Es ist ein Film, der seine Programmatik schon gleich im Titel führt. GIALLO A VENEZIA. Die beiden Komponenten sind: Venedig wird als Schauplatz der Handlung dienen, und die wiederum im Genre des Giallo verortet sein.
Folgerichtig beginnt GIALLO A VENEZIA mit einem Mord. Am Hafen der Lagunenstadt werden zwei Leichen aufgefunden, und zwar die des Liebespaars Flavia und Fabio. Was dem Inspektor Angelo de Pol die Stirn in Falten zieht: Während Fabio durch einen scharfen, spitzen Gegenstand sein Leben verloren hat, scheint Flavia im Meer ertrunken, dann aber zurück an den Strand gebracht worden zu sein. Es bleibt unserem offenkundig eiersüchtigen Ermittler und seinem glatzköpfigen Sidekick Maestrin nicht viel anderes übrig, als in den Privatleben der Toten herumzuschnüffeln, und dort kübelweise Schmuddelkram zutage zu fördern. Fabio nämlich hat kürzlich seine perverse Ader entdeckt, und sich und Flavia in immer abenteuerliche Sexualkonstellationen verstrickt, angefangen damit, dass schmierige Typen ihnen beim Geschlechtsakt in der Öffentlichkeit zuschauen sollen, über die Verführung Minderjähriger bis hin zu kokainschwangerer Orgien mit angeheuerten Hafendirnen. Während uns in Bezug auf die Lendentätigkeit unserer Ermordeter kaum Wünsche offenlassende Rückblenden enthüllen, zu was Männern so alles fähig sind, wenn sie die Kontrolle über ihr Handeln an ihr bestes Stück verlieren, erschüttern weitere bestialische Morde die Gondelstadt. Ausgerechnet die Vagina einer von Fabio regelmäßig engagierten Prostituierten muss Kontakt mit einer Messerklinge machen, und ausgerechnet Mazia, eine ebenfalls im horizontalen Gewerbe beheimatete Freundin des Pärchens, sieht sich von einem unbekannten jungen Mann verfolgt, belästigt, terrorisiert. Den verhüllt der Film vor unseren Augen übrigens in keiner Weise: Weniger steht während des Hauptteils die Frage im Vordergrund, WER der wenig zimperliche Schlächter ist, zu dessen Repertoire mit Tötungsarten wie Verbrennen bei lebendigem Leibe und der Amputation von Gliedmaßen bei vollem Bewusstsein so ziemlich alles gehört, was sich ein italienische Drehbuchschreiberling in seinen fiesesten Phantasien ausmalen kann, sondern, WARUM er dermaßen über die Stränge schlägt. Getrost kann deshalb hier schon verraten werden, dass der von pathologischen Obsessionen gegenüber Marzia geplagte Philosophiestudent, den de Pol und Maestrin schließlich dingfest machen, nur die halbe Lösung des Rätsels ist, und dass auf die Herren Beamten und uns am Ende noch eine derart unfassbare Überraschung wartet, dass ich jetzt noch zittere, wenn ich nur an die Genialität des Finales denke…
Abb.1: So sieht professionelle Polizeiarbeit aus. Rasiermesserschaf stellt Inspektor De Pol eine Verbindung her zwischen den beiden Toten und einem Tütchen Kokain, das bei ihnen gefunden worden ist.
