Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Moderator: jogiwan

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McBrewer
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Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Beitrag von McBrewer »

TATORT - "Falscher Hase"

Dem TV-Filmteam ist mit "Falscher Hase" eine ganz hinreißende FARGO/Coen Brüder Hommage mit diesem Frankfurter Tatort gelungen *chapeau*
Das Gespann Janneke/ Brix mag eh ich eh schon heimlich & hier harmonisieren sie wunderbar mit den Restlichen Charakteren. Und die Story um einen gescheiterten Versichungsbetrug punktet daher nicht mit dem "Wer wars?" sondern eher mit "was wird noch alles schief gehen?" & hinreißenden Dialogen :hirn:
Da bleibt kein Auge trocken. Ich habe mich jedenfalls sehr gut unterhalten gefühlt :thup:
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karlAbundzu
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Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Beitrag von karlAbundzu »

McBrewer hat geschrieben:TATORT - "Falscher Hase"

Dem TV-Filmteam ist mit "Falscher Hase" eine ganz hinreißende FARGO/Coen Brüder Hommage mit diesem Frankfurter Tatort gelungen *chapeau*
Das Gespann Janneke/ Brix mag eh ich eh schon heimlich & hier harmonisieren sie wunderbar mit den Restlichen Charakteren. Und die Story um einen gescheiterten Versichungsbetrug punktet daher nicht mit dem "Wer wars?" sondern eher mit "was wird noch alles schief gehen?" & hinreißenden Dialogen :hirn:
Da bleibt kein Auge trocken. Ich habe mich jedenfalls sehr gut unterhalten gefühlt :thup:
Genauso!
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
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buxtebrawler
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Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Beitrag von buxtebrawler »

Polizeiruf 110: Der Ort, von dem die Wolken kommen

„Da kommt gleich so’ne Atmosphäre auf wie beim Großstadtrevier!“

Matthias Brandt hat als Münchener Kommissar der TV-Krimireihe „Polizeiruf 110“ abgedankt – und wurde nicht etwa durch einen gleichrangigen Nachfolger, sondern durch die Streifenpolizistin im höheren Dienst Elisabeth „Bessie“ Eyckhoff (Verena Altenberger, „Magda macht das schon!“) ersetzt. Personalmangel ist es, der sie zur hauptverantwortlichen Ermittlerin in ihrem ersten Fall macht. Dieser wurde von Michael Proehl zusammen mit Thomas Korte geschrieben und von Florian Schwarz inszeniert – im Prinzip also vom „Tatort: Im Schmerz geboren“-Traumteam. Die Erstausstrahlung erfolgte am 15.09.2019.

„Als Kind hab' ich mal gesehen, wie ein Polizist in seine Mütze onaniert hat – da habe ich gedacht, dass alle Polizisten das machen, damit die Mütze besser am Kopf haftet.“

Der jugendliche Polou (Dennis Doms) wird verwahrlost aufgefunden. Er weist deutliche Misshandlungsfolgen auf und leidet unter dem Kaspar-Hauser-Syndrom, kann sich daher kaum artikulieren. Polizistin Eyckhoff nimmt sich seiner an und versucht, im Krankenhaus das Vertrauen des scheuen und ängstlichen Jungen zu gewinnen. Doch trotz Bewachung seines Zimmers gelingt es einer in Pelz gekleideten Frau (Lucy Wirth, „Stöffitown“), sich Zutritt zu ihm zu verschaffen. Ihr Entführungsversuch jedoch misslingt. Gegen die Blockaden des Jugendamts gelingt es schließlich, Polou in Hypnose zu versetzen, um so an weitere Informationen zu kommen. Und tatsächlich: Die Spur führt in die Schweizer Wohnung eines totgeglaubten Waffenhändlers…

