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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Verfasst: Di 10. Okt 2023, 14:17
von Maulwurf
jogiwan hat geschrieben: Mi 4. Okt 2023, 08:29 demnächst alle Schimanski-Episoden auf Blaustrahl:
Zahlen sich die aus?
Ah, ganz vergessen dass ich da was schreiben wollte. Schimmi war damals(!) revolutionär, heute ist er möglicherweise etwas gealtert. Gute Krimiware, die das TV-Konzept auch durchaus mal ausweitet. Tolle Schauspieler, wobei man Götz Georges Stil abkönnen muss. Oft sehr geerdet, die van Houwenige-Folgen vor allem, manchmal aber auch sehr in Richtung Arthouse abdriftend. Schwankt zwischen toller Action und sozialem Anspruch, aber mit dem alten Ehepaar Schimmi/Thanner wird das meistens gut zusammengehalten.

Wenn man deutsche TV-Krimis mag gehört Schimmi meines Erachtens mit zum Besten. Aber zum Zustand der Alterung kann ich leider nichts sagen. Die beiden Boxen stehen seit Weihnachten '21 bei mir rum und sind noch nicht einmal angefasst worden :oops: :roll:

Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Verfasst: Do 12. Okt 2023, 17:45
von buxtebrawler
Tatort: Peggy hat Angst

„Wenn Sie wollen, zieh‘ ich auch die Socken aus…“

Kriminalhauptkommissarin Hanne Wiegands (Karin Anselm) dritter Fall innerhalb der öffentlich-rechtlichen „Tatort“-Reihe ist weniger ein klassischer Fernsehkrimi als vielmehr ein Psycho-Thriller mit starken Anleihen beim Genrefilm. Geschrieben wurde er von Norbert Ehry, die Inszenierung übernahm Routinier Wolfgang Becker („Die Vorstadtkrokodile“) – es wurde seine erste Zusammenarbeit mit Wiegand und zugleich leider sein letzter „Tatort“. Die Erstausstrahlung erfolgte am 23. Mai 1983.

„‘ne kleine Nutte hab‘ ich mir geangelt!“

Fotomodell Natasha (Ute Christensen, „Tod eines Schülers“) lernt Taxifahrer Stefan (Hans Georg Panczak, „Tatort: Die Kugel im Leib“) lernen, als sie sich vom ihm zum Mainzer Freibad fahren lässt. Da sie ihren Bikini im Taxi vergessen hat, folgt er ihr ins Freibad, wo sie sich für später verabreden und in seiner Wohnung schließlich gemeinsam im Bett landen. Hals über Kopf verliebt Stefan sich in die attraktive junge Frau, die jedoch eher an One-Night-Stands interessiert ist. Als sie am nächsten Morgen von seiner Gefühlsduselei genervt gehen will, schließt er sie ein und erschlägt sie. Ihre Freundin und Mitbewohnerin Peggy (Hannelore Elsner, „Die Teufelsschlucht der wilden Wölfe“) hört den Mord am Telefon mit, wird von der Polizei aber zunächst nicht ernstgenommen. Doch der Mörder kennt Peggys Identität und beginnt, ihr nachzustellen, sodass auch sie sich in Gefahr wähnt. Daraufhin wird die Polizei aktiv, während Peggy Trost bei einer neuen Bekanntschaft findet: Taxifahrer Stefan…

„Meine Güte! Wenn Sie verknallt sind: Warten Sie einen Monat, bis Sie sich hinlegen?!“

Oben-ohne-Szenen im Schwimmbad, Nacktszenen in Stefans Wohnung: „Peggy hat Angst“ bzw. konkreter: Ute Christensen als Natasha gibt sich sehr freizügig, vermutlich als etwas klischeehafte Methode, um den Kontrast zu Stefan herzustellen, der erst als zeichnender Romantiker alter Schule, dann als weltfremder, Baudelaire zitierender („Hoheitsvoll ging eine Frau an mir vorüber…“), Elektro-Goth hörender und Bongo-spielender, in zwischenmenschlichen Fragen soziopathisch veranlagter Sonderling charakterisiert und sich schlussendlich als entflohener Psychiatriepatient entpuppen wird. Und eben als Mörder – die bittere Pointe eines fulminanten Auftakts. Ein wenig Erotik, ein psychopathologischer Täter und eine in Gefahr schwebende Zeugin, die von der Polizei mit Missachtung gestraft wird und selbst in Gefahr schwebt: Diese Prämisse erinnert an italienische Gialli, wenngleich der Täter dem Publikum hier von vornherein bekannt ist und es somit über einen beträchtlichen Wissensvorsprung gegenüber der Polizei verfügt, die in Person Hanne Wiegands natürlich dennoch ins Spiel kommt.