Genauso gut zum freudigen Zittern kann die Schauspielerriege ermutigen, die Mario Landi – Schöpfer des nun wirklich göttlichen PATRICK VIVE ANCORA(1980) – für uns vor seiner wenig innovativen, dafür sehr an den unteren Körperpartien der Darsteller interessierten Kamera zusammengescharrt hat. Eher unbekanntere Nasen tragen unsere Helden, Jeff Blynn, den man höchstens noch aus dem einen oder anderen Polizeifilm kennt, als Inspektor de Pol, und sein Partner Maestrin, der eigentlich Eolo Cappiti heißt, und in zahllosen eher geschmacksbefreiten Exploitation-Knalltüten wie CASA PRIVATA PER LE SS (1977) oder CALIGULA ET MESSALINE (1981) im Hintergrund herumsteht. Schon vertrauter dürfte die wunderbare Leonora Farin sein, die solche an sich schon ziemlich schmucken Werke wie Francesco Barillis PENSIONE PAURA (1977) oder das Zoophilie-Drama BESTIALITÁ (1976) veredelt hat, und die Rolle der Flavia als personifizierte Unschuld be- bzw. entkleidet, sowie der durch die (harte?) Schule einiger Handvoll Sandalenfilme und Italowestern gegangene Vassili Karis, in vorliegendem Film ein Künstler namens Bruno Nielsen, der ein Auge auf Flavia geworfen hat, und mit dem andern argwöhnisch Fabios sich stetig steigernde Drogen- und Sexmanie begutachtet, und natürlich Fabio selbst, der von niemand Geringerem seinen Körper geliehen bekommt als von Gianni Dei, dem seine immobile Titelrolle in Landis Folgefilm in einer gerechteren Welt eigentlich einen Preis für das intensivste Starren der Kinogeschichte hätte einbringen müssen. Ebenso preisverdächtig: Mariangela Giordano, die sich Ende der 70er, Anfang der 80er wohl für keine noch so vor Sleaze triefende Rolle aus den untersten Schubladen abstruser Männerphantasien zu schade gewesen ist, und als Marzia unter vollem Körpereinsatz aufspielt, als gelte es, neue Maßstäbe schamloser Zeigefreudigkeit zu setzen. Das irgendwo zwischen monotonem Softsex und wüsten Gewaltexzessen auf der Stelle treten-de Drehbuch stammt aus der Feder eines gewissen Aldo Serio, der sonst offenbar nicht viel Nennenswerteres zu Papier gebracht hat, den oftmals reichlich deplatzierten Soundtrack, der es sich nicht mal nehmen lässt, eine nominelle Vergewaltigung mit beschwingtem Lounge-Jazz zu untermalen, hat immerhin Berto Pisano, der Komponist von LE NOTTI DEL TERRORE (1981), verbrochen, und die Kamera bedient Franco Villa, der an die achtzig Filme auf dem Kerbholz hat, darunter Klassiker wie MILANO CALIBRO 9 (1972) sowie die Kinski-Konsalik-Melange LA BESTIA UCCIDA A SANGUE FREDDO (1971).
Nach der Vorstellung all dieser sympathischen Menschen, die GIALLO A VENEZIA zu einem Vergnügen machen, das nun sicherlich nicht in der Oberliga des Giallo-Genre als Leitstern blinkt, aber auch niemandem, der keinem der oben genannten Referenzen prinzipiell ablehnend gegenübersteht, eine schlechte Zeit bereiten dürfte, und nachdem ich noch mal darauf hingewiesen habe, dass Lados Film technisch, ästhetisch, stilistisch wenig bis gar nicht besticht, dafür aber auf jeden Fall mit einer eigenartigen Mischung aus (unerotischen) Obszönitäten und kruder Kriminalgeschichte besticht, möchte ich mich noch kurz drei Punkten zuwenden, die mir bei GIALLO A VENEZIA besonders aufgefallen sind, die mich verwundert haben, die ich einer weiterführenden Analyse für werthalte:
1. Wohl selten hat man in einem Film, der keine Dokumentation über Hühnerzüchter ist, so viele Eier gesehen wie in GIALLO A VENEZIA. Wenn Inspektor de Pol sie nicht als leicht gesalzene Leckerlis verzehrt, jongliert er schon mal mit ihnen wie mit Pingpongbällen, oder lässt sie wie Billardkugeln über seinen Schreibtisch kullern. Dieser running gang hört sich genauso witzig an wie Landi ihn in die Spielfilmhandlung einbettet. Ohne dass ihr Vorhandensein irgendwie kontextualisiert werden würde, sind Eier ständige Begleiter von de Pol, ein Markenzeichen vergleichbar mit Beuys‘ Hut oder Dalís Schnurrbart.
