Kürzlich unternahm ich eine mehrtägige Reise zu Gleis, zu Schiff, meist aber zu Fuß den Rhein hinauf von Mainz bis Koblenz. Natürlich habe ich mein Bündel Brentano-Gedichte dabeigehabt (wegen Bacherach und der Loreley), und Victor Hugos Bericht seiner eigenen Rheinreise 1940, und ein Bändchen Stefan George (wegen seinem Geburtsort Bingen) usw., aber von all dem Zeug, das ich las, hat mich dann doch am meisten Nathanael Wests DAY OF THE LOCUST von 1939 beeindruckt.
West, in den 30ern als Drehbuchautor in Hollywood verheizt, seziert in seinem Roman die sogenannte Traumfabrik anhand eines verkrachten Künstlers namens Tod Hackett, der als Hintergrundmaler und Kostümbildner in Los Angeles gelandet ist, und um den herum sich ein ganzes Panorama ebenso bemitleidenswerter, von illusorischen Wünschen, Verzweiflung, Geltungsbedürfnis, Selbsthass getriebene Existenzen gruppieren wie er selbst eines ist - darunter die erfolglose Schauspielerin Faye, die sich nebenbei als Prostituierte verdingt, und glaubt, wenn sie nur genügend kostspielige Kleidungsstücke in ihrer Garderobe hängen hat, wird das schon klappen mit den Blockbuster-Hauptrollen, den Cowboy Earle, der sich mit Statistenrollen in B-Western über Wasser hält, und ansonsten tatenlos mit seinen mexikanischen und indianischen Schicksalsgenossen vor einem Geschäft für Pferdesattel herumhängt, den Kinderdarsteller Adore, der von seiner Mutter wie ein dressiertes Äffchen vorgeführt wird, und sich dem auf ihm lastenden Leistungsdruck in Streichen entledigt, die schon mehr als nur knapp puren Sadismus streifen, oder den Hotelangestellten Homer Simpson (!), der, wie nahezu jede männliche Figur des Romans, ein Auge auf Faye geworfen hat, schließlich allerdings von dieser emotional und finanziell gemolken wird wie eine Milchkuh, und daran zugrundegeht. Wests Prosa ist nüchtern, pointiert, schmeckt nach Hemingway und Fitzgerald, wenn er seine Protagonisten und deren Handlungen zumeist aus einer distanzierten Außenperspektive beschreibt, kann aber genauso gut unvermittelt in ihre Innenleben hineinkippen, und dann äußerst trostlose, beinahe nihilistische Gedankengänge zutage fördern. Es gibt einen semi-surrealistischen Streifzug unseres Helden Tod durch überbordende Studiokulissen, die in der Schlacht von Waterloo für irgendeinen Historienstreifen endet; die kollektive Sichtung eines Stummfilm-Pornos im Hause einer ehemaligen Schauspielerin, die sich nun als Zuhälterin etabliert hat; die minutiöse Schilderung eines Hahnenkampfes, die mir zum Unterträglichsten gehört, was ich in letzter Zeit gelesen habe; und im Finale wiederum die packendste Beschreibung der, um Le Bon zu zitieren, "Psychologie der Massen" der mir bekannten Literaturgeschichte.
An mir ist der Roman vorbeizogen wie ein atemloser Film, der im Hollywood der 30er sicherlich nie auf einer Leinwand gelandet wäre: Man stelle sich Schenks "goldenen Handschuh" vor, nur nicht ganz so versifft und nicht ganz so drastisch und angesiedelt in dem, was Kenneth Anger so schön "Hollywood Babylon" genannt hat - gerade weil West, ähnlich wie Schenk, sehr zielsicher den Punkt anvisiert, wo einem das Lachen, das man eben noch herausschleudern wollte, im Halse steckenbleibt. Verfilmt wurde sein Roman übrigens dann doch, und zwar 1975 von John Schlesinger mit Donald Sutherland und Karen Black, und auf den Film werde ich alsbald auch einmal ein oder zwei Augen werfen müssen...