Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Verfasst: Do 2. Jan 2025, 15:44
Polizeiruf 110: Jenseits des Rechts
„Er macht Pornos.“
Die Münchner Kommissarin Cris Blohm (Johanna Wokalek) ermittelt zusammen mit ihrem Kollegen Dennis Eden (Stephan Zinner) in ihrem dritten Fall. Dieser wurde von Dominik Graf (sein bereits siebter Beitrag zur öffentlich-rechtlichen Krimireihe) nach einem Drehbuch Tobias Kniebes inszeniert und am 29. Dezember 2024 erstausgestrahlt, nachdem er seine Premiere bereits am 25. Oktober 2024 auf den Hofer Filmtagen hatte feiern können.
„Ich hab‘ mich stark gefühlt!“
Die junge Mia (Emma Preisendanz, „Tatort: In der Familie“) muss den Verlust ihres Freunds Lukas Bärwein (Florian Geißelmann, „Seid einfach wie ihr seid“), einem von allen nur „Lucky“ genannten Amateurpornofilmer, der in einem Wohnwagen in einem Münchner Künstlerquartier lebte und arbeitete, verkraften. Er hatte auch Mia in die Welt der Amateurpornos eingeführt, nun wurde er ermordet. Alles Grund, gegen diese Liaison und die Aktivitäten Luckys mit Mia zu sein, hatte ihr Vater Ralph Horschalek (Martin Rapold, „Cargo“), ein vermögender Unternehmer aus der Oberschicht, der sein Geld als Leiter der Munich Gold AG verdiente – und dies offenbar nicht immer ganz sauber, wie die Proteste gegen das Unternehmen nahelegen und aufgrund derer er gerade einige Kundinnen und Kunden verliert…
„Ist eigentlich alles fake?“
Ein Stylo-Vierer-Splitscreen-Vorspann geht mit einem Gespräch zwischen Mia und ihrem Therapeuten (Michael Roll, „Herz“) einher, das sich um ihre Beziehung zu Lucky dreht. Mia ist eine hübsche junge Frau, die durch den frühen Tod ihrer Mutter schon Verlusterfahrungen durchmachen musste. Durch die Beziehung zu Lucky und den Sex mit ihm vor dessen Kamera habe sie sich befreit gefühlt. Der „Polizeiruf“ wirft die Frage auf, ob Lucky dies ausgenutzt habe, ohne sie abschließend zu beantworten. Es geht ihm nicht darum, Amateurpornographie zu dämonisieren, und dieses Sujet wird auch nicht sexploitativ ausgeschlachtet. Vielmehr vermischen sich unter Grafs Regie ein Kriminalfall, ein Familiendrama, subkulturelle Milieueinblicke, Kapitalismuskritik und eine Art Justizposse miteinander – insgesamt ein bisschen viel für einen knapp 90-minütigen Fernsehfilm, weshalb manches nur angerissen bleibt und Graf neben wunderschönen sommerlichen Bildern zu Zeitsprüngen und unvermittelten Rückblenden, teilweise inklusive Jumpcuts, greift, um möglichst viel erzählen zu können. Der Schnitt ist modern und rasant.
Daran gemessen steigt er ungewöhnlich früh in die Handlung ein: Lucky lebt noch, Mia und Blohm/Eden begegnen sich auf der Straße – Szenen, die offenbar der Charakterisierung der Figuren dienen. Nach dem Leichenfund steht kurzzeitig auch die Frage im Raum, ob es sich anstelle eines Mords um einen Unfall, Körperverletzung mit Todesfolge oder Totschlag gehandelt haben könnte. Eine DNA-Spur führt einerseits zu einem männlichen Familienmitglied Mias und andererseits zu einer Besonderheit des deutschen Rechts, die die Rechtsmedizinerin (Jule Gartzke) in einen argen Gewissenskonflikt treibt und Blohm derart belastet, dass sie sich gar von einem Rechtsanwalt, der so etwas normalerweise gegen die Polizei verwenden würde, beraten lässt. Der Umstand, dass Blohm durch Informationen, die sie eigentlich gar nicht haben dürfte, den Täter zu kennen glaubt, den sie aufgrund dieser Informationen aber weder belasten noch verhaften darf, avanciert zum neben moderner Polizeiarbeit justiziales Spezialwissen vermittelnden Herzstück des Falls. Ihr Wissensvorsprung erweist sich als problematisch in der Zusammenarbeit mit Eden und mündet schließlich in eine spannend gemachte Home Invasion inmitten der Geburtstagsfeier einer 16-jährigen Social-Media-Daueronlinerin (Falka Klare, „Tonio & Julia“).
Die zur Auflösung führende Pointe ist für die einen vorherseh- und erratbar, für andere sicherlich überraschend. Vollgepackter hätte diese „Polizeiruf 110“-Episode dann auch wirklich nicht sein dürfen; umso bemerkenswerter, dass es Graf gelungen ist, den sommerlichen Bildern zum Trotz melancholische Atmosphäre zu erzeugen und mit interessanten, ambivalenten Figuren zu arbeiten. Von diesen hätte ich gern mehr gesehen; dafür vielleicht etwas weniger Polizeiarbeit, die menschlich wirken soll, mitunter aber eher befremdet. Zu guter Letzt: Der Stranglers-Evergreen „Golden Brown“ wird mehrfach ehrenvoll hervorgehoben – er hat es verdient!