„So machen Sie’s nur im ,Tatort‘…“

Wiegand bildet einen seriösen, züchtigen und reichlich trockenen Gegenpol zur Welt der Mannequins Natascha und Peggy und sieht sich in Nataschas Zimmer um. Später wird sie wieder empathisch menscheln und Peggy bei sich übernachten lassen. Sie befragt Nataschas ehemaligen Fotografen, der Schwimmbad-Macho (Ulli Kinalzik, „Jürgen Roland’s St. Pauli-Report“), der im Freibad aufdringlich wurde, tritt als Zeuge in Erscheinung, Stefans Vermieterin (Hannelore Schroth, „Unter den Brücken“) meldet sich und ist scharf auf eine Belohnung – klassischer dialoglastiger Ermittlungsarbeit mit Weigands Assistenten Korn (Rolf Jülich) und Wilke (Artus Maria Matthiessen) gilt es beizuwohnen, was mit dem parallel verlaufenden Thriller-Anteil belohnt wird. Stefan drückt im Café, in dem Peggy jobbt, die Elektro-Nummer „Why Can the Bodies Fly“ des Duos Warning, um ihr Angst einzujagen. Durch den wiederholten Einsatz dieses Songs im Soundtrack avancierte er nach der Ausstrahlung zum Hit. Stefan belästigt sie mit aus Baudelaire-Zitaten bestehenden Briefen und schafft es durch eine unglückliche Verkettung gar, von Peggys Chef angestellt zu werden. Schließlich bändelt Stefan mit Peggy an und treibt die Spannung damit weiter in die Höhe.

„Liebe und Wahnsinn – das ist dasselbe!“

Das ist ziemlich gut inszeniert, dramaturgisch ein gelungener Spagat aus „Tatort“-Krimiarbeit und Suspense und inhaltlich ein gewagter Mix, der jedoch ein wenig Federn lässt, als er zunehmend zum Täter-Psychogramm wird und dabei psychologisch recht oberflächlich bleibt. Dafür besitzt das halboffene Ende das Potenzial, länger nachzuwirken und im Kopf der Rezipierenden fortgesetzt zu werden. Und die sich mehr schlecht als recht unter der Romantik des Täters verbergende, tiefsitzende Misogynie ist beängstigend. Da mutet es fast wie eine vertane Chance an, sie rein pathologisch zu begründen – und ein wenig fragwürdig oder arg optimistisch, sie in seinem späteren Verhalten Peggy gegenüber entschieden abzuschwächen (wenngleich dabei bereits Fragen nach Resozialisierung mitschwingen).

Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Verfasst: Do 19. Okt 2023, 15:18
von buxtebrawler
Tatort: Roulette mit 6 Kugeln

„Ich schaff’s nervlich nicht!“

Zwischen der Erstausstrahlung des zweiten Falls, den der Münchner Kriminalhauptkommissar Ludwig Lenz (Helmut Fischer) nach Veigls Pensionierung zu lösen hatte, und seinem dritten, dem „Tatort: Roulette mit 6 Kugeln“, vergingen satte 16 Monate: Dieser von Peter Hemmer geschriebene und von Lutz Büscher inszenierte Fall kam erst am 16. Oktober 1983 ins Fernsehen – und somit nachdem Fischer von einem breiten Publikum mittlerweile vorrangig mit seiner Rolle als Monaco Franze aus der gleichnamigen Serie assoziiert wurde, die im Frühjahr 1983 erstausgestrahlt worden war. Es wurde Büschers nach dem missglückten „Das Mädchen am Klavier“ zweiter und letzter Beitrag zur öffentlich-rechtlichen Krimireihe.