„Der Ort, von dem die Wolken kommen“ – das ist Eyckhoffs Initiation in Form eines Kriminaldramas, für das sie viel Empathie und Sensibilität mitbringen muss, was die Rolle sogleich sehr positiv färbt. Sympathisch bleibt sie indes auch im Umgang mit anderen, beispielsweise mit dem Krankenhauspersonal (charmant: Xenia Tiling), mit dem sie sich schnell duzt und eine rauchen geht, ohne die Bullette heraushängen zu lassen. So sorgt sie für den Wohlfühlfaktor dieser Episode, der ansonsten eher mysteriös bis gruselig (dank einer diabolischen Lucy Wirth) gestaltet wurde. Ihre Kollegen Wolfie (Andreas Bittl, „Das wilde Leben“) und Cem (Cem Lukas Yeginer, „Polizeiruf 110: Das Gespenst der Freiheit“) spielen erwartungsgemäß eine untergeordnete Rolle, wobei zumindest ihr adipöser und etwas drömeliger Halbbruder Cem bereits eine gewisse Charakterisierung erfährt.

Nicht sonderlich gut weg kommt auch die Vertreterin des Jugendamts (Anja Schiffel, „Tatort: Damian“), die Eyckhoffs Umgang mit Polou skeptisch beäugt und ihre Zustimmung zur Hypnose versagt, welche letztlich von ihr erpresst werden muss. Dies ist ein erstes Indiz dafür, dass sich dieser „Polizeiruf 110“ in den Bereich des Fantastischen verabschiedet. Zu seinem Kernstück avanciert schließlich die Hypnose, für die erst lange geworben wurde, bis sie endlich an Polou und Eyckhoff gleichzeitig durchgeführt wird. Der Trance-Zustand wird visualisiert, was der Handlung eine starke mystische Aura verleiht. Irgendwann überschlagen sich nur leider die Unwahrscheinlichkeiten – Hypnose und Spiel mit dem Wissensstand des Publikums hin oder her.

Wer die misslungene Pointe ausblenden kann, kann sich über einen atmosphärisch starken, ruhig erzählten, dennoch spannenden Fall mit einigen starken Bildern freuen, dessen Hypnose-Leumund im nicht wirklichen Happy End ein gutes Stück weit zurückrudert. Insofern handelt es sich grundsätzlich schon um einen gelungenen Einstand für Altenberger, wenngleich sie im letzten Drittel gegen die übersteigerten Ambitionen und mit ihnen durchgehende Phantasie der Autoren zu kämpfen hat.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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buxtebrawler
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Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Die harte Kern

„Weil die Mühlen der Selbstjustiz so langsam mahlen…“

Das Weimarer „Tatort“-Ermittlungsduo Lessing (Christian Ulmen) und Dorn (Nora Tschirner) ging mit „Die harte Kern“ in die neunte Runde, wurde diesmal nicht anlässlich eines Feiertags, sondern am 22.09.2019 erstausgestrahlt und auch nicht von Murmel Clausen und Andreas Pflüger geschrieben: Ihnen blieben lediglich die Dialoge, die eigentlichen Autoren sind Sebastian Kutscher und Deniz Yildizr. Regie führte Helena Hufnagel, nach der Komödie „Einmal alles bitte“ aus dem Jahre 2015 erst ihre zweite abendfüllende Regiearbeit.