Fast zwangsläufig ließ mich de Pols hartschalige Hauptkost an die berühmt-berüchtigte Erzählung HISTOIRE DE L’OEIL denken, in der der Theoretiker und Praktiker der Transgression, Georges Bataille, 1928 eine ziemlich eindrucksvolle Assoziationskette beschreibt: Von Hühnereiern, die bei den Sexexzessen des namenloses Ich-Erzählers sowie seiner Bettgefährtinnen Simone und Marcelle zunächst als elaboriertes Spielzeug Verwendung finden – die Heldinnen führen sie sich vaginal ein, und scheiden sie aus, als würden sie ihnen gebärend das Leben schenken -, führt eine einigermaßen logische Linie über das Gemächt eines Stiers, das sich Simone, nachdem sein Besitzer bei einer Corrida erlegt worden ist, ebenfalls in den unteren Hemisphären installiert, hin zum Augapfel eines Priesters, den unsere Freunde in einem Gotteshaus grausam ermorden. Eingekeilt zwischen Simones Schamlippen wirkt das ordinierte Sehorgan auf den Ich-Erzähler, als würde es ihn anstarrend Tränen vergießen, weil seine Freundin zeitgleich ihre Blase entleert – ein poetisches Bild, das übrigens Alberto Cavallone zu einer Szene in seinem Meisterwerk SPELL – DOLCE MATTIATO (1977) inspiriert hat, wobei man die generelle Analogiereihung von Ei-Hoden-Auge freilich auch in Skandalfilmen wie beispielweise Nagisa Ōshimas AI NO KORIDA problemlos nachzeichnen kann.
Man muss aber wohl nicht Bataille lesen, um die dem Hühnerei immanente sexuelle Symbolik zu erkennen. Nicht umsonst sprechen wir von weiblichen Eierstöcken, nicht umsonst ähneln männliche Hoden und Eier einander, nicht wenige Kulturen haben das sogenannte Weltenei als festen Bestandteil in ihre Schöpfungsmythen integriert. Eine ziemlich aufschlussreiche Szene, was das Vollpumpen organischer Lebensmittel mit sexuellen Konnotationen in GIALLO A VENEZIA betrifft, findet sich in einer der insgesamt vier großen Rückblenden zum Liebesleben von Fabio und Flavia. Nachdem für Flavia kaum noch Zweifel daran bestehen, dass ihre bessere Hälfte in immer kauzigere Vorstellungen davon abdriftet, wie erfüllte Sexualität zwischen ihnen aussehen solle, provoziert Fabio sie noch zusätzlich beim gemeinsamen Abendessen. Ein Teller Austern steht vor ihm auf dem Tisch. Während sie einander anschweigen, beginnt Fabio, eine der muschiähnlichen Muscheln mit seinem Essstöckchen zu streicheln, Flavia dabei lüstern und keck beobachtend. Die hat bald genug von der Provokation, und flieht heulend ins Schlafzimmer.
Diese mehr oder minder subtilen quer über den gesamten Film verteilten Geschlechtsteile in Gestalt von Alltagsgegenständen – man bedenke, dass zum Beispiel auch das Messer, das eine Prostituierte vaginal penetriert, nichts anderes ist als ein Phallus mit besonders scharfen Zähnen, und dass die zahllosen Jim-Beam-Flaschen, mit denen gerade Marzia ihre Wohnung herausgeputzt hat, sich genauso leicht als Statthalter für andere flüssigkeitsvolle Gefäße decodieren lassen -, unterstreichen, dass Mario Landi uns von einer Welt erzählen möchte, in der letztlich jede zwischenmenschliche Beziehung, jede künstlerische und kulturelle Regung, jede noch so unscheinbare Handlung auf Trieben und Lüsten gründet, denen seine Protagonisten entweder bis zur (Selbst-)Zerstörung ausgeliefert sind – der von Mariza besessene Philosophiestudent oder natürlich Fabio, dessen Verhalten bald diktiert wird von den Wünschen seines Penis -, oder die aber, wie Inspektor de Pol, ihre Begierden erfolgreich sublimiert haben: Sein permanentes Eierknabbern erscheint, frei nach Freud, wie die gelungene Ablenkung von Eros und Thanatos auf eine Sache, die strukturell zwar immer noch mit ihnen in Zusammenhang steht, praktisch aber keine Konsequenzen nach sich zieht. Neben de Pol, dessen Eier sinnfällig als Abschluss eines Domestizierungsprozesses der eigenen Sexualität gelesen werden können, ist noch eine weitere Figur in dieser Hinsicht interessant, der Voyeur nämlich, der zusammen mit seiner gelähmten Schwester in einer Messie-Wohnung unweit des Hafens haust, und von dem de Pol letztlich erfährt, was genau zum Tod Fabios und Flavias geführt hat. Besagter Voyeur, der scheinbar den ganzen Tag nichts weiter tut als mit seinem Fernglas die Leben anderer Leute zu studieren, hat seine Sexualität ebenfalls in wenig gefährliche Fahrwasser verlagert. Statt sie auszuleben, begnügt er sich damit, die Welt aus sicherer Distanz zu betrachten – und hat sämtlichen anderen Figuren dadurch den Vorteil, dass er diese Welt – und die Diegese des Films – gottgleich überblickt: Nur er sieht, was kein anderer sieht, nur er bleibt, in seinen eigenen vier Wänden, unbelästigt von dem Fest der Laster, das Landi außerhalb wie einen Karneval der Perversionen feiert, in dem die meisten übrigen Figuren – d.h. alle, die unter dem Diktat ihrer Obsessionen einknicken – Hals über Kopf untergehen und aufgerieben werden.