„Gibt es irgendetwas, das du mir verschweigst?“

In einem Vorort Münchens wurde der dreijährige Martin Steinemann entführt. Der Entführer verlangt 100.000 DM Lösegeld von Martins Eltern, das sich Vater Arthur (Manfred Zapatka, „Rivalen der Rennbahn“) von seinem Bruder Felix (Edwin Noël, „Die Buddenbrooks“) leiht. Obwohl der Entführer sich das Einschalten der Polizei strikt verbat, wendet sich Arthur an die Polizei – zum Entsetzen seiner hysterischen Frau Ruth (Ilona Grübel, „Die Schwarzwaldklinik“). Die Polizei plant, den Täter bei der Lösegeldübergabe dingfest machen zu können, doch diese traut Arthur sich nicht zu. Stattdessen übernimmt Sonderfahnder Seibold (Henner Dobrick) diese Aufgabe – und wird dabei prompt vom Täter erschossen. Hauptkommissar Lenz‘ Mordkommission, die ursprünglich nur wegen der Mobilisierung aller verfügbaren Einsatzkräfte hinzugezogen worden war, hat nun einen echten Mordfall aufzuklären. Immerhin ist der kleine Martin unversehrt, er wird schlafend in einem Münchner Wirtshaus gefunden. Warum schoss der Entführer? Irgendetwas scheint an diesem Fall faul zu sein und nicht alle sagen die Wahrheit…

„Mein Kollege ist tot.“

Der Entführer veranstaltet die reinste Schnitzeljagd mit der dem Kindsvater und der Polizei; umso überraschender und härter wirkt der tödliche Schuss. Ruth scheint anschließend überrascht, dass ihr Mann nach Hause zurückkehrt – und dieser wiederum hat möglicherweise etwas geahnt…? Die Dramaturgie arbeitet nun verstärkt mit Unausgesprochenem, was seinen Reiz hat, aber auch etwas Konzentration erfordert. Das dafür nötige nuancierte Schauspiel beherrschen Grübel und Zapatka gut. Die klassische polizeiliche Ermittlungsarbeit fördert anschließend zutage, dass es zwischen Arthur und Felix schon länger Streit ums Haus gibt. Lenz hängt sich an Felix‘ Fersen, findet heraus, dass ein „interessanter“ Vertrag übers Lösegeld abgeschlossen wurde, und stellt psychologische Überlegungen an.

„Man muss nur wissen, was man finden will – dann tut man sich leichter beim Suchen, hm?“

Wer dieser Entwicklung halbwegs aufmerksam folgt, riecht den Braten recht bald; ab einem gewissen Punkt geht es im Prinzip nur noch darum, wie die Polizei den oder die Täter überführt. Nachdem Uschi Koch (Gisela Freudenberg, „Berlin Chamissoplatz“), Ruths attraktive Freundin, unbewusst die letzten Puzzleteile offenbart, spielt dieser „Tatort“ seinem Publikum gegenüber auch konsequent mit offenen Karten. So etwas muss gut gemacht sein, darf nicht langweilen, wenn, wie hier, erst ungefähr die Hälfte der Laufzeit vorbei ist. Hierfür setzt das Drehbuch von nun an verstärkt auf Szenen einer Ehe und man lässt die Zuschauerinnen und Zuschauer an Arthurs zunehmendem Erkenntnisgewinn teilhaben.

„Das ist so ungeschickt, dass es schon fast wieder schlau ist…“

Und man hat noch ein Ass im Ärmel, das schließlich genüsslich ausgespielt wird: Dass sich Felix und Ruth Lenz gegenüber widersprechen, kommt einer interessanten Wendung gleich, durch die es noch einmal richtig spannend wird. Ruth erweist sich als beinahe klassische, Film-noir-inspirierte Femme fatale innerhalb eines Falls, dessen mörderischer Plan das falsche Opfer forderte und den Tätern aus einer gehobenen gesellschaftlichen Schicht damit letztlich auf die Füße fällt. Das ist alles ansprechend inszeniert und passabel erzählt, zudem sehr stimmig orchestral untermalt. Und wenn es doch mal etwas zu bieder zu werden droht, zaubert man eine interessante Nebenfigur aus dem Hut oder lässt „der ewige Stenz“ Helmut Fischer seinen subtilen Charme spielen. Seltsam nur: Den kleinen Martin sieht man einmal schlafend und dann nie wieder. Wurde das Kind etwa erneut entführt und keiner hat’s bemerkt, weil alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren…?

Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Verfasst: Mo 23. Okt 2023, 13:24
von karlAbundzu
Tatort Wiesbaden: Murot und das Paradies
Murot geht zur Analyse, Thema Nicht glücklich sein.
Zwei Tote werden gefunden mit umoperiertem Nabel und ungewöhnlichen Zuständen.
Murot ermittelt in einer Banker Underground Szene und gerät in die selben Fänge wie die Mordopfer.
Da ist viel schönes drin, Murots Vorstellungen vom absoluten Glück z.B., die ein gelungenes Attentat auf Hitler beinhalten, und der kühle Kellerraum mit Szenen, die sich oberflächlich an Der Höllentrip und eXistenZ anlehnen.
In den Nebenrollen durchweg gut besetzt, mit Mattes und Wuttke sogar geballte Tatort Erfahrung.
Aber leider krankt es an allen Ecken und Enden. Eine Underground Disko, die angeblich einmal im Monat an einem anderen Ort aufmacht, dann aber mindestens wöchentlich und immer am gleichen Ort ist. Der Kommissar ist mal ein zwei Wochen weg, und dann melden wir ihn krank, tun ansonsten aber nichts, obwohl wir wissen, wo er hin wollte? Und noch mehr....
Auch die angeblich so huiuiui Disco hätte so auch niemanden mehr beeindruckt.
Schade, hätte man den Film ernst genommen, in den Sci Fi Szenen noch abgefahrener vorgegangen, dann wäre das vielleicht was geworden.

Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Verfasst: Di 24. Okt 2023, 14:54
von buxtebrawler
Tatort: Der Schläfer

„Hauptsache es kracht!“

Nachdem MAD-Oberstleutnant Delius (Horst Bollmann) mit dem „Tatort: Freund Gregor“ im Jahre 1979 seinen eigenen Zweig innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe erhalten hatte, durfte er für seinen zweiten Fall „Der Schläfer“ erneut mit Krimi-Regisseur Jürgen Roland („Stahlnetz“, „Zinksärge für die Goldjungen“) zusammenarbeiten. Der von Jochen Wedegärtner geschriebene „Tatort“ wurde am 6. November 1983 erstausgestrahlt und vom Militärischen Abschirmdienst und der Bundesmarine gefördert.

„Dieses Projekt ist gestorben!“

Der bundesdeutsche Erfinder Dr. Spitzner (Klaus Löwitsch, „Mädchen mit Gewalt“) hat für die NATO eine „intelligente“ Mine entwickelt, die durch einen Sonarimpuls ferngelenkt deaktiviert werden kann, um effektiver Friendly Fire zu vermeiden. In Hamburg soll sie der NATO und dem Auftraggeber, Ministerialrat Hohleben (Gunnar Möller, „Hunde, wollt ihr ewig leben“) vom Verteidigungsministerium, vorgestellt werden. Doch auch die Gegenseite ist erpicht auf die neue Technologie: DDR-Agent Heinz Schäfer (Günther Ungeheuer, „Polizeirevier Davidswache“) soll die Konstruktionspläne beschaffen. Hierfür versucht er, einen vor 30 Jahren eingeschleusten „Schläfer“, Hohlebens Referenten Kutschner (Klaus Höhne, „Is’ was, Kanzler?“), zu aktivieren. Doch dieser will nicht und versucht, sich Schäfer und dem DDR-Geheimdienst zu entziehen. Ausgerechnet beim letzten Test detoniert die Mine außerplanmäßig. Was ist die Ursache, wer ist dafür verantwortlich? Delius nimmt die Ermittlungen auf – und muss sich vor Schäfer in Acht nehmen…

„Na, wie seh‘ ich aus?“ – „Zum Kotzen!“

Neben St. Pauli und der Reeperbahn schien Filmemacher Jürgen Roland das Thema Spionage im Kalten Krieg zu interessieren und zu faszinieren, handelt es sich doch bereits um seinen dritten „Tatort“, der dieses Sujet aufgreift. Nach einem die Handlung anstoßenden Prolog auf See mit ungewöhnlich fetziger Musik darf man erst einmal schmunzeln, denn MAD-Oberleutnant Tümmler (Pierre Franckh) liest in seinem Büro die Satire-Zeitschrift „Mad“ und hört Nenas Antikriegslied „99 Luftballons“. Gestaltet sich die anschließende Minenpräsentation noch recht interessant, geht es im weiteren Verlauf mit einer etwas zu hohen Figurenanzahl eher kompliziert erzählt und sehr dialoglastig zu. Die Handlung gewinnt wieder an Spannung, je aktiver Schäfer wird und in das Projekt Involvierte zu manipulieren versucht.