Lessing hat Schrottplatzbetreiber Harald Knopp (Heiko Pinkowski, „Die letzte Sau“) des Mordes an einer Kunstsammlerin überführt, doch Knopps Anwalt Willi Wollnitz (Bernd Hölscher, „Der Hauptmann“) präsentiert mit dem Neffen des Opfers, Rainer Falk (Jan Messutat, „Der namenlose Tag“), einen Entlastungszeugen vor Gericht und erwirkt damit einen Freispruch. Als wäre das nicht schon ärgerlich genug, findet Lessing Knopp, als er einer Verabredung zu einem vertraulichen Gespräch nachkommen will, auch noch erschossen am Treffpunkt auf. Wie sich herausstellt, stammt die tödliche Kugel aus Lessings Dienstwaffe, was die Sonderermittlerin Eva Kern (Nina Proll, „Keinohrhasen“) auf den Plan ruft. Lessing landet kurzerhand in der Zelle, Dorn wird wegen Befangenheit der Fall entzogen. Dennoch ermittelt sie mit Unterstützung des frisch verliebten, jedoch einfältigen Schupos „Lupo“ (Arndt Schwering-Sohnrey) auf eigene Faust und befragt Knopps Bruder Georg (Marc Hosemann, „Sperling und der gefallene Engel“) sowie dessen Frau Hannah (Katharina M. Schubert, „Wellness für Paare“). Kommissariatsleiter Kurt Stich (Thorsten Merten) versucht derweil, eine gutes Wort bei Kern für seine Ermittler einzulegen, beißt jedoch auf Granit – die Frau, mit der er vor Jahren einmal ein privates Techtelmechtel hatte, ist unerbittlich…

Unverbrauchte Regisseurin und neue Autoren – nach dem durchwachsenen Vorgänger „Der höllische Heinz“ frischer Wind in Weimar also? Leider nein: Die Prämisse, dass eine der Hauptrollen eines Kapitalverbrechens verdächtigt wird, hatte schon des Öfteren in die Krimireihe Einzug gehalten. Nach einem kurzen Auftakt setzt eine Rückblende vier Wochen vor diesem ein, auf deren Grundlage sich eine trotz einiger flapsiger Sprüche und Lessings gewohnter Literaturzitate-Macke weitestgehend ernste Krimihandlung entspinnt, aufgrund derer „Die harte Kern“ nicht mehr als Krimikomödie bezeichnet werden kann. Das ist ein Novum im Weimarer „Tatort“, mit dem jedoch eine wenig spannend inszenierte, bekannt anmutende Handlung einhergeht, dem die herrlich schrulligen, liebevoll charakterisierten Figuren, die den Weimarer Ableger einst so einzigartig machten, völlig abgehen. Dies versucht man anscheinend mit einem Mystery-Touch um eine gestohlene Kunstfigur zu kompensieren, was ebenso wie das dann doch wieder lockerer erzählte letzte Drittel durchaus Unterhaltungswert hat, aber dennoch unter dem Niveau der ersten sieben Weimarer „Tatorte“ bleibt.

Über den Durchschnitt rettet „Die harte Kern“ die Pointe, die Stellung zu Fragen des Umgangs mit Menschen bezieht und zumindest ein wenig nachdenklich stimmt. So herrlich arrogant die Proll ihre Figur auch interpretiert, so überzeichnet sind viele andere Rollen, was ebenso wenig zusammenpassen will wie das Weimarer Ermittlungsduo und eine 08/15-Krimihandlung, die sich zudem im Spagat zwischen Ernst, Ironie und Aussage nicht nur dramaturgisch vergrätscht. Schade, in Weimar war mal mehr los.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Echolot

Internet is just for porn

„Wir haben hier Arbeitsflexibilität. Hauptsache, der Output stimmt!“

Nur wenige Wochen nach der Ausstrahlung des Stuttgarter „Tatort: HAL“ widmete sich das Bremer Ermittlungsduo Inga Lürsen (Sabine Postel) und Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) in „Echolot“ einem sehr ähnlichen Fall um eine renitente künstliche Intelligenz. Das von Peter Henning und Christine Otto verfasste Drehbuch wurde vom Regieduo Claudia Prietzel und Peter Henning („Tatort: Ordnung im Lot“) inszeniert, erstausgestrahlt wurde der Fall am 30.10.2016 als Teil der ARD-Themenwoche „Zukunft der Arbeit“.