Ist GIALLO A VENEZIA dadurch, dass er gerade die Männer ungeschoren lässt, die ihre Sexualität an Eier und Ferngläser ketten wie einen tollwütigen Hofhund, nicht, unter seiner schmierig wie Maschinenöl glänzenden Oberfläche, ein zutiefst moralischer, beinahe konservativer, reaktionärer Film?
Abb.2&3: Fabio beim Schmökern eines Bildbands voller pikanter Illustrationen des Franz von Bayros. (THE AMOROUS DRAWINGS OF THE MARQUIS VON BAYROS, Cythera Press, Erstauflage 1968) und: Eine der visuell reizvollsten Entscheidungen im gesamten Film - Der Mord an Mazia wird nicht nur in allzu deutlichen Nahaufnahmen ausagiert - man hört förmlich, wie ihr Muskelgewebe auseinandersurrt -, sondern außerdem in der Brille ihres Killers gespiegelt, und zwar so, dass sich ihren Gläsern die Fragmentierung ihres Körpers bereits als vollendet einschreibt, während er außerhalb der Reflexion noch mehr oder minder intakt ist. Man beachte auch die Dämonenfratze rechts im Bild. Was soll das sein? Ein assyrischer Totengott?
2. Dieses Argument könnte die Grausamkeit stützen, mit der vor allem drei Figuren – ein Zuhälter und zwei leichte Frauen – ihren Tod finden. Noch in früheren Gialli wie Massimo Dallamanos COSA AVETE FATTO A SOLANGE? (1972) oder Stelvio Massis 5 DONNE PER L’ASSASSINO (1974) werden die leidvollen Begegnungen zwischen Messern und weiblichen Intimbereichen lediglich zart angedeutet oder zurückhaltend bebildert. Landi indes schöpft in GIALLO A VENEZIA das Schockpotential solcher Szenen mit einer Hemmungslosigkeit aus, die vorliegenden Film möglicherweise – zumindest in den drei fraglichen Szenen – zu einem heftigsten Gialli überhaupt stempeln. Interessant ist, neben den skizzierten moralisch-ethischen Implikationen, die man, wenn man unbedingt will, in die Tötungsszenen hineininterpretieren kann, vor allem der unterschwellige surreale Impetus, der GIALLO A VENEZIA ansatzweise in die Nähe der (im positiven Sinne) sinnbefreiten Splatter-Exzesse eines Lucio Fulci rückt. Während die erste Mordszene noch weitgehend den Genre-Standards folgt – dass aufblitzende Messerklingen gleichgesetzt werden müssen mit aus ihren Hosenverstecken schnellenden Männerpenissen, ist selbst bei den elegantesten Genre-Vertretern wie Bava, Argento oder Martino kein Geheimnis -, und nur durch ihre explizite Härte auffällt – dass aus der Scheide sprudelnde Blut erinnert mich bereits wieder an die Urin-Tränen von Batailles Simone -, wagt Landi sich mit den folgenden beiden Morde auf eher untypisches Terrain – sowohl, was die spezifischen Tötungsarten anbelangt, als auch, was die Motivation des Killers betrifft. Bei dem handelt es sich, wie angedeutet, um einen jungen Mann, der Marzia krankhaft hinterherstellt, und alles und jeden, mit dem sie Kontakt hat, voller Eifersucht zum Teufel wünscht. Ihren Freund bzw. Zuhälter trifft es besonders übel: Zunächst schießt der angehende Philosoph ihn über den Haufen, greift danach zu einem zufällig im Hof von Marzias Wohnhaus herumstehenden Benzinkanister, mit dessen Inhalt er den Schwerverwundeten übergießt, und anschließend per Streichholz in Flammen aufgehen lässt. Erst ein hinzueilender Wachmann kann den Wüterich vertreiben. Viel hilft es indes nun nicht mehr, über dem brennenden Körper eine ebenfalls wie zufällig herumliegende Löschdecke zu breiten. Mit diesem Feuertanz offeriert Landi uns eine (surreale) Schock-Szene par excellene, bei der eindeutig die Attraktion im Vordergrund steht, und die ansonsten psychologisch kaum bis gar nicht motiviert ist. Gleiches gilt auch für das schlimme Ende, das Marzia letztlich nimmt. Ihr Verehrer hat sie gefesselt auf ihrem Küchentisch fixiert und schneidet ihr in aller Seelenruhe das rechte Bein vom Rumpf – eine Szene wiederum, die durchaus das Potential hat, einem den Magen um dreihundertsechzig Grad herumzuwirbeln. Auch in dem Fall siegt das Erbe eines spekulativen Attraktionskinos über die nachvollziehbare Ausdeutung der Täter-Psyche, sprich: WAS Landi uns zeigen möchte, ist weitaus wichtiger als eine narrative Legitimation des Gezeigten.