„Ich mag keine Krimis!“

Dabei wird er jedoch arg eindimensional als fiese Möpp gezeichnet (von Ungeheuer indes entsprechend gut gespielt), der relativ plump vorgeht und – natürlich – in der ach so überlegenen BRD mit ihren integren Beamten viele Rückschläge einstecken muss. Ob Bestechungsversuche mit Briefmarken oder amouröse Versuchungen mit einer kaltschnäuzigen Agentin – erst der Zufall muss ins Spiel kommen, damit Kutschner gefügig wird und der Fall wirklich an Fahrt aufnimmt. Hier überzeugt er, wenn er Kutschners innerer Zerrissenheit Ausdruck verleiht, vor allem aber mit einem aufregenden Finale im Hamburger Hauptbahnhof. Über die gesamte Laufzeit kommt „Der Schläfer“ ohne Mord und Totschlag aus, was er jedoch erst gegen Ende dramaturgisch wirklich zu kompensieren versteht. Einen richtigen Zugang habe ich im Post-Kalter-Krieg-Jahre 2023 nicht gefunden, was auch damit zusammenhängen dürfte, dass es mir reichlich egal ist, ob der „Ostblock“ über dieselbe Militärtechnologie wie die NATO verfügt oder nicht. Wahrscheinlich war es damals sogar besser, dass er es tat. Insofern erweckt dieser „Tatort“ den Anschein von viel Lärm um nichts.

„Frauen pflegen bei ihren Liebhabern immer etwas liegenzulassen.“

Bemerkenswert ist, dass mit Klaus Höhne der erste „Tatort“-Kommissar des HR hier in die Rolle des bedauernswerten Kutschner schlüpfte – und dass man im Jahre 1983 bei einer Kollaboration mit MAD und Marine offenbar davor zurückschreckte, sie über alle Maßen propagandistisch auszuschlachten. Halb als Zeitdokument und halb als Unterhaltungsfilm betrachtet, lässt sich „Der Schläfer“ damit heutzutage schon noch passabel gucken, ohne zwangsläufig selbst zu einem zu werden – sofern man manch zähen Mittelteil übersteht.

Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Verfasst: Fr 27. Okt 2023, 14:50
von buxtebrawler
Tatort: Murot und das Paradies

„Was würde Sie glücklich machen?“

Auch Fall Nummer 12 des Wiesbadener LKA-Kriminalhauptkommissars Felix Murot (Ulrich Tukur) bedeutet ein Regiedebüt für einen der öffentlich-rechtlichen Krimireihe bisher fremden Regisseur: Florian Gallenberger („Es ist nur eine Phase, Hase“) inszenierte den am 27. August 2023 auf dem Ludwigshafener Festival des deutschen Films erstaufgeführten Mix aus Kriminalfilm und philosophischem Science-Fiction-Drama und verfasste auch das Drehbuch. Die TV-Erstausstrahlung folgte am 22. Oktober 2023. Mit seinem Vorgänger gemeint hat „Murot und das Paradies“ neben der Festivalpremiere auch die Nominierung für den Ludwigshafener Publikumspreis Rheingold.

„Wer nicht liefert, kriegt auch keinen Termin.“

Hauptkommissar Murot befindet sich gerade in therapeutischer Behandlung wegen einer Depression, als nacheinander zwei Investment-Banker tot aufgefunden werden. Beiden ist gemein, dass ihnen der Bauchnabel entfernt und durch eine Schnittstelle ersetzt wurde, über die eine künstliche Ernährung möglich wäre. Die Spur führt zu zwei Frauen aus der Partyszene, Eva Lisinska (Brigitte Hobmeier, „Identity Kills“) und Ruby Kortus (Iona Bugarin, „Ruxx“), die gezielt Bänker für ihr Programm werben, das ihnen mittels einer besonderen Technologie ultimative Glückserlebnisse verspricht: Während sie in Badewannen liegen und durch eine künstliche Nabelschnur am Leben erhalten werden, beschert ihnen eine Art EEG den direkten Zugang zum Unterbewusstsein und lässt sie ihre größten und intimsten Wünsche durchleben. Das macht, Heroin und Konsorten nicht unähnlich, schnell süchtig. Als Gegenleistung müssen sie Schrottaktien pushen, auf die die Frauen setzen. Die Einnahmen spenden sie guten Zwecken und entledigen sich nach getaner Arbeit der Bänker…

„Wie soll man bitte glücklich sein in einer Welt, die sich vor allem durch ihre Beschissenheit auszeichnet?“

Das Glück bzw. die Suche danach zieht sich als roter Faden durch diesen Fall und wirft philosophische Fragen auf, die existenzialistisch verhandelt werden – wenn nicht gerade „Herr Rossi sucht das Glück“ zitiert wird. Die eigentliche Handlung wird immer wieder von Murots Sitzungen bei seinem Psychoanalytiker unterbrochen, bei dem er seinen Weltschmerz ablädt. Dennoch kommt der Humor nicht zu kurz, denn zumindest Teile des Falls erlauben sich Anleihen bei der Groteske. Eva Mattes‘ („Lena Lorenz“) Auftritt als Pathologin gerät gar zu einer Parodie auf TV-Pathologen. Die Figur Ruby Kortus hingegen wurde etwas übertrieben auf sexy und verführerisch getrimmt, ihr Gogo-Tanz in einer Diskothek gar zu etwas Besonderem stilisiert, wo nun gar nicht so furchtbar viel Besonderes zu sehen ist.

