilm. Dann ist er aber bald tatsächlich vorbei und lässt vieles offen. Hughes wird nicht bis zu seinem Tod begleitet, der Film endet im Jahre 1947. Orts- und Zeiteinblendungen unterstützen bei der Orientierung, der Soundtrack mit jazziger Loungemusik ist dominant und omnipräsent, Scorseses und Richardson Umgang mit Farben und Licht lassen „Aviator“ oft künstlich, dadurch aber nicht weniger imposant aussehen. Die Handlung vermittelt Pionier- und Entdeckergeist, Kühnheit, Verbissenheit, denen Zwangsneurotiker Hughes ohne Rücksicht auf Verluste nachgeben zu müssen scheint, und zeichnet so ein ambivalentes Porträt eines ambivalenten Mannes, der eine ganze Menge auf Reihe bekam und Spuren hinterließ. Trotz oder wegen seiner pathologischen Verrücktheiten? Diese Frage scheint der Film zu stellen und offenzulassen.
„Wer sind diese Männer? Arbeiten die für mich?“
Scorsese näherte sich dem Mann und dem Phänomen Howard Hughes mit ebenso viel Respekt und zugleich Schonungslosigkeit, wie er es mit den Milieufiguren seiner älteren Filme tat. Es geht ihm sehr offensichtlich nicht um Heldenverklärung oder darum, jemand vermeintlich Missverstandenen zum Sympathieträger zu machen, sondern vielmehr um eine Zeitreise und die Verarbeitung eines US-amerikanischen Mythos, bei der er genauer hinschaut als andere. Apropos Held: Der heimliche ebensolche des Films ist Professor Fitz (Ian Holm, „Alien“), der, eigentlich ein Meteorologe, der Erste ist, der von Hughes abgeworben wird und fortan in dem ganzen Wahnsinn mit drinhängt. Mein Tipp: Sitzfleisch mitbringen und eintauchen in Howard Hughes‘ Welt, die wie so viele Filme Scorseses auch viel über die USA verrät. Und, weil’s in dieser Besprechung viel zu kurz kam: Für diejenigen, die sich für die Geschichte der Fliegerei interessieren, dürfte „Aviator“ Pflichtprogramm sein. Um es mit Hughes zu sagen: „Der Weg in die Zukunft, der Weg in die Zukunft, der Weg in die Zukunft...“