Auch die in Rückblenden aufgearbeitete Liebes- oder Leidensgeschichte von Flavia und Fabio gehorcht weit eher dem Primat einer selbstzweckhaften Schaulust denn Feinheiten in der Charakterentwicklung. Nachdem einmal postuliert worden ist, dass Fabios Sexualität nicht richtig tickt, ist seine Beziehung zu Flavia eigentlich nur noch ein langer Prozess der gegenseitigen Entfremdung, der Festigung einer Machthegemonie seitens Fabios, und eines konsequenten Durchspielens verschiedener sexueller Eigenwilligkeiten – (die aber, gemessen an den ungestümen Mordsequenz, tatsächlich noch halbwegs harmlos daherkommen.) Fabio wandelt sich sukzessive vom Akteur zum Voyeur, will heißen: Während er in der ersten Rückblende es noch genießt, mit Flavia vor den Augen eines zwielichtigen Gaffers zu kopulieren, überredet er sie in der letzten Rückblende dazu, vor seinen Augen den Penis eines siebzehnjährigen Bübchens zu bearbeiten. Witzigerweise scheint mir der Punkt der Erzählung, wo Fabios Wandel evident wird, eine Kinosituation zu sein: Flavia und Fabio haben Sex in einem Lichtspielhaus, und integrieren einen ihrer Sitznachbarn – dessen pulsierendes Glied wir, da musste ich schlucken!, in einer Großaufnahme in all seiner Pracht zu sehen bekommen -, während die übrigen Gäste mehr die (unsichtbare) Handlung auf der Leinwand interessiert als das, was auf den Sitzen vor oder hinter ihnen vor sich geht. Fabio kann noch so sehr behaupten – übrigens eine der amüsantesten Dialogzeilen -, seine Agenda sei es, die dunkle Natur im Menschen zu erforschen, klar ist: Seine Beziehung zu Flavia ist bald eine, in der das Patriarchat sich von seiner hässlichsten Seite zeigt, und GIALLO A VENEZIA alsbald ein Film, in dem es mehr um die Macht von Blicken geht als um eine kohärente, plausible Geschichte. De Pol irrt eierkauend wie ein Fremdkörper in einem Inferno aus Wollust und Totschlag umher, und kann im Endeffekt keinen einzigen Mord verhindern. Seine Rolle beschränkt sich auf das Zusammensammeln und Zusammensetzen von Scherben, was, erneut, ziemlich sinnig mit seiner angesprochenen Triebsublimation korrespondiert. Oder anders gesagt: In GIALLO A VENEZIA stellt Landi zwei Welten gegenüber, eine enthemmte dionysische und eine kulturell überformte apollinische, aus deren Zusammenprall eigentlich nur die Erkenntnis erwächst, dass der Graben zwischen ihnen im Grunde unüberwindbar ist.
Abb.4&5: Die Stube des Voyeurs und dort, prominent im Hintergrund: Der angebliche Elfenreigen eines mir (noch) unbekannten Künstlers sowie eine Abbildung des gleichen Gemäldes, wie ich es auf einer bekannten virtuellen Auktionsplattform gefunden habe. Was will uns der Künstler damit sagen? - und ja, ich meine tatsächlich Landi, und nicht so sehr den namenlosen Kitschmaler.