„Das Paradies ist kein Ort, es ist ein Zustand.“

In Kombination mit ein paar Vulvawitzchen wirken diese Momente ein wenig ältlich und weltfremd. Glücklicherweise sind sie lediglich den eigentlichen Höhepunkten dieses „Tatorts“ vorgeschaltet, denn erwartungsgemäß gerät auch Murot in die Fänge der beiden Glücksfeen. Damit einher gehen Audiovisualisierungen seiner seinem Unterbewusstsein entnommenen Träume, die ihn in einer „2001: Odyssee im Weltraum“-Reminiszenz in All schicken (inklusive Strauß’schem Walzer) sowie mit Gott telefonieren und Hitler erschießen lassen. In der realen Welt sorgen diverse Überwachungskameraperspektiven für visuelle Abwechslung und geht die Glückssuche mit einiger Kapitalismuskritik einher. Murot wird zum Komplizen und muss gegen seinen Willen gerettet werden. Oder was genau ist eigentlich sein Wille?

Darüber lässt sich auch über den netten fernöstlichen Epilog hinaus sinnieren, oder aber man lässt „Murot und das Paradies“ einfach als – doch ziemlich unterhaltsames – Statement zum Zustand der Welt bzw. westlicher Zivilisationen stehen. Auch das ist schließlich eine Form von Glück.

Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Verfasst: Fr 27. Okt 2023, 15:25
von Maulwurf
buxtebrawler hat geschrieben: Fr 27. Okt 2023, 14:50 Das Glück bzw. die Suche danach zieht sich als roter Faden durch diesen Fall und wirft philosophische Fragen auf, die existenzialistisch verhandelt werden – wenn nicht gerade „Herr Rossi sucht das Glück“ zitiert wird.
Das klingt spaßig und interessant. Wie hat sich das mit dem Herrn Rossi geäußert? Ist da ein Assistent namens Gastone herumgelaufen?

Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Verfasst: Fr 27. Okt 2023, 15:54
von buxtebrawler
Maulwurf hat geschrieben: Fr 27. Okt 2023, 15:25 Das klingt spaßig und interessant. Wie hat sich das mit dem Herrn Rossi geäußert? Ist da ein Assistent namens Gastone herumgelaufen?
Murot sagt „Wir alle sind Herr Rossi auf der Suche nach dem Glück. Am Ende bleiben nichts als geplatzte Träume und Mundgeruch“ und singt anschließend das Titellied.

Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Verfasst: Fr 27. Okt 2023, 17:28
von Maulwurf
buxtebrawler hat geschrieben: Fr 27. Okt 2023, 15:54
Maulwurf hat geschrieben: Fr 27. Okt 2023, 15:25 Das klingt spaßig und interessant. Wie hat sich das mit dem Herrn Rossi geäußert? Ist da ein Assistent namens Gastone herumgelaufen?
Murot sagt „Wir alle sind Herr Rossi auf der Suche nach dem Glück. Am Ende bleiben nichts als geplatzte Träume und Mundgeruch“ und singt anschließend das Titellied.
:D :thup:

Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Verfasst: Mi 1. Nov 2023, 15:39
von buxtebrawler
Die "Polizeiruf 110 Box 18" ist mutmaßlich bereits am 29.09.2023 bei Studio Hamburg als 4-DVD-Box erschienen:

Bild

Episoden:
Ball der einsamen Herzen (1990, ca. 81 Min.)
Tod durch elektrischen Strom (1990, ca. 69 Min.)
Unter Brüdern (1990, ca. 95 Min.)
Das Duell (1990, ca. 78 Min.)
Allianz für Knete (1990, ca. 82 Min.)
Zerstörte Hoffnung (1991, ca. 90 Min.)
Der Fall Preibisch (1991, ca. 79 Min.)
Big Band Time (1991, ca. 76 Min.)

Quelle: https://www.ofdb.de/vorabfassung/36723, ... en-Herzen/