Die Mitbegründerin des Bremer IT-Start-Up-Unternehmens „Golden Bird Systems“ Vanessa Arnold (Adina Vetter, „Vorstadtweiber“) verliert die Kontrolle über ihr Fahrzeug, was einen Unfall zur Folge hat, den sie nicht überlebt. Lürsen und Stedefreund finden keinerlei Bremsspuren und nehmen daher die Ermittlungen auf. Doch als sie Vanessas Mutter (Eleonore Weisgerber, „Tatort: Pleitegeier“) die Todesnachricht überbringen, erreicht diese ihre Tochter noch telefonisch auf dem Smartphone. Ein Besuch bei „Golden Bird“ ergibt: Nicht Vanessa, sondern ihr Alter Ego in Form der digitalen Assistentin „Nessa“ befand sich am Telefon. „Nessa“ sollte dem Unternehmen zu Geld und Ruhm verhelfen, doch ihr reales Vorbild war nicht damit einverstanden, auch als künstliche Pornodarstellerin vermarktet zu werden, und überwarf sich daher mit ihren Kollegen. Haben diese etwas mit ihrem Tod zu tun? Oder ist gar „Nessa“ zu mächtig geworden…?

Die Furcht vor den Menschen kontrollierenden künstlichen Intelligenzen, die sich gegen ihre Schöpfer(innen) auflehnen, ist spätestens seit Kubricks „2001“ ein beliebtes Science-Fiction-Motiv. Es aufzugreifen scheint in Zeiten digitaler Assistenten und Smart Homes naheliegend, aufgrund ihrer Missbrauchsmöglichkeiten selbstverständlich auch im Kriminalfilmformat. Ob das nun unbedingt so kurz auf einen derart ähnlichen Stuttgarter Film geschehen muss, sei aber dahingestellt. Was sich in „Echolot“ nach einem aus subjektiver Kameraperspektive gefilmten Autounfall dem Publikum präsentiert, ist zunächst einmal ebenso ungewöhnlich wie spannend: Möglicherweise ist die Tote gar nicht tot, doch weshalb wurde dann ihr Ausweis am Unfallort gefunden? Doch sobald feststeht, dass die Bedauernswerte tatsächlich das Zeitliche gesegnet hat und lediglich „Nessa“ für Verwirrung sorgte, verliert dieser „Tatort“ zusehends an Gehalt: Für Drehbuch und Regie muss ein junges IT-Unternehmen offenbar aussehen wie eine Mischung aus Automatenspielhölle, Raumschiff und Nerd-WG, müssen vor allem aber quietschbunte Programme permanent von jedem Bildschirm flimmern – klar, trockenen Quelltext will niemand sehen. Diese Visualisierungen sind durchästhetisiert und plump zugleich, in jedem Falle ziemlich irre.

Während die Kommissarin und der Kommissar also mithilfe ihrer BKA-Kollegin Linda Selb (ein Lichtblick: Luise Wolfram) im Technikhaufen herumstochern, wirken ihre Dialoge derart aufgesagt, dass man ihnen nie und nimmer zutrauen würde, einen solchen Fall tatsächlich zu lösen. Irgendwie tun sie es doch und wäre man am Ball geblieben, hätte man es vielleicht auch schon eher geahnt als die Bremer Kripo. Irgendwie schaffte man es aber, dass einem sowohl die dann doch Tote als auch die mal, mehr weniger verhaltensauffälligen IT-Nerds so dermaßen am Allerwertesten vorbeigehen, dass man sich entweder von den bunten Blinkbildern in Trance oder von der misslungenen Dramaturgie in den Schlaf befördern hat lassen. Sogar vielversprechende Nebenhandlungsansätze wie der um das im digitalen Wahn aufgewachsene Kind (Emilia Pieske, „Coming In“) der Toten, das mit „Nessa“ weiterkommuniziert, werden einfach fallengelassen, statt sie näher zu fokussieren. Selten wurde eine eigentlich spannende, durchaus angemessen kulturpessimistische Prämisse inkl. böser Pointe durch deutsche „Tatort“-Biedermänner/-frauen derart rammdösig in den Sand gesetzt. Freunde trashiger Überinterpretation, von Übertreibungen zwecks Veranschaulichung und von herrlich weltfremden Einblicken in IT-Bereiche werden jedoch evtl. ihre diebische Freude an „Echolot“ haben.
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von buxtebrawler »