3. Eine Szene, die mich in all dem Schmuddel-Sex und all dem Gekröse dann doch recht überrascht hat, ist folgende: Flavia hat genug von Fabios obszönem Muschelessen, und flieht, wie schon erwähnt, ins Bettchen, um sich in Tränen aufzulösen. Fabio ist zu dem Zeitpunkt seiner Entwicklung schon geiler Bock genug, dass er selbst nach dem Versöhnungssex nicht anders kann, als zu einer Ersatzbefriedigung zu greifen. Er macht es sich im Wohnzimmer mit einem Bildband voller pikanter Zeichnungen des österreichischen Grafikers, Illustrators, Malers Franz von Bayros (1866-1924) gemütlich. Obwohl Landi sich für einen Schnitt, der nicht bloß formelhaft Bilder aneinanderbindet, ansonsten wenig interessiert, entdeckt er auf einmal die Parallelmontage für sich: Während Fabio – seltsamerweise einen eher melancholisch-gelangweilt denn erregten Eindruck erweckend – sich durch die amourösen Szenerien des schwülen Marquis blättert, verirren die Hände der im Nebenraum zurückgelassenen Flavia sich in ihre Leistengegend. In einer Bildsprache, die, mit einigem an gutem Willen, schon beinahe die erhabene Erotik eines Borowczyk evoziert, zeigt Landi uns über Minuten hinweg wie Flavia sich manuell zum Orgasmus bringt, und Fabio mit jeder Seite, die er umschlägt, mehr unausgesprochene Erkenntnisse über sich selbst und seine in eine Schieflage geratene Sexualität zu gewinnen scheint. An Dramatik ist die dazu eingespielte Musik kaum zu überbieten, und wenn Fabio traurig von seinem Büchlein hochschaut und knapp an der Kamera vorbeiblickt, worauf wir den splitterfasernackten Körper Frau Fanis auf blütenweißem Laken sehen, dann wirkt das fast so, als würden seine uneingestanden, bislang nur diffus geahnten Begierden auf ihrer Alabasterhaut wie ein Reigen Elfen auf einer unbeschriebenen Leinwand tanzen.
Mit einem Elfenreigen möchte ich meine Ausführungen dann auch schließen – und, glaubt mir, ich bin selbst erstaunt darüber, dass in einer Besprechung dieser Sleaze-Bombe ein Wort wie Elfenreigen überhaupt Platz findet. Es ist ein leicht übersehbares Detail, das dazu den Anlass gibt. An einer Wand der Wohnung des Voyeurs, dessen Präsenz GIALLO A VENEZIA einleitet bzw. abschließt, hängt eins dieser Schlafzimmerbild im Handtuchformat wie unsere Großeltern sie noch liebten, ein kitschiges Ölgemälde, das, soweit man das erkennen kann, zwei hübsch gewandete Frauen in einem Garten mit einem Knaben und vier geflügelten, blumenausstreuenden Wesen - Engeln, Putten oder Elfen? - sowie einige Turteltäubchen zeigt. Ich habe mir mal die Mühe gemacht, herauszufinden, um was für ein Bild es sich dabei handeln könnte. Immerhin, das Netz kennt zwar den Künstler nicht, und die konkreteste Angabe zur Entstehungszeit datiert das possierliche Treiben auf die 1920er Jahren, dafür schlägt mir ein Anbieter auf ebay, der ein Exemplar preiswert abzugeben hat, als Titel eben ELFENREIGEN vor. Wüsste ich es nicht besser, würde ich dieses Bild nun glatt in meine Interpretation einflechten, und das Vorhandensein eines derart unschuldigen, herzallerliebsten Gemäldes in der Stube genau des Mannes, dessen Voyeurismus letztlich zur Klärung aller verbliebener Rätsel maßgeblich beiträgt, als weiteres Indiz dafür deuten, dass Landi grundsätzliche diejenigen Figuren, die Unterdrückungsmechanismen für ihre Sexualität entwickelt haben, positiver konnotiert als diejenigen, die sich von ihrer Sexualität unterjochen lassen – vielleicht hat das Bild aber auch einfach genauso zufällig am Drehort herumgehangen wie zufällig ein Benzinkanister im Hof von Marzias Wohnhaus steht, und daneben eine Löschdecke bereitliegt…