Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Verfasst: Di 27. Sep 2011, 18:12
Lärm & Wut
„Lärm & Wut“ des französischen Autors und Regisseurs Jean-Claude Brisseau aus dem Jahre 1988 ist eine eigenwillige Mischung aus Milieustudie, Sozialdrama und „Coming of age“-Streifen. Angesiedelt in einer französischen Vorstadt – in Frankreich Orte sozialer Brennpunkte – erzählt Brisseau die Geschichte des 13- oder 14-jährigen Bruno, der, gerade zugezogen, nie seine Eltern sieht, aber dafür seinen Nachbarn und Mitschüler Jean-Roger kennenlernt, einen ausgemachten Rabauken und Unruhestifter, sowie dessen Familie.Irgendwo in den sozialschwachen Betonvorstädten von Paris lebt der 13jährige Bruno, ein verträumter Junge mit seiner Mutter, die er fast nie sieht, da sie ständig arbeiten muß. Bruno ist phantasievoll und lebt nicht selten in einer Traumwelt, wo ihm immer eine in weiß gekleidete Frau erscheint. In der Schule freundet sich Bruno mit dem wilden Jean-Roger an, einem Jungen aus zerrüttetem Haus, der machen kann, was er will. Als eine halb entmutigte Lehrerin dem talentierten Bruno Extrastunden geben will, kommt es durch den eifersüchtigen Jean-Roger zu einer Katastrophe...
Soziale Isolation, emotionale Vereinsamung, das Fehlen von elterlicher Geborgenheit, anerkannten Autoritäten bzw. schlicht das Aufwachsen im Ghetto, auf sich allein gestellt, sind die Themen dieses hochinteressanten Films. „Lärm & Wut“ zeichnet die Verrohung, die Gewalt, die Desillusionierung, aber auch die Sehnsüchte und Hoffnungen der Bewohner der Betonwüsten nach und setzt den sensiblen, intelligenten Bruno in Kontrast zum soziopathischen Jean-Roger, einer tickenden Zeitbombe aus wahrlich antisozialen Verhältnissen. Beide freunden sich miteinander an, wobei von vornherein klar ist, dass es sich mehr um eine Zweckbeziehung als alles andere handelt: Bruno sucht in seiner Einsamkeit Kontakt und Anschluss, Jean-Roger hingegen eigentlich die Anerkennung seines Vaters und nimmt solange Vorlieb mit Bruno, von dem er glaubt, dass er zu ihm heraufblicken würde.
Bei all dem bedient sich Brisseau aber keineswegs eines dokumentatisch-nüchternen Stils, obgleich er auch zu keinem Zeitpunkt die Moralkeule schwingt oder von oben herab gefilmtes, pädagogisches Kino im Sinn hatte. Nein, Brisseau verfremdet die unwirtliche Realität und arbeitet mit Übertreibungen, aus denen häufig ein spezieller Humor entsteht, ausdrucksstarken Bildern, die abseits von Ghettoromantik Hoffnungsschimmer zulassen sowie surrealen Traumsequenzen Brunos, die, in blaues Licht getaucht, aus seinem symbolschwangeren Zeisig einen kräftigen Falken machen und ihm eine nackte Schönheit erscheinen lassen, die ihn zu verführen scheint, deren Rolle aber nicht näher erläutert wird.
Eine Schlüsselrolle wird dabei Jean-Rogers Vater Marcel zuteil, großartig verkörpert von Bruno Cremer, der zunächst als verabscheuungswürdiger Inbegriff des asozialen Gewalttäters erscheint, wie sich später herausstellen soll sich aber nach seinen Kriegserfahrungen bewusst für ein sozialdarwinistisch angehauchtes Leben am Existenzminimum entschieden und für System und Gesellschaft nur noch Verachtung übrig hat. Gerade in Zusammenhang mit diesem Charakter kommt es zu vielen gleichsam bizarren wie amüsanten Szenen, die nicht zuletzt dank Cremers Bildschirmdominanz sehr erinnerungswürdig ausfielen. Generell erlaubt „Lärm & Wut“ bei aller Abnormität stets den Zugang zu seinen Charakteren, auf Schwarzweißmalerei wird angenehmerweise verzichtet. Das hat zur Folge, dass der Zuschauer während der Eskalationen dieselbe Ohnmacht verspürt, die den gesamten Film durchzieht und auch keine Antwort beispielsweise auf die Frage parat hat, was man mit einem vollkommen perspektivlosen Jugendlichen Jean-Roger anfangen solle, der überhaupt keinen Sinn mehr darin sieht, dem Unterricht zu folgen oder seine Lehrerin als Autoritätsperson zu respektieren.
Jene Lehrerin, eine bildhübsche, junge Frau, die wie aus einer Pubertätsphantasie entsprungen scheint, freundet sich schließlich mit Bruno an, woraufhin es zum Eklat zwischen Bruno und Jean-Roger kommt, der in einem bitteren Finale sein Ende findet.
Brisseau packte ein verdammt heißes Eisen an, sorgte folgerichtig für einen Skandal und dürfte beispielsweise einen Mathieu Kassovitz maßgeblich für dessen Meisterwerk „Hass“ aus dem Jahre 1995 beeinflusst haben. Dass das Thema nach wie vor und im wahrsten Sinne des Wortes brandaktuell ist, haben nicht zuletzt die schweren Auseinandersetzungen zwischen meist jugendlichen Bewohnern jenes Milieus und der französischen Staatsmacht gezeigt, die das Land Mitte des vergangenen Jahrzehnts erschütterten. Ein Thema, für das Brisseau keine sozialen oder gar politisch.ideologischen Lösungsmöglichkeiten aufzeigt, sondern das er mithilfe ambitionierter Jung- und Charakterdarsteller ins Bewusstsein rückte und damit einerseits einen wichtigen gesellschaftlichen Diskussionsbeitrag lieferte sowie andererseits seine eigenen Erfahrungen und Beobachtungen künstlerisch verarbeitete – zum Genuss des Freundes des anspruchsvolleren, aber nicht verkopften, eigenständigen europäischen Kinos.