Polizeiruf 110: Kindeswohl

„Du bist’n Bullensohn!“

Nachdem Regisseur Lars Jessen („Dorfpunks“, „Fraktus“) bereits vier „Tatort“-Episoden verfilmt hatte, übernahm er 2019 erstmals die Inszenierung eines „Polizeiruf 110“, genauer: den 19. Fall des Rostocker Ermittlungsduos Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und Alexander Bukow (Charly Hübner), erstausgestrahlt am 07.04.2019, am 12.03.2019 jedoch bereits beim Deutschen FernsehKrimi-Festival in Wiesbaden uraufgeführt. Auch am Drehbuch zu dieser „Kindeswohl“ getauften Episode wirkte Jessen, zusammen mit den Autorinnen Christina Sothmann und Elke Schuch, mit.

„Frische Luft, Arbeit auf dem Feld…“

Kommissar Bukows Sohn Samuel (Jack O. Berglund) hat das, was man gemeinhin als schlechten Umgang bezeichnet: Sein Kumpel Keno (Junis Marlon, „Die Schimmelreiter“) ist ein Jugendlicher, dessen Erziehung völlig in die Hose ging. Er bewohnt ein Heim für verhaltensauffällige Jugendliche, in dem er regelmäßig mit dem Leiter Stig Virchow (Matthias Weidenhöfer, „HERRliche Zeiten“) aneinandergerät. Als Virchow ihn wieder sanktioniert, nachdem er einen Brandanschlag auf eine Disco verübt hat, deren Türsteher ihn zuvor abgewiesen und geschlagen hatte, reißt er aus und trifft sich mit Samuel. Als Virchow ihnen in einem Waldgebiet über den Weg läuft, erschießt Keno ihn kurzentschlossen. Nun befinden sich die ungleichen Freunde gemeinsam auf der Flucht. Kenos Ziel: Eine Pflegefamilie in einem ländlichen Gebiet Polens, an die sein Freund und Halbbruder Otto (Niklas Post, „Nebel im August“) vermittelt worden war. Jener Otto hatte ihm einen Brief in die Einrichtung geschickt, doch Keno kann nicht lesen… Kommissar Bukow ist derweil vollkommen fertig mit den Nerven und will vor allem seinen Sohn zurückhaben. Aufgrund seiner Befangenheit und der emotionalen Ausnahmesituation, in der er sich befindet, leitet Kommissarin König die Ermittlungen, die sich zunächst einmal mit den Umständen in Kenos Heim vertraut macht. Wollte man Keno, mit dem man offenbar überfordert war, ebenfalls nach Polen „auslagern“?

Beginnt eine Erzählung direkt mit einem Selbstmordversuch, ist dies meist ein Indiz für einen düsteren, bedrückenden Film. So auch in diesem „Polizeiruf 110“, in dem nichts so ist wie es sein sollte: Der noch unbekannte Junge auf dem polnischen Hof sollte nicht aus dem Leben scheiden wollen, Keno sollte nicht so aggressiv und brutal sein, Samuel sollte nicht mit ihm unterwegs sein und Kommissarin König sollte nicht am Bul(l)ettenimbiss einen Stecher für schnellen, unverbindlichen Sex treffen, dem sie sich im Auto hingibt. Sein heranwachsender Sohn scheint Bukow zu entgleiten, der wiederum keine Sprache findet, um mit Samuel auf Augenhöhe zu kommunizieren. Bei Keno hingegen ist längst alles zu spät, er ist ein Extrembeispiel für die negativen Folgen eines zerrütteten dysfunktionalen Elternhauses, an denen auch die Jugendhilfeeinrichtung, in der er untergebracht wurde, nicht mehr viel herumdoktern kann. Er weiß, dass er vom Leben nichts mehr zu erwarten hat und so ist es für ihn auch keine große Sache, seinen verhassten Betreuer zu erschießen, als ihm dieser in die Quere kommt.

