Ariès (1914-1984) war von Haus auf Mediävist, und hat sein akademisches sowie physisches Leben mit einem Werk beschlossen, vor dem zumindest ich noch immer vor Staunen stehe. 1976 erscheinen, quasi als Prolog und erste Standort-Bestimmung, die "Studien zur Geschichte des Todes", 1980 dann die tatsächliche "Geschichte des Todes", ein - in der mir vorliegenden Ausgabe - Wälzer von fast neunhundert Seiten. Dort legt Ariès unter der Fragestellung: Wie hat das Abendland sich eigentlich über die Jahrhunderte hinweg zu Phänomenen wie Tod und Sterben verhalten?, eine umfangreiche Materialsammlung vor, angefangen von Grabinschriften über Privatdokumenten wie Testamente oder Briefzeugnisse Hinterbliebener bis hin zu künstlerischen (lyrischen, epischen, plastischen) Repräsentation des Themas. Er kommt zu dem Schluss: In einer Epoche des gezähmten Todes (etwa bis zum Spätmittelalter) hat der Tod domestiziert unter den Menschen gelebt, er ist nicht unbedingt ein gerngesehener Gast, aber auch keiner, vor dem man Furcht und Schrecken haben müsste, außerdem ist er integriert in einen heilsgeschichtlichen Kontext, der ihn zu keinem finalen Schlusspunkt macht, stattdessen schlafen die Toten nur, wartend auf die Wiederkunft Christi. Dann aber, ab der Frühen Neuzeit, setzt allmählich ein Wandel ein: Der Tod wird zunehmend individualisiert, privatisiert, die Gesellschaft beginnt, ihn einerseits aus ihrer Mitte zu verdrängen und andererseits, ab der Aufklärung, wissenschaftlich zu bändigen und zu objektivieren. Diese Verwilderung und Ausbürgerung des Todes hat ihren Höhepunkt im 20. Jahrhundert, wo das Tabu der Sexualität endgültig durch das Tabu des Todes ersetzt worden ist, man isoliert stirbt, höchstens noch mit den Engsten um sich, und angeschlossen an ein EKG, das das vergehende Leben nach technologischen Parametern visualisiert - und es damit gewissermaßen konsumierbar macht.
Was der Historiker Ariès - und das wäre mein einziger wirklicher Kritikpunkt an seiner Arbeit - kaum bis gar nicht berücksichtigt, das ist, dass der Tod zwar einer allgemeinen Verdrängung zum Opfer gefallen ist, er dennoch aber, sozusagen über einen medialen Umweg, jeden Nachmittag in unsere Wohnzimmer flackert, und zwar in Szenen des hauptsächlich gewaltsamen Sterbens auf dem Fernseh- oder Internet-Schirm. Diese Tode sind zwar oft keine realen, tragen aber doch, meine ich, allein durch ihre Rezeption (als Symbolwerte) dazu bei, dass das Todes-Bild einer Gesellschaft sich grundlegend ändert. Umso erstaunter bin ich, festzustellen, dass Ariès in seinen "Bildern zur Geschichte des Todes" so etwas zusammenzustellen versucht hat wie einen "imaginären Film", montiert aus einer Unzahl von Photographien, die seine "Geschichte des Todes" visuell untermauern sollen. Erneut ist es schlicht unglaublich, was man in dem großzügigen Bild-Band alles zu sehen und von einem klugen, spannenden, literarisch hochwertigen Kommentar erklärt bekommt. Ariès nimmt einen dort mit auf eine Dia-Show von der Antike bis in die Gegenwart, vorbei an altrömischen Grabstätten, mittelalterlichen Handschrift-Illustrationen bis hin zu bürgerlichen Gemälden, die Beerdigungsprozessionen zeigen. Da sein Text exakt auf die abgedruckten Bilder abgestimmt ist, fällt es leicht, das Ganze tatsächlich wie einen inneren Film an sich vorbeiziehen zu lassen, mit Ariés' Stimme als Off-Kommentar im Hinterkopf. Wer schon immer wissen wollte, wie eigentlich Leute im Spätmittelalter beigesetzt wurden, oder welche einschneidende Veränderungen es im 18. Jahrhundert in die Friedhofsarchitektur gab, oder weshalb man in den frühen Tagen der Photographie Kinderleichname in ihren Sonntagskleidern hergerichtet hat, der wird wahrscheinlich genauso begeistert sein wie ich von diesem intermedialen, intelligenten Streifzug durch Krypten, Familien-Photoalben, berühmte letzte Bilder und in Stein gemeißelte Epitaphe.
Zudem: "Bilder zu einer Geschichte des Todes" dürfte in der deutschen Ausgabe von Hanser (1984) antiquarisch für unter zwanzig Euro zu bekommen sein.