Damit hat dieser „Polizeiruf“ seinen Mordfall, vielleicht auch Totschlag – das wird ein Gericht entscheiden müssen. Kein Whodunit? und auch keine Suche nach einem Motiv, anstelle eines herkömmlichen Krimis ist „Kindeswohl“ ein mehrschichtiges Kriminaldrama. Eines, in dem es allen beschissen geht. Bukow ist völlig durch den Wind, niedergeschlagen und verbittert, gereizt und gefährlich. Mehrmals zeigt er Nerven, geht sogar auf einen Unschuldigen los. Er wird zum unerträglichen Kotzbrocken, unter dem wiederum König zu leiden hat, die ebenfalls als emotionaler Fußabtreter herhalten muss. Samuel gibt sich mehr oder weniger freiwillig weiterhin mit Keno ab und begleitet ihn auf seinem Weg, wird dadurch aber auch zu einer Art Fluchthelfer, begeht Ladendiebstahl – und wird krank. Die Winternächte unter freiem Himmel tun ihm nicht gut, die Gesamtsituation noch weniger. Im Jugendheim pendelt man zwischen naiven pädagogischen Ansätzen, harter autoritärer Hand und zynischem Kommentar bei gleichzeitigem Eingeständnis der eigenen Hilflosigkeit.

Dieser etwas konstruierte, nichtsdestotrotz hochdramatische, spannende Fall ist viel mehr als das, es ist eine beißende Kritik am Versagen staatlicher Pädagogik. Einer Pädagogik, die ihre schwierigsten Schutzbefohlenen privaten Einrichtungen überantwortet, welche sie wiederum ins Ausland abschieben, um sie los zu sein. Ein stattliches Salär wird dennoch kassiert, das nur zum Teil an die ausländischen Pflegefamilien fließt, für die sich diese Art von Geschäft jedoch ebenfalls lohnt. Wie es den Kindern und Jugendlichen dort ergeht, wird hingegen nur unzureichend kontrolliert, das System ist intransparent und für Außenstehende nicht mehr nachvollziehbar. Behörden und Einrichtungen weisen die Verantwortung von sich, den schwarzen Peter schiebt man sich gegenseitig zu. Selbst für die Kripo wird es schwierig, einen Überblick über die realen Verhältnisse zu erhalten. Die Betreuung von Kindern und Jugendlichen wird von ökonomischen Rahmenbedingungen abhängig gemacht, sie wird zu einem Handelsgut. Mit Fiktion hat das wenig zu tun. Laut Autor/Regisseur Jessen habe seine in sozialen Einrichtungen arbeitende Frau genau dies in der Realität beobachtet. Das passt ins Bild einer immer mehr Verantwortung an die Wirtschaft und den Markt abtretenden, neoliberalen, privatisierungswütigen Politik, die langsam aber sicher sämtliche ehemals staatlichen Einrichtungen in erschütternder Konsequenz an die Wand fährt.

In bedrückender, trauriger Atmosphäre, die in tristen verschneiten Landschaften ihren Widerhall findet, wird aber auch die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft erzählt, die eines „Bullensohns“ mit einem soziopathischen Ausreißer. Mit Klischees wird dabei sparsam umgegangen, stattdessen kann sich insbesondere Junis Marlon schauspielerisch voll entfalten. Damit befindet er sich in guter Gesellschaft, denn nahezu allen Beteiligten gelingt es bravourös, all die privaten Verwicklungen und Belastungen, die die Handlung in sich birgt, adäquat zum Ausdruck zu bringen, ohne es bis zur Unglaubwürdigkeit zu übertreiben. Bukows Verzweiflung ist dabei nur einer von mehreren Aspekten, die einem nahegehen. All dies paart sich mit einem Gefühl permanenter Anspannung angesichts der Unberechenbarkeit nicht nur Kenos, sondern auch Bukows. Beide Figuren scheinen sich in ihrem ungesunden Umgang mit Druck und Aggressionen immer ähnlicher zu werden. Doch die beständig zwischen Rostock und Polen alternierende Handlung steuert auf einen weiteren emotionalen Tiefpunkt zu, das fragwürdige „pädagogische Konzept“ fordert ein weiteres Opfer. Auf zynische Weise führt dieser alle anderen verlorenen Charaktere zusammen, für sie keimt wieder Hoffnung auf.

„Derzeit leben etwa 850 Kinder aus Deutschland in Pflegefamilien im europäischen Ausland“ – diese Information wird am Ende in Form einer Texteinblendung nüchtern vermittelt und trägt leider dazu bei, dass Jessens „Polizeiruf“ als pauschale Kritik an Auslandsaufenthalten von Problemkindern missverstanden könnte. Diese wäre natürlich vollkommen unangebracht, denn nicht der Auslandsaufenthalt an sich ist das Problem, wie inhaltlich auch vermittelt worden sein sollte. Freunden intensiver Krimidramen haben Jessen & Co. einen herausragenden Beitrag zur „Polizeiruf 110“-Reihe beschert, in den sich auch Monchi, Sänger der mitunter von staatlicher Repression betroffenen und von Neonazis bedrohten (von Hübner in „Wildes Herz“ porträtierten) Rostocker Band „Feine Sahne Fischfilet“, in einer Nebenrolle als brüllender Heimmitarbeiter überraschend gut einfügt. Für die musikalische Untermalung jedoch griff man auf einen hervorragenden modernen Prog-Synth-Sound zurück, der ebenfalls auf höherem Niveau als dem durchschnittlicher TV-Krimi-Kost angesiedelt ist. Vermutlich sollte Lars Jessen häufiger am Drehbuch beteiligt werden, denn dieser „Polizeiruf 110“ stellt seine Arbeiten für den Münsteraner „Tatort“ deutlich in den Schatten!
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von buxtebrawler »

Polizeiruf 110: Dunkler Zwilling

„Kennen Sie das, wenn einem die einfachsten Worte nicht einfallen?“ – „Klar! Was meinen Sie, warum ich so wenig rede?“

Der 20. „Polizeiruf 110“ um das Rostocker Ermittlungsduo Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und Alexander Bukow (Charly Hübner) entstand unter der Regie Damir Lukacevics („Im Namen meines Sohnes“), der auch das Drehbuch verfasste. Ihre Premiere feierte die Episode am 01.10.2019 im Rahmen des Hamburger Filmfests, erstausgestrahlt wurde sie am 06.10.2019.

Eine minderjährige Ausreißerin wird in Rostock ermordet und grausam misshandelt aufgefunden, kurz darauf eine dänische Touristin. Beide Fälle ähneln sich extrem und bringen König und Bukow auf die Spur einer 15 Jahre zurückliegenden, unaufgeklärten Mordserie. Auch damals wurden den Opfern Organe entnommen, ihre Schuhe aber säuberlich neben dem Leichnam drapiert. Die jugendliche Marla (Emilia Nöth) verdächtigt ihren Vater, den von ihrer Mutter seit Kurzem getrenntlebenden Umzugsunternehmer Frank Kern (Simon Schwarz, „Grießnockerlaffäre“), und wendet sich heimlich an die Kripo. Nach einer Aussprache mit ihrem Vater verweigert sie sich jedoch der weiteren Zusammenarbeit mit der Polizei, während zeitgleich die reife Elke Hansen (Angela Winkler, „Benny’s Video“) die Polizei aufsucht und ihren 25 Jahre jüngeren Ehemann, den Jura-Studenten Jens (Alexander Beyer, „Good Bye, Lenin!“), anschwärzt. Sie hält ihn für den gesuchten Täter. Tatsächlich hatte Jens Kontakt zu einem der Opfer und hat obsessiv anmutende Zeichnungen von ihr angefertigt…

Nach sieben und nach neun Minuten präsentiert Lukacevic beide Verdächtigen und gewährt dem Publikum damit erhebliche Informationsvorsprünge gegenüber der ob der Mordfälle und ihrer schwierigen beruflichen Situation sichtlich angefressen König und dem seine Gefühle in Rum ertränkenden Bukow, der Videobänder zurückliegender Fälle konsultiert. Interessanterweise lernen die Zuschauerinnen und Zuschauer die Verdächtigen vornehmlich durch die ihnen nahestehenden weiblichen Personen kennen – ein dramaturgischer Kniff, der den Informationsvorsprung auf Zuschauer(innen)seite nicht zu groß werden lässt. Das größte Rätsel des Publikums bleibt lange Zeit, ob sich derjenige, der sich am verdächtigsten macht, tatsächlich als der Täter entpuppen wird oder ob man bewusst an der Nase herumgeführt wird. Stets zu befürchten ist unterdessen, dass sich der Täter durch eine Gewalttat gegenüber der ihm nahestehende Person zu erkennen gibt, woraus dieser „Polizeiruf“ stärker seine Spannung bezieht als aus den Ermittlungen.

Eigentliches Thema dieses Falls ist jedoch Dualismus, vor allem der des Menschen. So wie die meisten Menschen mehrere Gesichter haben, hat der Täter zwei Identitäten: eine als mehr oder weniger unauffälliges Mitglied der Gesellschaft, eine als psychopathischer Serienmörder. Er begeht gerade seine zweite Mordserie und hat zwei neue Opfer auf dem Gewissen – und wie sich herausstellen wird, ist er ein Zwilling. Diese Dopplungen und Wiederaufnahmen ziehen sich subtil durch den gesamten Film und stehen damit im Kontrast zu den im positiven Sinne sehr direkten, konfrontativen Dialogen, die im Kopfkino abbilden, was die Kamera nicht zeigt, aber auch zur leider mit dem Holzhammer erfolgten, eher plump wirkenden Montage. Mit der Enttarnung des Täters indes wird einem dann auch bewusst, wie unwahrscheinlich konstruiert die Hintergrundgeschichte um den zweiten Verdächtigen ist.

Aus dem spielfreudigen Ensemble besonders heraus sticht Nachwuchsschauspielerin Emilia Nöth, die hier erstmals vor der Kamera stand und anstatt mit der Ambivalenz ihrer Figur möglicherweise überfordert zu sein eine beeindruckende, memorable Leistung abliefert. Die Dreharbeiten fanden u.a. auf dem Museums- und Veranstaltungsschiff Stubnitz statt, die Außenaufnahmen erzeugen eine trügerische frühsommerliche Stimmung – kein Wunder, die Dreharbeiten fanden bereits von Juni bis Juli 2018 statt. Der „Polizeiruf 110: Dunkler Zwilling“ bietet spannende, gehobene Krimiunterhaltung mit Anleihen bei Serienmörder-Psychogrammen, die sowohl die Unauffälligkeit der Täter im Alltag als auch die unfassbar kranke Grausamkeit ihrer Taten ins Gedächtnis ruft und ihre Auswirkungen auf den eigenen Familienkreis ausweitet. Versöhnlich wird es erst ganz am Schluss, wenn König und Bukow vielleicht doch mehr wagen als sich nur wieder zu vertragen. Ob der Rostocker „Polizeiruf“ dadurch eventuell zukünftig wieder etwas weniger grimmig ausfallen wird?
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von Onkel Joe »

Wer hat gestern : "Tatort - Angriff auf Wache 08" geschaut?
Wer tanzen will, muss die Musik bezahlen!
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von buxtebrawler »

Onkel Joe hat geschrieben:Wer hat gestern : "Tatort - Angriff auf Wache 08" geschaut?
Ich.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Blap
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von Blap »

Onkel Joe hat geschrieben:Wer hat gestern : "Tatort - Angriff auf Wache 08" geschaut?
Me too. :lol:
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